Das Online-Magazin zur Zeitschrift | HALBJAHRESMAGAZIN polar






 
Peter Siller
Der Streit um das Allgemeine
Parteien als entscheidende Institution in der demokratischen Auseinandersetzung um die allgemeine Gesetzgebung
 
Rahel Jaeggi
Experimenteller Pluralismus
Lebensformen als Experimente der Problemlösung
 
Peter Siller
Macht es nicht selbst!
Macht es nicht selbst! Vom Rückzug des Politischen ins Private geschlossener Lebensformen
 
Alexandra Deak/Arnd Pollmann
Marinieren, Tranchieren, Ignorieren
Der exorzistische Kult ums Essen
 
Peter Siller
Politik der Drastik
30 Versuche über die Sichtbarmachung des Furchtbaren
 
Martin Saar
Zu viel
Drastik und Affekt
 
Sighard Neckel
Zukunft der Vergangenheit
Zur Refeudalisierung der modernen Gesellschaft
 
Peter Siller
Was heißt Inklusion?
Zur Orientierungskraft eines klärungsbedürftigen Begriffs
 
Owen Jones
Alle lachten
Von der neuen Stigmatisierung der Arbeiterklasse
 
Nicklas Baschek
Fleshback
Steven Soderberghs Heldinnen und der Feminismus nach der Versöhnung
 
Diedrich Diederichsen
Der Imperativ des Authentischen
»Erfinde Dich halt- und bodenlos neu und verkörpere das so, als wäre das immer schon Deine Natur gewesen!«
 
Ludger Schwarte
Die Stadt, eine Volksversammlung
Architektonische Bedingungen freien Handelns
 
Francisco J. Varela †
Intime Distanzen
Fragmente einer Phänomenologie der Organtransplantation
 
Peter Siller
Der letzte Film
Gibt es ein Leben vor dem Tod? Herk Harveys Carnival of Souls
 
Steven Lukes
Das Ende des Fortschritts?
Vom Sinn der Fortschrittsidee
 
Petra Hauffe/Judith Karcher
Stillstand ist der Tod
Worauf beruht das Postulat des steten Wachstums?
 
Kai Dröge/Sighard Neckel
Leistungsbilanzen
Ein Deutungsmuster verflüchtigt sich – und bleibt umkämpft
 
Ralph Obermauer
Minderleister der Legitimation
Die rätselhafte Kraft der Leistungsrede
 
Peter Siller
Ohne Input kein Output
Eine Inspektion unserer Demokratie
 
Christoph Möllers
Vom Leiden an der Demokratie
Einige Irrtümer im Umgang mit demokratischen Ordnungen
 
Claus Leggewie, Harald Welzer
Anpassung an das Unvermeidliche?
Klimawandel als kulturelles Problem
 
Jürgen Trittin
Ökologischer Materialismus
Wie die Natur politisch wird
 
Georg W. Bertram
Was uns aneinander bindet
Das komplexe Netz freundschaftlicher Beziehungen
 
Axel Honneth
Arbeit und Anerkennung
Versuch einer Neubestimmung
 
Steffen Sigmund
Am Kap der guten Hoffnung
Das religiöse Feld als Bühne gesellschaftlicher Konflikte
 
Luc Boltanski
Leben als Projekt
Prekarität in der schönen neuen Netzwerkwelt
 
 

Peter Siller/Arnd Pollmann

Anstiftung zum Uncoolsein

Warum Politisierung Not tut



Warum sind eigentlich alle so müde? Warum glaubt keiner mehr an die Gestaltungsmacht von Politik? Weil wir nicht daran glauben wollen? Weil dieser Glaube uns zu verantwortlicher Praxis zwingen würde? Wer nur die Augen verschließt, verweigert die Parteinahme, auf die andere existenziell angewiesen sind.


Zerfaserte Staatlichkeit: Institution Matters

Im globalen Kapitalismus zerfasert die nationalstaatlich organisierte Demokratie. Entscheidungskompetenzen und Verantwortlichkeiten werden auf supranationale Ebenen mit schwacher demokratischer Legitimierung verlagert, oder sie verschwinden im transnationalen Nirgendwo. An wen soll man sich noch wenden, wenn man Vorschläge hat? An wen die eigene Unzufriedenheit, die eigenen Forderungen adressieren? Diese Klage ist nicht neu, doch fast immer werden daraus die falschen, entmutigenden Schlüsse gezogen. Denn das Problem ist weder die globalisierungsbedingte Schwächung staatlicher Institutionen als solche noch die vermeintliche Mittelmäßigkeit unserer politischen Akteure, sondern der grassierende Irrglauben, dass die Krise der demokratischen Institutionen bereits auf deren prinzipielle Einflusslosigkeit schließen lässt. Die Erosion der bestehenden politischen Institutionen verweist aber keineswegs per se auf deren Bedeutungsverlust, sondern allein auf ihre momentane Rückständigkeit. Politisierung heißt: Die demokratische Gestaltungsmacht der Institutionen kann und muss zurückerobert werden. Alte Institutionen müssen transfomiert, neue imaginiert werden. Institution matters!

Eine erste Bedingung ist die Belebung des Parlamentarismus. Was sich hierzulande in der letzten Legislaturperiode in der »Kommissionitis« des Kanzlers Schröder andeutete, wird von der großen Koalition nur noch verstärkt: Die parlamentarische Streitkultur ist auf beunruhigende Weise befriedet. Allerdings kann sich der allgemeine Politikverdruss inzwischen kaum mehr daraufberufen, dass die Parlamentarier dem Volk entfremdet wären. Eher gleichen sie in ihrer Einflusslosigkeit dem stummen Volk inzwischen bis aufs Haar. Wir haben nur das Parlament, das wir verdienen. Wer gar meint, ein »Ende des Parlamentarismus« heraufziehen zu sehen, schreibt an der Chronik eines angekündigten politischen Freitodes mit und überlässt die politische Arena der normativen Kraft waltender Sachzwänge.

Das Plädoyer für institutionelle Fantasie trotzt allerdings nicht nur Wunschträumen neoliberaler Deregulierung, sondern auch all den feschen Visionen von einer Ersetzung der kränkelnden Institutionen durch zivilgesellschaftliche Selbstregulation. Es gibt keine Demokratie ohne demokratische Institutionen. Denn wer soll sich um faire Verfahren, um die Umsetzung demokratisch gefasster Entscheidungen kümmern? Wer demokratische Institutionen unter Generalverdacht stellt, hat die Demokratie selbst im Visier. In Hardts und Negris viel beachtetem Buch »Empire« wurde dieses Weltverschwörungstheaterjüngst noch einmal unter intellektuellem Applaus aufgeführt. Doch der sich global ausweitende Kampf um Demokratie wird nicht im Dorf gewonnen werden. Die Verteidigung der Demokratie gegen die Wucht ökonomischer Entgrenzung wird ohne eine reale supranationale Interessen-Aggregation unmöglich bleiben. Wo zum Beispiel war und ist die politische Öffentlichkeit im vermutlich scheiternden europäischen Verfassungsgebungsprozess? Hier, im Zuge der kreativen Gestaltung transnationaler Institutionen, bieten sich Chancen auf eine Wiederaneignung demokratischer Gestaltungsmacht. Ähnliches gilt für die Ignoranz gegenüber den Vereinten Nationen, dem zweifellos ambitioniertesten Projekt demokratischer Machtaneignung, globaler Chancenverteilung sowie der weltweiten Durchsetzung der Menschenrechte.

Politisierung heißt, die gesellschaftlichen Voraussetzungen für eine demokratische Transformation nationaler sowie internationaler Institutionen zuschaffen, die dem ökonomischen Druck Stand halten, für vielfältige Interessen und Standpunkte durchlässig sind und kollektive Einflussnahme ermöglichen. Allerdings dürfte der Kampf um solche Institutionen solange Fiktion bleiben, bis es zu einer gründlichen Wiederbelebung des ursprünglich revolutionärenGeistes der Demokratie kommt. Großdemo im Berliner Tiergarten für europäische Mindeststeuern und -löhne. Menschenkette Stuttgart-Straßburg für eine gerechte Repräsentation der Regionen im Weltsicherheitsrat. Sitzblockaden zugunsten eines Internationalen Gerichtshofs für Menschenrechte. Dass einem das alles weit weg und irgendwie langweilig vorkommt, ist vor allem auf als Coolness getarnte Indifferenz zurückzuführen, kaum aber auf den Stoff - denn der hat es in sich.

Zersplitterte Medien: Anti-hegemoniale Öffentlichkeiten

Die Zerfaserung der demokratischen Institutionen wird begleitet von einerwachsenden Zersplitterung der Medienlandschaft. Sicher: Es gab noch nie»die« eine politisch-mediale Öffentlichkeit. Auch früher lasen die einen die Bild-Zeitung und andere die FAZ, sahen die einen Panorama und andere das ZDF-Magazin. Und doch ist unübersehbar, dass die Zeit der großen Samstagabend-Show vorbei ist. Das private und umso mehr das digitale Fernsehen auf Abruf machen Schluss mit einer gewissen politisch-medialen Gleichzeitigkeit. Nicht dass im Fernsehen keine politische Auseinandersetzung mehr stattfände, aber nirgendwo kommt zusammen, was nicht ohnehin zusammenhockt: ARD-Akteure für ARD-Menschen, Arte-Akteure für Arte-Menschen, RTL II-Akteure für RTL II-Menschen.

Momentan gleicht die medial vermittelte Politik einer hypersexualisierten Kultur, in der, bei genauerem Hinsehen, kaum wirklich etwas läuft. Die mediale Verbalerotik findet ihr Pendant in einer Verbalpolitik, die den rasenden Stillstand bloß verstärkt. Die mediale Inszenierung von Politik verdrängt das Unbehagen über die Einrichtung dieser Welt, das zu bearbeiten man der institutionellen Politik längst schon nicht mehr zutraut. Doch wird sich der politische Diskurs von dieser neurotischen Weltflucht zunächst selbst befreien müssen, wenn er der korrespondierenden Weltflucht eingelullter Fernsehzuschauer etwas entgegensetzen will. Die grundlegenden Bedürfnisse und Leidender Menschen müssen in die politische Öffentlichkeit hineingetragen werden. Politisierung ist Passion.

Auffällig ist zudem ein Wandel des professionellen Selbstverständnisses in Teilen des politischen Journalismus. Anstatt öffentliche Auseinander-Setzungen auf Grundlage gründlicher Recherche zu initiieren und kritisch zu flankieren, sind Journalisten immer häufiger selbst die Talk-Gäste. Die Steingarts und Jörges der Zeitungsnation fallen mit missionarischem Eifer über TV-Talkshow-Moderatoren her, als seien sie selbst die orginären Akteure der politischen Auseinander-Setzung und nicht etwa Kollegen, das heißt unabhängige Interpreten. Auch eine junge Generation zumeist neokonservativer Journalisten hält sich nicht lange beim professionellen Kerngeschäft auf, sondern verwischt die Unterscheidung von Berichterstattung und eigener Policy. Es wäre jedoch zuviel der zeitdiagnostischen Ehre, wollte man blasswangigen Jung-Konservativen wie Kracht, Illies oder Poschardt eine kulturelle Vormachtstellung bescheinigen. Selbst mit Blick auf wohlgenährte Meinungsmacher wie Döpfner, Dieckman oder Aust ist mehr als fraglich, ob man das leichte, ungehinderte Spiel, das diese derzeit haben, mit einer politisch-kulturellen Oberbefehlsgewalt verwechseln sollte. Ohnehin sollte man sich vor der Ansichthüten, es gehe um die Rückgewinnung einer wie auch immer gearteten »Hegemonie«. Der Ruf nach Politisierung darf auf den neoliberalen oder neokonservativen Mainstream nicht mit der Forderung nach einem anderen Mainstream, einer anderen kulturellen Hegemonie antworten. Politisierung zielt auf die Gewinnung von Mehrheiten, aber sie wehrt sich gegen kulturelle Einhegung und eröffnet Räume für politischen Zwist.

Zerklüftete Pop-Universen: Raus ins Offene

Wer Politisierung als Neuerschließung öffentlicher Räume proklamiert, dem hallt es aus gut abgeschirmten Clubs und plüschigen Kaminzimmern zurück: Wieso eigentlich? Mille Plateaux! Zersplitterung ist nicht das Problem, sondern die Lösung: Wir wollen unsere Musik, unsere Theater und unsere Sprache. Ohne Kompromisse. Ohne den Zwang, uns auch solchen Typen verständlich machen zu müssen, mit denen wir erst gar nicht auf der Tanzfläche gesichtet werden wollen. Meine Plattensammlung, deine Plattensammlung!

Zweifellos braucht Politik intellektuelle und künstlerische Rückzugsgebiete, subkulturelle Laboratorien, Nerds aller Art, die Neues ausspinnen und erproben. Deren Experimente müssen aber in öffentliche Auseinander-Setzungen münden. Diese Streitigkeiten können nicht einfach bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag aufgeschoben oder gleich ganz abgeblasen werden. Es ist ein Kardinalfehler der Generation Pop, die vermeintliche Autonomie des Ästhetischenungebrochen in eine politische Haltung übersetzen zu wollen. Entweder wird kurzerhand alles im Leben als politisch deklariert, oder man verabschiedet sich vollständig von dem Anspruch, politisch zu sein. So statthaft es inzwischen ist- trotz alteuropäischen Hochmuts und kulturindustrieller Banalisierung -, in aller Öffentlichkeit ernsthaft über Pop zu diskutieren: Vielleicht sollten wir uns auch wieder einmal ernsthaft über Politik unterhalten, statt diese unentwegt mit Geschmacksstatements, Coolness-Indikatoren oder En-Passant-Radikalismen zu überziehen. Das Problem der heutigen Kunst ist nicht die Nische, sondern das Sich-darin-gemütlich-Machen ohne Movens ins Offene.

Gerechtigkeit als Leidenschaft

Es gibt Zeiten, da wird in Arbeitspausen, beim Abendessen oder in der Kneipe über Politik diskutiert und gestritten, bis der Putz von den Wänden kommt. Es gibt Zeiten, da ziehen sich Schüler und Studenten mit Bergen von Literatur in ihre Bude zurück, um für den nächsten Schlagabtausch im Politik-Unterricht,im Seminar oder bei der Vollversammlung gerüstet zu sein. Zermürbende Diskussionen. Rote Köpfe. Schäumende Münder. Das klingt nicht nur anstrengend, sondern auch verdammt uncool. Was aber ist die Alternative? Repräsentanten, die nichts repräsentieren? Demokratieverzicht durch Deregulierung?

Allerdings wird der Ruf nach Politisierung über die Forderung nach neuen Konstruktionen politischer Öffentlichkeiten hinausgehen müssen. Politisierung ist kein Selbstzweck. Sie zielt auf die Stärkung von Gerechtigkeit und Selbstbestimmung. Aufgabe von Politik muss es sein, für gleiche reale Verwirklichungschancen zu streiten. Das privatisierte Unbehagen angesichts von Ungerechtigkeit und Demokratieverlust sowie der Wille zu deren Überwindung gehören in die öffentliche Arena. Mit offenen Augen für die Situation und die Perspektive der Anderen und im Bemühen um praktische Lösungen muss gestritten werden. Nicht dass in den letzten Jahren nicht über Wertediskutiert worden wäre. Doch Wertediskurse dürfen keine Ausrede dafür sein, von einer wertorientierten Einmischung in konkrete politische Angelegenheiten abzusehen, damit das klammheimliche Unpolitischsein ungestört genossen werden kann.

Politische Auseinander-Setzung tut Not, denn die sozialen Gefährdungen unserer Zeit werden nicht weniger, nur weil sie nicht angegangen werden. Soziale Exklusion, Bildungsarmut und Massenarbeitslosigkeit sind Phänomene einer tiefgreifenden Krise des sozialen Zusammenlebens. Ganze Landstriche und Regionen, ob hierzulande oder in der Welt, sind ohne jede ökonomische und soziale Perspektive. Klimawandel und Ressourcenverbrauch führen zu globalen Problemen, die nicht im Ansatz gelöst sind. Was wir brauchen, das ist eine permanente öffentliche Auseinander-Setzung, aus der allein eine gerechte Gesellschafts- und Weltordnung hervorgehen kann - als schöpferische, demokratische Gemeinschaftsleistung. Das mag illusorisch und anstrengend klingen, doch es gibt keine vernünftige politische Alternative. Solange wir das wissen und dennoch auf öffentliche Intervention verzichten, sind wir Teil jenes Problems, dem wir unentwegt schlafwandlerisch ausweichen. Sich das einzugestehen, ist allein schon verflucht uncool. Auseinander-Setzung erst recht.



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Peter Siller
Infrastructures matter!
Für einen neuen Anlauf in der Gerechtigkeitsdebatte


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