Es wird höchste Zeit den ritualisierten und weitgehend wirkungslosen politischen Diskurs um die soziale Spaltung unserer Gesellschaft aufzubrechen. Es ist Zeit für einen neuen Anlauf in der Gerechtigkeitsdebatte, der den Weg bereitet für die tatsächliche Teilhabe aller. Dafür braucht es eine andere »Philosophie«, eine andere Strategie und andere Schlüsselprojekte, als wir sie in den letzten Jahrzehnten vorgeführt bekommen haben. Die Reduzierung der Debatte auf Steuersätze und Sozialtransferleistungen dringt zu der entscheidenden Frage gar nicht mehr vor: Wie stellt sich gesellschaftliche Teilhabe überhaupt her? Erst so kommt man auf die zentrale Bedeutung inklusiver Infrastrukturen im Sinne öffentlicher Räume und Netze. Das ist der Stoff für eine überzeugende Gerechtigkeitserzählung, die sich an ihrer tatsächlichen Wirksamkeit für mehr Teilhabe der Ausgeschlossenen, Prekären und Verunsicherten messen lassen kann.
Gleiche Freiheit
Eine politische Strategie, die sich auf Gerechtigkeit beruft, kommt nicht umhin, über die Annahmen ihres Gerechtigkeitsbegriffs Rechenschaft abzulegen. Die Bezugnahme auf diesen Begriff ist im linken Spektrum öfter anzutreffen als anderswo. Dennoch handelt es sich bei Gerechtigkeit um einen oft unbestimmten Begriff, der sehr vieles heißen oder behaupten kann. Gerade deshalb ist es so wichtig, zwei elementare Grundannahmen zu betonen, die das weitere Nachdenken und Handeln orientieren: Gerechtigkeit ist eine relative Kategorie der Beziehung zwischen Menschen und sie zielt im Kern auf die Gleichverteilung von realen Freiheitsmöglichkeiten.
Gerechtigkeit erschöpft sich nicht in absoluten Standards unabhängig davon, wie es den anderen geht. Gerechtigkeit beinhaltet eine soziale Relation, die davon ausgeht, dass sich aus unserer Gleichheit als Freie die Anforderung ableitet, dass unsere Freiheitsansprüche, die Verwirklichung unserer Bedürfnisse, Wünsche und Träume, gleichermaßen Unterstützung finden. Diese relative Gerechtigkeitsanforderung gegen unverdiente Privilegien und die Lotterie der sozialen Herkunft ist auch deshalb eine entscheidende Annahme, weil erst so deutlich wird, warum Gesellschaften auch dann ein fundamentales Gerechtigkeitsproblem haben, wenn sich zwar das absolute Niveau am unteren Ende der Skala verbessert, aber die relative Schere dramatisch auseinandergeht. Gerechtigkeit steht zweitens sinnvoll verstanden nicht gegen Freiheit, sondern Gerechtigkeit ist eine Antwort darauf, wie wir uns als Freie zueinander verhalten, in welchem Verhältnis die Freiheitssphären zueinander stehen.
Gerechtigkeit zielt auf gleiche Freiheit im Sinne eines regulativen Ideals, das sich nie vollständig verwirklichen lässt, das aber die Orientierung vorgibt, indem es mit Freiheit das zentrale Gut und mit Gleichheit den zentralen Maßstab von Gerechtigkeit beschreibt. Dieses Verständnis von Gerechtigkeit als gleiche Freiheit ist einfach – und zugleich in vielerlei Hinsicht vielschichtig und anspruchsvoll. Nicht nur deshalb, weil die schwierigen Fragen der Leistungsgerechtigkeit, der allgemein vorteilhaften Ungleichheit oder der Berücksichtigung von teuren Vorlieben zu berücksichtigen sind, sondern auch, weil der Großbegriff der Freiheit selbst wiederum voraussetzungsvoll ist. Freiheit hat zum einen vielfältige Konstitutionsbedingungen, die den Individuen überhaupt einen Denk- und Erfahrungshorizont unterschiedlicher Handlungsoptionen eröffnen. Freiheit hat zum anderen vielfältige Verwirklichungsbedingungen, an denen sich dann entscheidet, ob eine Handlungsoption mit Blick auf Fähigkeiten und Ressourcen tatsächlich ergriffen werden kann. Beide Freiheitsdimensionen – Autonomisierung und Autonomiegebrauch – verweisen auf die Notwendigkeit eines unverkürzten Gerechtigkeitsbegriffs, der weder Gerechtigkeit auf Autonomisierung noch auf Autonomiegebrauch reduziert. Und sie verweisen auf ein potenzielles Spannungsverhältnis zwischen beiden Dimensionen, das spätestens im Erwachsenenalter grundsätzlich durch die Individuen selbst zu beantworten ist. Gerechtigkeit nach diesem Verständnis schließt einen politischen Paternalismus aus, der für die Menschen beantwortet, worin ein »gutes Leben« besteht und was ihnen deshalb zusteht. Gerechtigkeit als gleiche Freiheit maßt sich deshalb auch nicht das Versprechen gleichen Glücks an – entgegen dem momentanen Trend der Psychologisierung von Politik. Sie verspricht auch nicht gleichen Erfolg bei der Realisierung eigener Lebenspläne. Was sie ins Auge nimmt, ist vielmehr die gleiche Gewährleistung der Ermöglichungsbedingungen für die Ausbildung und die Verwirklichung von Freiheit. […]