In seiner Rede zum Tag der Tag der Deutschen Einheit 2016 thematisierte Bundestagspräsident Norbert Lammert einen vermeintlichen Widerspruch: Während bei einer Meinungsumfrage 16.000 Befrage aus aller Welt – allesamt Eliten aus Wirtschaft, Wissenschaft und Verwaltung – Deutschland als »bestes Land« der Erde einstuften, positionierte die andernorts befragte Bevölkerung in Deutschland in einer Gallup-Umfrage, dem sogenannten »Glücksatlas«, das eigene Land auf Platz 46 von 138 – zwischen dem Senegal und Kenia. Diese Divergenz in den Wahrnehmungen ist auf den ersten Blick erstaunlich. Aber vielleicht kann man den Widerspruch mit einem zweiten Blick auflösen, indem man ihn als Ausdruck einer sozialen Spaltung interpretiert. Man müsste sich dann nicht mehr mit Norbert Lammert wundern, sondern eher über ihn: Der deutsche Pessimismus mag übertrieben sein; unerklärbar ist er keineswegs.
Abstiegsängste und Untergangsvisionen
Norbert Lammerts Hinweis auf diese Spannung ist nicht nur als Indiz für Wahrnehmungsdifferenzen von Interesse. Es geht hier nicht nur deskriptiv um die Frage, wie sich Gesellschaften oder Teilgesellschaften ihre soziale Wirklichkeit konstruieren. Vielmehr lässt sich der Hinweis auch als Identifikation eines Desiderats begreifen: Wenn die breite Bevölkerung die eigene Lage so seltsam, ja objektiv unzutreffend – zwischen Kenia und Senegal – einstuft, wirft dies die Frage auf, was dagegen zu tun sei. Deutschland ist hier nur ein besonders sprechendes Beispiel für eine beinahe paneuropäische Misere. Denn wenn es heute noch etwas gibt, was Kontinentaleuropa zusammenhält, dann wohl düstere Zukunftsaussichten, Abstiegsängste, Untergangsvisionen.
Europa scheint, von Ausnahmen wie Norwegen oder Dänemark abgesehen, von einer geradezu erdrückenden Hoffnungslosigkeit belastet. Vor allem Deutschland und Frankreich ragen als Länder heraus, deren Bevölkerung mehrheitlich pessimistisch ist. Nicht nur die Umfragen zeigen, dass beispielsweise in Deutschland 55 Prozent der Menschen mit einer negativen Zukunft rechnen. Es gibt auch so etwas wie eine Stimmung, die sich in Bestsellern äußert, die den Niedergang beschreiben und analysieren. In Frankreich ist bekanntlich ein eigenes Buch- Genre entstanden, der sogenannte déclinisme; in Deutschland reüssieren Soziologen mit Erklärungsversuchen, die die Stimmung der Angst auf den Begriff bringen sollen. Das Maximalziel der kontinentaleuropäischen Mittelschichten mutet dann geradezu gnostisch an, wie die von Carl Schmitt formulierte Sehnsucht nach dem »Aufhalter«, dem Katechon: Den Niedergang wenigstens verlangsamen.
Arendt weiterdenken
Die Rede von einem Recht auf Hoffnung mag vor diesem Hintergrund befremdlich klingen. Von Hannah Arendt stammt die berühmte These, es gäbe nur ein wirkliches Menschenrecht, nämlich das Recht, Rechte zu haben. Mit dieser These wollte sie auf einen blinden Fleck in der Erklärung der universellen Menschenrechte hinweisen. Die Menschenrechte, so Arendts Diagnose, bleiben nämlich ein leeres Versprechen, wenn sie nicht durch eine faktische Macht geschützt werden. Es sind in der Regel die Nationalstaaten, die ihre Bürgerinnen und Bürger schützen und als Garanten von Menschenrechten auftreten können. Daher besteht das fundamentale Menschenrecht nach Arendt in einem Anspruch auf Staatsangehörigkeit; erst die Zugehörigkeit zu einem politischen Gemeinwesen erlaubt dann das Einklagen weiterer Rechte. Diese Analyse des komplexen Verhältnisses von Staatsangehörigkeit und Menschenrechten findet bei Arendt vor dem Hintergrund der historischen Erfahrung statt, dass es gerade Nationalstaaten sein können, die Menschenrechte auf fundamentale Weise verletzen. [...]