Auf dem Planeten Venus findet in einigen hundert Jahren ein gewaltiges soziales Experiment statt. Eine ganze Gesellschaft sucht eine Form der Zusammenarbeit, in der Menschen, Roboter und künstliche Netzintelligenzen gleichberechtigt miteinander leben können. Das neue Regime verspricht, Ausbeutung und Abhängigkeit abzuschaffen, aber es muss sich gegen äußere und innere Feinde behaupten. Die Politikerin und Programmiererin Leona Christensen errichtet deshalb eine Diktatur. Dietmar Daths Roman ›Venus siegt‹ erzählt diese Geschichte aus der Perspektive eines Elitenkindes: Nikolas Helander ist der Sohn des ersten Gehilfen der Diktatorin. Sein Leben, seine Liebe und sein Weg zwischen Loyalität, Opposition und Krieg sind Teil einer großen Erzählung von Befreiung und Terror, Zwang und Emanzipation unter den Bedingungen höchstentwickelter Technik.
Wäre alles anders gekommen, wenn meine Mutter Mona Helander den Bürgerkrieg überlebt hätte? Ich schäme mich, dass ich kaum noch weiß, wer sie war.
Ich erinnere mich genauer an das, was sie gesagt und getan hat, als daran, wie sie roch oder wie sie aussah.
Wir wohnten in einem schlichten Haus mit zwei Teichen. Das bescheidene Anwesen stand am Südrand des Kraters Cleopatra, im langen Schatten von Maxwell Montes. Ich erinnere mich an die glasierten Schindeln, an Wege aus Schieferplatten, ans Granitpflaster, an roten Splitt für geometrische Gärten, Bänke von Sandstein, die Freitreppe aus grünlich gelben Klinkern, hart- und krummgebrannten, den Adlerfarn, die Rosen, und neben dem echten Wasser das andere Wasser: Écumen.
Ich höre meine Mutter zu mir über dieses andere Wasser sagen: »Das ist, was sie Schaum nennen. Nur mein lieber Nick nennt es Wasser. Weißt du, warum mir das gefällt, dass du es Wasser nennst? Weil es mir verrät, dass du genau hinschaust.«
Écumen, der Stoff, aus dem unsere Kommunikations- und Produktionsmittel gemacht waren und der heute in anderen Varianten, unter anderen Namen, gezähmt und vereinfacht und sterilisiert, im ganzen Sonnensystem verbreitet ist, kombiniert mit der Photonik, die das alte Elektronikwesen ersetzt hat, kann bis in seine submikroskopische Beschaffenheit weit eher flüssig gedacht werden als schaumartig: Die Wahrheit dieses Stoffes hatte ich gesehen, mit kindlichem Blick, einen dünnen, flüssigen Film, der, wenn ich ihn berührte, von einer Wandfläche, einem Möbelstück oder einem Gerät auf meine Finger oder meine Hand glitt, sobald ich dachte, er sollte das tun. Wollte ich es nicht, so blieb er, wo er gewesen war.
Immer hörte und sah er mich denken. Das lag an der Kontaktplatte in meinem Kopf, die aus denselben kleinsten Teilen bestand wie der sogenannte Schaum, aus Écumuli, vielen Tausenden, schließlich Millionen. Oft konnte ich durch ihn hören und sehen, was andere dachten: Menschen, Maschinen und ungebundene, mit Bewusstsein von sich selbst gesegnete Algorithmen.
Schaum? Das wäre das weiße Wachsen und Wuchern gewesen, das man sah, wenn man eine der bunten Seifen meiner Mutter in der Badewanne durchs echte Wasser zog.
Was man Bildung nennt, die geistige Seite der Erziehung, erfuhr ich über den Écumen, in jener besonderen Sicht, die sich über die äußere Optik legte und die wir damals »Innenauge« nannten.
»Schau, hier kann ich dir alles zeigen«, sagte meine Mutter. Sie zeigte mir, barfuß neben mir kniend in ihrem hellblauen Overall, Bilder von den Servern für die K/, deren Einrichtung mein Vater hier am ersten autonomen Berghang der D/ überwachte. Die K/ waren die Künstlichen Intelligenzen, denen wir, wie man heute hier sagt, nicht gehorchten, und die D/ waren die Roboter, denen wir, wie man hier heute sagt, keine Befehle gaben.
An der Konfiguration der reichsten Server der K/ hatte meine Mutter in führender Funktion ihren Anteil geleistet. Wenige Menschen, sagen die Archive, waren geschickter als Mona Helander bei der Arbeit an der Programmiersprache, die dem Écumen seine Vielzahl von Seelen eingehaucht hat. Diese Sprache wird nicht mehr von vielen beherrscht. Aber ihr Name ist nach wie vor bekannt: Topos. […]