»Europa ist wie ein aus vielen Schnüren gedrehtes Seil – es hält nur, wenn alle – die EU-Organe, die nationalen Regierungen und die nationalen Parlamente – am selben Strang und in die gleiche Richtung ziehen.« Als Jean-Claude Juncker am 14.09.2016 in seiner Rede zur Lage der Union die Mitgliedstaaten und die europäischen Institutionen zur Zusammenarbeit und Geschlossenheit aufrief, herrschten unter Pro-Europäer/innen Aufruhr und Ratlosigkeit. Wenige Monate zuvor hatten die Briten in einem Referendum für den Brexit gestimmt, der Streit zwischen Griechenland und den Europartnern um die Auszahlung weiterer Hilfsgelder schwelte weiter und rechtsextreme Parteien hatten überall in Europa stetigen Zulauf. Die Lage der EU schien – weil reformunfähig – verfahren und nicht wenige sahen sie Ende. Bis zum Frühjahr 2017. Die drohenden Wahlsiege von Rechtspopulisten in Österreich, den Niederlanden und Frankreich trieben plötzlich tausende Menschen zum Pulse of Europe auf die Straße, um für die Zukunft Europas zu demonstrieren.
Stellt die politische Krise den Anfang einer neuen europäischen Identität dar?
Die Frage einer europäischen Identität ist nicht neu. Mit dem schrittweisen Wandel der Europäischen Gemeinschaft von der EWG zur EG und schließlich zur heutigen EU rückte auch die Frage des Zugehörigkeitsgefühls zur europäischen Gemeinschaft zunehmend ins Blickfeld. Auf der Suche nach dem Wesenskern Europas fragten Wissenschaft und Politik, wie und wodurch ein entsprechendes Gefühl entstehe, worauf es im Fall der EU konkret Bezug nimmt und was die Europäer/innen in all ihrer Verschiedenheit als Europäer/innen eint. Wie selbstverständlich wurde die (im Entstehen befindliche) europäische Identität dabei als eine Form kollektiver Identität behandelt, was einerseits bedeutete, dass eine klare »Grenze zwischen dem Innenraum der Gemeinschaft und der Außenseite« (Giesen) gezogen werden musste und andererseits, dass das Europäer/in-Sein ins Verhältnis zu anderen kollektiven Identitäten – allen voran der Zugehörigkeit zum Nationalstaat – gesetzt wurde. Über die Bestimmung von Gemeinsamkeiten und Unterschieden zu nationalen, ethnischen, regionalen, religiösen und kulturellen Identitäten sollten die Spezfika des sozialen Bandes, das Europa durchzieht und verbindet, ermittelt werden.
Dass der Fokus von jeher einseitig auf den kollektiven Quellen von Identität(en) lag und individuelle Alternativen nicht in Erwägung gezogen wurden, dürfte wohl auch dem Umstand geschuldet sein, dass die Frage nach dem Kern der euro- päischen Identität untrennbar mit der (noch immer nicht abschließend entschiedenen) Frage nach dem politischen Wesenskern Europas verknüpft wurde. Allerdings hat diese Einseitigkeit, wonach Identitäten ihre Baumaterialien aus kollektiven Kontexten wie z. B. Geschichte, Geografie, Biologie, dem kollektiven Gedächtnis von Gemeinschaften und religiösen Offenbarungen ziehen, die potentielle Relevanz der individuellen Identitätsstiftung außer Acht gelassen. Die Tatsache, dass die Konstruktion von Sinn – oder wie Anthony Giddens es formuliert: die auf kollektive Vereinheitlichung und Zugehörigkeit zu einer Gruppe abzielende »Strukturierung von Ich-Identität« – im Falle der europäischen Identität ausschließlich außerhalb des Einzelnen erfolgt und von ihm oder ihr nur adaptiert wird, blendet die Möglichkeiten der individuellen Selbstkonstruktion »als Selbstdeutung und Selbstbestimmung« (Giesen 2016: 390) und damit eine zentrale Quelle für individuelle Handlungsentscheidungen aus. […]