Liebe Leserin, Lieber Leser,In den Achtzigern war sie noch umkämpft, in den Neunzigern irgendwie egal, und jetzt ist sie wieder da: die Religion. Mit Sicherheit das Comeback der letzten Jahre. Gerade in der neuen Bürgerlichkeit haben religiöse Bekenntnisse wieder Hochkonjunktur und Intellektuelle, die gerade noch in der Beliebigkeit der Berliner Mitte zu Hause waren, suchen ihr Seelenheil in Roms lateinischen Liturgien. Für die »Neugläubigen« ist Religion ebenso selbstverständlich wie für die »Neureichen« Villa und Sportwagen. Doch selbst für den Religiösen ist der Zweifel Ausweis für die Ernsthaftigkeit des Glaubens. Ganz zu schweigen von denjenigen, die nicht mehr an Gott glauben wollen oder können.
Die »neue« Religiosität bleibt dabei keine Privatsache, sondern besetzt auch eine neue Öffentlichkeit in ambivalenter Weise. Das Gefühl ökonomischer und terroristischer Bedrohung scheint nicht nur ein soziales, sondern auch ein neues transzendentes Sicherheitsbegehren hervorzubringen. Religion wird so nach innen affirmativ als Stabilisator und Gemeinschaftsspender herangezogen und nach außen distinktiv mit Bedrohungsszenarien verbunden.
Zu Beginn blickt polar empirisch auf das »religiöse Feld« (S. 7). Was sagen die harten Fakten (S. 13)? Kehren die Religionen wirklich zurück oder schreitet die Säkularisierung weiter voran (S. 24)? Was gilt für einzelne Gesellschaften und Milieus? Oder werden die monotheistischen Religionen nicht zunehmend abgelöst durch einen individualistischen Mix aus religiösen Versatzstücken und Esoterik? Der öffentliche Umgang mit Religion hängt mit der ökonomischen und kulturellen Lage einer Gesellschaft zusammen. Frankreich und die Türkei bekennen sich aus ganz unterschiedlichen Motiven zur Laizität (S. 29). In Pakistan steht der Islam vor der Eigendynamik eines wachsenden Tourismus (S. 42). Junge Juden suchen innerhalb der modernen Großstadtwelt New Yorks wieder nach authentischer Religiosität (S. 49).
In Deutschland werden öffentliche Bekenntnisse stark mit der sozialen Funktion von Religion begründet. Religion wird angeführt als Vergemeinschaftungsoption, als nicht garantierbare Voraussetzung für den liberalen Rechtsstaat oder als Kitt für die Zivilgesellschaft. Lässt sich dieser Zusammenhang nachweisen? Ist Gott also eine notwenige Erfindung? Oder eben doch nur Opium für das Volk? Selbst die Gläubigen, denen die Frage »Wozu Gott?« (S. 89) eigentlich fremd sein sollte, unterstreichen den Nutzen von Religion gerne mit immer neuen Varianten einer Verfalls- und Atomisierungskritik. Oder sollten sich Solidarität und Liebe nicht besser unmittelbar auf den Menschen beziehen, also immanent gedacht werden? Steht also Gott nur im Weg?
Über gesellschaftliche Entwicklung und Funktion hinaus stellt sich die Frage nach dem Unverfügbaren, dem Zweckfreien, dem vielbeschworenen »Sinn«. Woran glauben? Der Glaube an einen »Schöpfer«, ein »absolutes Wesen« jenseits des Menschen ist heute gesellschaftlich alles andere als selbstverständlich. Der Lautstärke öffentlicher Bekenntnisse steht eine seltsame Sprachlosigkeit über die Gründe des Glaubens entgegen. Dementsprechend findet auch Religionskritik heute selten das nötige Gehör (S. 79). Eine öffentliche Auseinandersetzung über Glauben erfordert Streitbarkeit auch hinsichtlich der »letzten Dinge« und ein hohes Bewusstsein für Toleranz (S. 73). Daran scheitern Missionare ebenso wie Jakobiner.
Was in unserer Gesellschaft fehlt, ist eine offene Kontroverse über die letzten Dinge. An den existentiellen Fragen nach dem Tod und der Liebe kommt niemand vorbei (S. 122). Wer den religiösen Weg nicht gehen will oder kann, muss sich gleichwohl zu diesen Existenzialien verhalten und zu einer Haltung finden. Woran kann sich ein »immanenter Glaube« ausrichten? Wissenschaft? Kunst? Konsum? Ruhm? Dem Anderen? Oder macht die Frage nach Sinn überhaupt keinen?
Für die Redaktion
Peter Siller, Bertram Keller