Das Online-Magazin zur Zeitschrift | HALBJAHRESMAGAZIN polar






polar #3: Religion und Kritik



EDITORIAL

 
Peter Siller, Bertram Keller
Editorial



QUESTIO

 
Steffen Sigmund
Am Kap der guten Hoffnung
Das religiöse Feld als Bühne gesellschaftlicher Konflikte
 
David Strecker
Modernisierung = Säkularisierung?
Betrachtungen zu einer altbekannten Gleichung
 
Stefan Grotfeld, Stefan Huster
Kontroverse: >Öffentliche Religion<
 
Nilüfer Göle
Alla Turca?
Laizität in Frankreich und der Türkei
 
Michaela Schäuble
Die Heilige und ihre Helden
Eine Marienwallfahrt an der kroatisch-bosnischen Grenze
 
Krystian Woznicki
Allahs Themenpark
Pakistans islamische Utopie des Massentourismus
 
Steffen Stadthaus
Im Vorortzug Richtung Brooklyn
Auf der Suche nach authentischer Jiddischkeit
 
Peter Fuchs
Du darfst nicht .
Shopping in den Funkelwelten des Konsums
 
James D. Ingram, Arnd Pollmann, Roman Schmidt, Peter Siller
Ist es links?: >Aufklärung<
 
Ina Kerner
Leben im Kapitalismus: >Sünden, Beichten, Sünden<



DISPUTATION

 
Rainer Forst
Die hohe Kunst der Toleranz
Eine Orientierungshilfe in Zeiten der Religionskämpfe
 
Robin Celikates/Rahel Jaeggi
Die Blumen an der Kette
Acht Thesen zur Religionskritik
 
Petra Bahr
Wiederkehr der Gotik
Die Lust der neuen Bürgerlichkeit am Religiösen
 
Ein Gespräch mit Hans Joas, Herbert Schnädelbach und Rolf Schieder
»Wozu Gott?«
 
Torsten Mayerhauser/Patrick Wöhrle
Gott als Basenpaar
Kritik der naturalistischen Religionskritik
 
Rudolf Speth
Werte und Mehrwert
Parteien als Glaubensgemeinschaften und Interessenvereinigungen
 
Der wahre Text: >Texbausteine für das 21. Jahrhundert<
Neue Berliner Sprachkritik
 
Katharina Liebsch
Versprechen und Verheißungen
Über religiöse Ökonomien und ökonomische Religion
 
Felix Ensslin
Am Signifikantentropf des Anderen
Zum Geschäft der Artikulation unbedingter Bedingtheit
 
Interview mit Navid Kermani
»Die Anmaßung des Lebens«
 
Martin Saar
Bildpolitik: >Die Moschee im Dorf<
 
Julie Miess
Mein halbes Jahr
>Musik<
 
Simon Rothöhler
Mein halbes Jahr
>Film<
 
Peter Siller
Mein halbes Jahr
>Literatur<



RELIQUIEN

 

Arnd Pollmann/Kai Schöneberg

Who the fuck is Reiner?

Einem fanatischen Autogrammjäger auf der Spur


Arnd Pollmann/Kai Schöneberg

Who the fuck is Reiner?

Einem fanatischen Autogrammjäger auf der Spur

Stars können unsterblich werden. Fans auch? Sein Lebenswerk lag verwahrlost in einer Gerümpelkiste auf dem Flohmarkt: Das Autogramm-Album eines Schlager- Fans. Hunderte Polaroids. Viele der Stars, mit denen er sich verewigt hat, sind unvergessen, andere längst in der Versenkung verschwunden. Was aber ist aus Reiner geworden?

Der Kerl muss doch aufgefallen sein, irgendjemand wird ihn kennen: Mittleres Alter, blondes, zerzaustes Haar. Klein, schlaksig, ausgeprägte Backenknochen. Und dieser Blick: Auf manchen Fotos wie entrückt, auf anderen starr und stechend, fast irre. »Sieht aus wie der Bruder von Klaus Kinski«, sagen viele, die in das Album sehen. Erst lachen sie, blättern weiter, erblicken verstört diese seltsame Krankheit: »Schräger Typ«. Seine Klamotten müssen damals hipp gewesen sein: Mal trägt er einen olivgrünen Bundeswehr-Parka, mal einen lässigen Glanzblouson, darunter ein knappes Shirt mit Aufdruck: »Ich bin Millionär«. Wer ist dieser Kerl?

»Für Reiner« steht auf manchen der Fotos. Auf einem Flohmarkt in Kreuzberg haben wir es gefunden, und es muss einmal sein Ein und Alles gewesen sein: Das Fotoalbum eines Autogrammjägers. In einer Umzugskiste lag es, trostlos, zwischen Konsalik-Büchern, Early Eigthies-Teekannen mit blauen China-Mustern und Big Jim-Puppen ohne Beinen. Es nieselte, uns war kalt, wir waren praktisch schon auf dem Heimweg. Aber das Album drohte nass zu werden. Der Verkäufer, ein türkischer Entrümpler, sagte: »Ich nix wissen woher. Aber billig!«. Vermutlich aus einer Wohnungsräumung. Vielleicht aus einem Nachlass? Wir kauften das Album, Reiners Vermächtnis. Für fünf Euro.

Schnappschüsse für die Ewigkeit
Mehr als 400 Fotos: Reiner mit Roy Black, Reiner mit Nicole, Reiner mit Rex Gildo. Mit Mike Krüger, Cindy & Bert, Gottlieb Wendehals und Patrick Lindner. Mit Bruce Low, Jürgen Markus und Hänschen »Das war Spitze!«-Rosenthal. Christian Anders, noch kein Guru, Dagmar Berghoff, noch ungeliftet, Anke Engelke, noch unter 20, Hugo Egon Balder, schon damals völlig unlustig. A-Promis, B-Promis, Eintagsfliegen. Viele, die man heute nicht mehr kennt. Aber auch Richard von Weizsäcker, Jochen Vogel, Max Schmeling, Uwe Seeler oder Annegret Richter: 100-Meter-Gold bei den Olympischen Spielen 1976 in Montréal. Da war sie eine Göttin! Und an der Seite all dieser Stars: Reiner – immer wieder Reiner.

Mehr als 400 Mal macht es »Klick«. Meistens drückt er selbst ab. Die Polaroid am ausgestreckten Arm, postiert Reiner sich vor sein Objekt und knipst so schnell, dass viele der Stars nicht einmal merken, dass sie fotografiert werden. Helmut Kohl rauscht borniert durchs Foto, Jürgen von der Lippe, umringt von Fans, unterzeichnet Autogrammkarten, Robert Lembke fragt: »Welches Schweinderl hätten’s denn gern?« Karel Gott posiert mit eisigem Lächeln. Tony Marshall trägt ein Kind im Arm und grüßt Reiners Schwiegermutter. Sascha Hehn grinst sein Traumschiff-Grinsen.

Und Reiner? Meist unten rechts im Bild. Er hält ja die Kamera, fast immer mit dem gleichen, gehetzten Gesichtsausdruck. »Zack!«, den hab ich auch, denkt er sich, und drückt ab. Auch die da drüben werd ich gleich anquatschen. Die fehlt mir noch, auch die kleb ich ein. In das Album, das Jahre später auf einem Kreuzberger Flohmarkt verscherbelt werden wird: Bordeauxrotes Kunstleder, goldene Verzierungen, Pergamentpapier zwischen den Seiten, damit die Fotos nicht verkleben. Reiners Album. Heute sieht es traurig und verwahrlost aus. Seiten sind verknickt, erste Bilder fallen heraus. Dabei ist Reiner ganz sicher einmal verdammt stolz auf all die Fotos gewesen. Beim Blättern sehen wir, dass er oft bei der »Hitparade« war und auch bei »Die Goldene 1«. Das Album füllt sich, von Show zu Show, von Funkausstellung zu Funkausstellung. Und es scheint, als habe Reiner keine Zeit mehr zu verlieren. Schnell auch noch diesen Schnappschuss für die Ewigkeit!

Wir fragen uns, ob es wohl ein Leben außerhalb dieser Fotos gab? Lebt Reiner noch? Wir machen uns auf die Suche. Wanted: Ein Autogrammjäger namens Reiner, der aussieht wie Klaus Kinski, vermutlich aus Berlin.

Hier ist Berlin
Wir treffen Erika Steinhorst vor dem Berliner Kaufhaus des Westens. Sie ist Politesse, Anfang 50, und hat gerade Dienst. »Wir waren die Verrückten!« sagt Steinhorst, die ein wenig traurig wird, wenn sie an das Ende der Hitparade vor ein paar Jahren denkt. An die erste Sendung kann sie sich noch genau erinnern: »Das war der 18. Januar 1969. Jahrelang war ich bei jeder Sendung in den ZDF-Studios in der Oberlandstraße. Hitparade war das Größte! Ich war 14, trug Hotpants und riss Howard Carpendale einen Büschel Haare aus.« Den hat sie aufbewahrt. Damals sparte Steinhorst hart, um die 3,50 Mark für den Eintritt zahlen zu können. »Wir waren Fans – das ist doch üblich in dem Alter.« Lange noch hat sie beim Sender als Gästebetreuerin gejobbt, nebenbei, und sich gefreut, wenn Michael Schanze sie wiedererkannte. Klar, sie erinnert sich an Reiner: »Wir waren ungefähr 30 Leute, die den Stars vor der Sendung auflauerten. Der war oft da.« Aber sie kennt ihn nur vom Sehen. Das hätten wir uns denken können. Untereinander dürften sich Autogrammjäger spinnefeind sein. Man braucht Ellenbogen, um an die besten Unterschriften heranzukommen: »Damals interessierten mich nur die Stars«, sagt Steinhorst. Die Stars der Hitparade.

Und da sind sie, unsere Erinnerungen: Es ist Samstagabend. »19 Uhr 30 und 41 Sekunden«, schnarrt Dieter Thomas Heck ins Mikrophon: »Hier ist Berlin! Hier ist die Hitparade im Zett-De-Eff!« Dann singt Gunter Gabriel dieses Lied von dem behinderten Jungen, der von dem Trucker ein paar Runden mit um den Block genommen wird. Mama sitzt weinend vor Rührung auf dem Sofa. Papa ist längst in der Kneipe. Nach der Sportschau ist er weg. Reiners Fotos sind Teil unserer Kindheit – zwischen Biene Maja und Evel Knevel. Viele kleine Déjà-Vus, von Mitte der 70er bis zu den frühen 90er Jahren. Lebt dieser Sänger von Dschingis Khan eigentlich noch? Was ist aus Andrea Jürgens geworden? Thomas Gottschalk sieht da noch richtig jung aus. Auch Harald Juhnke war mal Ende vierzig – Gott hab ihn selig! Und, oh Mann, Gotthilf Fischer mit Miniplie! So hieß die Dauerwelle damals.

Stars in der Manege
Vielleicht kann uns ja einer der Stars weiterhelfen. Wir melden uns bei der Agentur von Schlager-Größen wie Katja Ebstein, Gitte und Lena Valaitis. Doch Fehlanzeige: Reiner ist hier unbekannt. Und über Fans will man nicht reden: »Die wollen zwar nichts Böses. Aber manche werden so hysterisch, dass man ohne Bodyguard nicht aus dem Haus gehen kann«, sagt der Manager, der nicht möchte, dass die Fans seinen Namen in der Zeitung lesen. »Die arme Karin Tietze-Ludwig. Sie wird heute noch ständig angegrabbelt – weil die glauben, dass das Glück bringt! Dabei ist sie ja längst keine Lotto-Fee mehr.« Der Mann hat sein Leid mit den Kunden der Stars – und jede Menge Arbeit. Eigens für die Autogrammpost beschäftigt er einen Studenten, der sich nach jeder Veröffentlichung von Autogrammadressen in Boulevardblättern durch Wäschekorbe mit Bittbriefen wühlt. »Manche sind so unverschämt, die schicken nicht mal Rückporto. Andere wissen manchmal gar nicht, wen sie vor sich haben. Zwei Mädels baten mal Hans-Joachim Kulenkampff um eine Unterschrift und sagten: »Danke, Herr Carrell«. Da ist der Kuli auf die Palme gegangen!« Und eine tiefenpsychologische Erklärung legt der Manager gleich nach: »Mal ehrlich: Viele haben ihre Kindheit noch nicht verarbeitet. Ein starker Mensch sammelt doch keine Unterschriften!«

Selbstbilder
Autogrammjäger als Seelen-Invalide? Das Sammeln von Unterschriften als Ringen, selbst etwas zu bedeuten; als Versuch, der eigenen Bedeutungslosigkeit und Einsamkeit zu entfliehen? All das Warten vor schmucklosen Hinterausgängen, die ja noch nicht lange – cool – »backstage« heißen. All der Stress, im richtigen Moment den Auslöser zu drücken, weil sonst doch alles umsonst war. Und wahrscheinlich hat Rainer Stunden, Tage damit verbracht, all die Fotos einzukleben, das Album wieder und wieder durchzublättern. Hat er sich dabei am Ende auch ein Bild von sich selbst zusammengepuzzelt? Reiner umringt von Stars, dabei auf jeder Promi-Party. Ständig in der ersten Reihe. Vorbei an all den anderen Autogrammjägern, um nah genug an die Stars heranzukommen. Ein Paparazzo in eigener Mission. Die Verzweiflung, es diesmal nicht zu packen, steht ihm ins Gesicht geschrieben. Jedes Bild: Ein kleines Drama. Unter maximalem Einsatz. Für Unterschriften von ein paar Schlagerfuzzis. Jahrzehntelang voll im Bilde, und das buchstäblich. Alles in diesem Album festgehalten. Für immer.

Reiners Fotos sind mehr als nur Beweise für Treffen mit Willy Millowitsch, Frank Zander und Hape Kerkeling. Vielleicht hat Reiner nur für diese Bilder gelebt, sich lange vor dem postmodernen Hype um das Leben als »Patchwork-Identity« seinen ganz eigenen Flickenteppich zusammengebastelt. Die Bilder, die wir vor dem Regen retteten: Nicht nur Reiner und die Stars, sondern Versatzstücke eines ganzen Lebens, das in einem dreckigen Karton auf dem Flohmarkt endete?

Ohne bist du ’ne Null
Wir suchen weiter. Reiner kannte sie alle. Aber kennt denn keiner Reiner? Vielleicht Heino, der gern sagt, dass man den Fan »hegen und pflegen« muss, denn »ohne bist du ’ne Null«. Mit Heino hat sich Reiner gleich zweimal verewigt. Es ist zehn Uhr morgens, als wir den großen Blonden mit der schwarzen Brille in seiner von Fans abgeschiedenen Villa in Bad Münstereifel erwischen. Er und seine Frau Hannelore sind gerade mit dem Frühstück fertig. »Au weia!«, seufzt Heino, als er Reiners Geschichte hört und in dessen offenbar schwer erkranktes Gesicht blickt. Plötzlich klingt er nachdenklich, fast wie ein normaler Mensch, fragt nach, will alles wissen. Doch schließlich: »Ich habe in meinem Leben bestimmt schon mehr Hände geschüttelt als der amerikanische Präsident«, sagt Heino. Da könne man schon mal den einen oder anderen vergessen. »Doch Reiner hat bestimmt, wie alle anderen, eine ganz persönliche Unterschrift von mir bekommen. Und noch ein paar nette Worte«, meint der Volksmusikant. »Egal, wie stürmisch die sind: Du musst die Fans über dich ergehen lassen. Sonst bist du für diesen Beruf nicht geeignet.«

Fankult und Erlösung
Was aber für eine Leidenschaft ist das, die aus einem stinknormalen Musikfreund einen Fan, ja, einen Fanatiker macht? Es gibt große Gemeinsamkeiten zwischen der Verehrung von Stars oder Teams, wie beim Fußball, und der Ergebenheit, mit der religiöse Glaubensanhänger ihre Gottesdienste zelebrieren: Auch der Fan hat eine Gemeinde. Es gibt rituelle Versammlungsstätten und kultische Anbetungsrituale. Man befolgt feste Glaubenssätze, beschafft sich Devotionalien, die als Fetisch angebetet werden. Und natürlich kann auch hier, wie in der Religion, das Anhimmeln der eigenen Abgötter wahnhafte Formen annehmen: Der Stalker ist der Terrorist der Schlager-Welt.

Ist das Fan-Dasein also ein ersatzreligiöser Kult? Wahrscheinlich praktizieren beide – Religionsanhänger und Fans gleichermaßen – Ersatzhandlungen für ein und dasselbe fundamentalpsychologische Phantasma: Am Ende einer langen Warteschlange winkt endlich die Erlösung. Der gemeinsame Nenner von Religion und Fan-Kult ist der Versuch, heilsbringende Antworten auf beunruhigende Fragen zu finden: Wie lässt sich dem Leben, das oft reichlich sinnlos erscheint, am Ende doch so etwas wie Sinn abtrotzen? Wie lässt sich das Leben, das endlich ist, bis in die Unendlichkeit verlängern? Man wird das Gefühl nicht los, dass Fans von Jesus, Kaka und Costa Cordalis gleichermaßen darauf aus sind, zumindest etwas Transzendenz in einer ansonsten so profanen Welt zu erhaschen.

Deutsche Stars sind günstig
Geht es also dem Autogrammjäger, ging es Reiner darum, sich im Lichte der Stars zu sonnen, bis etwas von deren Unsterblichkeit auch auf ihn abfärbt? »Ach was«, sagt Thomas Münch, Präsident des »Clubs der Autogrammsammler«; mit 1.000 Mitgliedern der größte Sammler-Verein in Deutschland. »Ein stinknormales Hobby.« Reiner kennt er zwar nicht, aber er kennt seine Pappenheimer: Nicht etwa seelische Krüppel, sondern »ganz normale Leute«. Münch sieht das Ganze nüchtern: Den Wert von Reiners Album taxiert er auf ein bis zwei Euro pro Autogramm. Mal vierhundert? Nicht schlecht! Aber in der Branche werden auch ganz andere Preise hingeblättert: »Für eine Original-Unterschrift von Adolf Hitler zahlen Amerikaner bis zu 20.000 Dollar, die Beatles komplett kosten 5.000, Michael Schumacher in seinem Ferrari bringt immerhin 60 Euro. Aber deutsche Stars sind günstig«, so Münch. »Es gibt einfach zu viele Autogramme.« Und es gibt wohl auch zu viele Autogramm-Sammler. Who the fuck is Reiner?

Stress und Schlümpfe
Wir reichen das Album weiter – an Vader Abraham. Der Entertainer, der im wahren Leben Pierre Kartner heißt, wohnt im niederländischen Breda. An die Zeit, als er mit seinen drei blauen Gefährten – »aus Schlumpfhausen, bitte sehr!« – die Charts in Deutschland, aber auch in Schweden, Israel, Australien, Japan und Mexiko stürmte, denkt Kartner gern zurück. »Das war so um 1978. Es war unglaublich«, sagt Kartner, der heute so alt ist, wie er damals schon aussah. »Die Fans wussten leider immer genau, in welchem Hotel ich wohnte. Sie bedrängten mich ständig. Manchmal hatte ich riesige Kopfschmerzen wegen des Stresses.« Er sieht sich Reiners Fotos an: »Ein Jahr lang war ich auf Platz 1 der Hitparade. Da war ich sehr oft in Berlin.« Doch Reiners Gesicht ist ihm fremd. »Das ist ein Problem der Masse«, meint Kartner.

Sturmlauf der Toupierten
Noch ein Versuch – bei Dieter Thomas Heck, einst Autoverkäufer in Flensburg. Heute lebt er mit seiner Frau in einem Barockschloss bei Baden-Baden. Langsam hat sich der langjährige Moderator aufs Altenteil zurückgezogen. Hecks Stimme aber klingt noch so vertraut, als ob am anderen Ende der Telefonleitung die Hitparade liefe. Er sieht auf das Fax mit den Bildern, die wir ihm geschickt haben: »Das ist ja der Heck mit einem Riesen-Hemdkragen. Und Tina York. Eine tolle Frau in einer tollen Zeit. Das muss so 1972 gewesen sein.« Hecks Sendung war da längst Kult: »Wir hatten bis zu 27 Millionen Zuschauer pro Sendung. Bei 20 Millionen machten wir eine Krisensitzung. Vor dem Eisentor standen die Fans Schlange, während der Proben belagerten sie die Kantine.« Damals schrieb die Bild-Zeitung: »Berlin-Tempelhof, ein Ruf schallt durch das Ufa-Gelände: Achtung, sie kommen! Vor der Sendehalle wird der Sturmlauf der Toupierten, der Kurzberockten, der Korpulenten, der Verschwitzten jäh unterbrochen. Noch nicht geknickte Blumensträuße knicken. Ein Autogrammbuch liegt am Boden. Zertreten – die stolze Michael-Holm-Signatur.«

Und? Kennt Heck Reiner? »Ich kenne viele persönlich, zum Beispiel Herrn Mühmelt. Der hat mir mal ’ne Mütze von den Berliner Verkehrsbetrieben geschenkt. Nun ja«, und Heck zögert, »die meisten Fans sind sicher keine Intelligenzbolzen, aber sehr nette Menschen«. An Reiner erinnert er sich nicht. Gerade heute hat Heck 500 Autogrammkarten unterschrieben. »Das reicht erstmal für die Woche. Und: das gehört zum Job. Wenn ich in die Öffentlichkeit gehe, bin ich im Dienst. Auch nachts um drei an der Bar.« Nur einmal habe er einen Autogrammwunsch abgelehnt: »Da wollte einer, dass ich auf einem 1.000-Mark- Schein unterschreibe. Das war mir dann doch unheimlich.«

Reiners Vermächtnis
»Unheimlich« – das ist das richtige Wort. Denn die Fotos dieses unbekannten Autogrammjägers, aus einer schäbigen Flohmarkt-Kiste gefischt, sind mehr als nur simple Erinnerungsfotos. Ihr heutiger Zustand steht in keinem Verhältnis zu ihrer einstigen Bedeutung: Sie sind Reiners Vermächtnis. Wir schlagen die letzten Seiten auf und sehen Bilder von einer riesigen Videosammlung. Eine bombastische Stereoanlage mit unzähligen CDs. Ist das Reiners Zimmer? Ein Foto für die Nachwelt? Woody Allen wurde einmal gefragt, ob er seine Filme mache, um unsterblich zu werden. »Nein«, hat er geantwortet, »ich möchte unsterblich werden, indem ich nicht sterbe«. Und was war Reiners Plan?

Immer deutlicher ist ein fieser Hautausschlag zu sehen, der von Polaroid zu Polaroid schlimmer wird. Freunde, die das Album durchblättern, stehen wortlos auf, um sich die Hände zu waschen – als könnten sie sich an dem Album infizieren. Wir sind beim Blättern gegen Ende der 80er Jahre, Anfang der 90er Jahre angelangt. Reiner verfällt. Krank und verzagt blickt er in die Kamera. Auf den letzten Bildern ist sein Gesicht mit Warzen übersäht. Die Zeit hat ihn zersetzt, die Spuren in seinem Gesicht erzählen Reiners Leidensgeschichte. Hat sie einen tödlichen Ausgang genommen? Ein befreundeter Arzt bestätigt uns, das man an dieser Krankheit zwar nicht sterben muss, aber doch kann: »Sieht aus wie Neurofibromatose, auch Recklinghausen-Krankheit genannt. Wuchernde Nerventumoren, die unter der Haut sitzen. Im fortgeschrittenen Stadium können sie aufs Gehirn drücken.«

Reiner dürfte auf diesen späten Fotos Mitte 40 gewesen sein. Immer verzweifelter zückt er die Kamera – als wolle er möglichst viel von dem festhalten, was noch festzuhalten ist. Ein Wettlauf gegen die Zeit. Als habe er Angst, dass sich ohne diese Fotos, seine Existenzbeweise, niemand mehr an ihn erinnern wird. Die letzten Bilder: Eines mit Max Schautzer, eines mit Uwe Hübner, dem letzten Moderator der Hitparade. Und tatsächlich: Hübner erinnert sich an Reiner: »Ich gebe ja tagtäglich und tausendfach Autogramme, aber den Mann werde ich nicht vergessen.« Es muss um 1993 bei einer Autogrammstunde in einem Media-Markt in der Nähe von Berlin gewesen sein. »Nicht nur sein Aussehen war seltsam. Ich wunderte mich noch, wie lässig er sich und mich ins Bild bringt. Keine Gefühlsregung. Der wollte mich abhaken. Mechanisch, ohne eine Miene zu verziehen. So etwas habe ich noch nie gesehen«, so Hübner. »Der hat nicht lang gefackelt: mich kurz angesprochen, geknipst und weg war er.«

Und so verschwindet Reiner aus einer Welt, in der galt: Nach der Autogrammstunde ist vor der Autogrammstunde. Ein Mann zwischen Blitzlichtgewittern. Voll im Bild und doch unauffindbar. Wir fragen uns, ob da noch jemand ist. Vielleicht kennt ihn ja doch jemand – den echten Reiner. Wir halten sein Album in den Händen. Sein Lebenswerk. 5 Euro hat es gekostet, und wir würden es ihm gern zurückgeben. Jemand hat es wie eine Flaschenpost ausgesetzt, es ist auf Irrwege geraten, fast verloren gegangen und doch angekommen. Reiner, hier ist es: Das Publikum, das immer nur die anderen hatten. Bekommen wir ein Autogramm? 



 
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