Das Online-Magazin zur Zeitschrift | HALBJAHRESMAGAZIN polar






polar #3: Religion und Kritik



EDITORIAL

 
Peter Siller, Bertram Keller
Editorial



QUESTIO

 
Steffen Sigmund
Am Kap der guten Hoffnung
Das religiöse Feld als Bühne gesellschaftlicher Konflikte
 
David Strecker
Modernisierung = Säkularisierung?
Betrachtungen zu einer altbekannten Gleichung
 
Stefan Grotfeld, Stefan Huster
Kontroverse: >Öffentliche Religion<
 
Nilüfer Göle
Alla Turca?
Laizität in Frankreich und der Türkei
 
Michaela Schäuble
Die Heilige und ihre Helden
Eine Marienwallfahrt an der kroatisch-bosnischen Grenze
 
Krystian Woznicki
Allahs Themenpark
Pakistans islamische Utopie des Massentourismus
 
Steffen Stadthaus
Im Vorortzug Richtung Brooklyn
Auf der Suche nach authentischer Jiddischkeit
 
Peter Fuchs
Du darfst nicht .
Shopping in den Funkelwelten des Konsums
 
James D. Ingram, Arnd Pollmann, Roman Schmidt, Peter Siller
Ist es links?: >Aufklärung<
 
Ina Kerner
Leben im Kapitalismus: >Sünden, Beichten, Sünden<



DISPUTATION

 

Rainer Forst

Die hohe Kunst der Toleranz

Eine Orientierungshilfe in Zeiten der Religionskämpfe


Kaum eine Woche vergeht, in der man sich nicht einer Zeitreise gleich rückversetzt sieht in die trüben Zeiten religiöser Konfrontationen, in Gang gesetzt etwa durch den Plan eines Moscheebaus in Köln, eine Rede des Papstes, Karikaturen in dänischen Zeitungen, den Ritterschlag für einen Schriftsteller, Kopftücher von Lehrerinnen oder homosexuelle Ehen. Auffällig an diesen Auseinandersetzungen ist, dass der ehrwürdige Begriff der Toleranz allerorten bemüht wird, um konfliktentschärfend zu wirken - aber auch, dass jede der beteiligten Seiten ihn für sich reklamiert. Waren nun die Karikaturen, die Regensburger Rede, die Kopftücher etc. Akte der Intoleranz oder vielmehr die Reaktionen darauf?

Was also heißt »Toleranz« genau? Zunächst gilt es festzuhalten, dass man nur dort von Toleranz sprechen kann, wo die zu tolerierenden Überzeugungen oder Praktiken als falsch oder schlecht verurteilt werden. Sonst hat man es entweder mit Gleichgültigkeit oder mit uneingeschränkter Wertschätzung des Anderen zu tun, nicht aber mit Toleranz. Der Ablehnung muss freilich eine Akzeptanz des Anderen gegenüberstehen, die das Negativurteil zwar nicht aufhebt, aber Gründe dafür nennt, wieso das Falsche dennoch geduldet werden sollte. (Scheinbar) paradox ausgedrückt: Der Toleranzüberlegung zufolge wäre es falsch, das Falsche nicht zu tolerieren.

Dabei aber ist zu beachten, dass die von der Toleranz vorausgesetzte Ab-lehnung nicht auf gravierenden Vorurteilen oder blindem Hass beruhen darf. Wenn bspw. jemand Menschen mit schwarzer Hautfarbe generell ablehnt, sollten wir ihn nicht zu einer »Toleranz gegenüber anders Aussehenden« auffordern. Denn dann akzeptierten wir sein Vorurteil als ethisches Negativurteil, ähnlich dem der Ablehnung einer anderen Religion. Ein Rassist soll nicht tolerant werden, er soll vielmehr seinen Rassismus überwinden.

Dort, wo die Gründe für die Akzeptanz des Abgelehnten enden, liegen die häufig beschworenen Grenzen der Toleranz. Diese Grenzziehung scheint ganz einfach zu sein: Keine Toleranz gegenüber den Intoleranten! Doch so einfach ist dies nicht, denn allzu leicht schleicht sich in die Bestimmung der Anderen als »intolerant« selbst die eigene Intoleranz ein. Ein kurzer Blick in die Geschichte könnte uns lehren, wie einseitig und willkürlich diese Grenzen oft gezogen wurden.

So denken heute einige (wieder einmal), dass man an die Wurzel der Intoleranz gehen sollte, die nicht mit Toleranz zu überwinden sei, sondern mit der radikalen Kritik jeder Religion: Erst wenn die Religion verschwinde, ende die Intoleranz. Hier aber kann man von der Geschichte lernen, dass solche Versuche nicht nur vergebens, sondern allzu oft selbst versucht waren, eine Ersatzreligion anzubieten, mit verheerenden Konsequenzen. Die Intoleranz gegenüber der Intoleranz schlägt nicht selten in dieselbe um.

Es wäre allerdings wiederum falsch, den Begriff der Toleranz mit dem Hinweis zu verabschieden, eine unparteiliche Grenzziehung, wie der Begriff sie zu fordern scheint, sei eben nicht möglich. Denn bevor man in das freudige Loblied der Unumgänglichkeit der Parteilichkeit und der kämpferischen Verteidigung der eigenen Werte einstimmt, sollte man sich bewusst machen, dass es bei Toleranzfragen wie den eingangs genannten um Fragen der Gerechtigkeit gegenüber Minderheiten geht. Und will man die aufgeben?

Umgekehrt sollte Toleranz nicht uneingeschränkt als etwas Gutes angesehen werden. Sie ist nur gut, wenn ihre Motive gut sind und die Grenzziehung gerechtfertigt ist, ansonsten kann sie eine Reihe von Gefahren bergen. Sie kann etwa denen gegenüber zu nachlässig sein, die keine Toleranz verdienen; sie kann aber auch eine Praxis der Macht sein, die darauf aus ist, Minderheiten unter Kontrolle zu halten und zu stigmatisieren.

Historische Tiefenbohrungen
Es ist daher notwendig, die Komplexität des Begriffs der Toleranz zu sehen, nicht zuletzt wegen der vielen historischen Schichten, die sich in ihm abgelagert haben. So kann Toleranz, man denke etwa an das Edikt von Nantes (1598), aus der Erlaubnis bestehen, die eine Autorität einer Gruppe von Menschen gibt, ihren Überzeugungen gemäß zu leben, solange diese Gruppe nicht die bestehenden Machtverhältnisse in Frage stellt und ihren untergeordneten Status akzeptiert. Dies hatte Goethe vor Augen, als er sagte: »Toleranz sollte nur eine vorübergehende Gesinnung sein: sie muß zur Anerkennung führen. Dulden heißt beleidigen.«

Ähnliches gilt auch noch für eine andere Form der Toleranz, wie man sie etwa im Augsburger Religionsfrieden (1555) findet, aber auch in der Gegenwart (vielleicht irgendwann, mit Glück, in Nordirland oder im Nahen Osten): die Toleranz zwischen zwei ungefähr gleich starken Parteien, die einsehen, dass friedliche Koexistenz die beste Politik für einen Konflikt ist, in dem es keine Sieger gibt.

Auf ein solches hierarchisches oder strategisches Verständnis darf der Begriff der Toleranz aber nicht reduziert werden. Denn er bezeichnet nicht nur eine Praxis politischer Macht, sondern auch eine positive Einstellung von Individuen, eine Tugend. Tolerant zu sein heißt dann, dass man die religiösen Überzeugungen und kulturellen Praktiken anderer, mit denen man keinesfalls übereinstimmt, toleriert, sofern ein Konsens darüber besteht, auf welcher Basis und mit welchen Grenzen dies geschieht.

Die Liste der möglichen Toleranzbegründungen auf der zwischenmenschlichen Ebene ist lang. So bergen die Religionen selbst eine Reihe von Gründen gegen Glaubenszwang: Das Christentum etwa im Gebot der Liebe und der Duldsamkeit, im Gleichnis vom Unkraut (dem zufolge die Gefahr besteht, vor der Zeit den »guten Samen« mit zu vernichten; Matth. 13, 24ff.), in der Lehre von den zwei Reichen, schließlich in der Überzeugung, dass sich das Gewissen nicht zwingen lässt oder dass man es nicht zwingen darf, da der Glaube ein freiwillig zu empfangendes Geschenk Gottes ist und dieser keine geheuchelte Verehrung wollen kann. Andere religiös-humanistische Argumente betonen die tieferen Gemeinsamkeiten zwischen den Religionen und sehen alles darüber hinaus als »Nebensächlichkeit« an, oder man geht im Sinne von Lessings Ringparabel davon aus, dass sich erst am Ende des ethisch-religiösen Wettstreits auf Erden zeigen wird,wer den echten Ring im Besitz hatte.

Die Sache so zu betrachten, kann allerdings wieder zu Fehlern führen. Der erste ist zu glauben, die Toleranz sei ein ureigener Besitz des Christentums. Denn nicht nur findet sich eine Vielzahl von Toleranzargumenten auch in anderen Religionen – etwa im Koran 2/256: »Es gibt keinen Zwang in der Religion.« Unsere Geschichte zeigt vielmehr, dass sich solche Argumente nur mühsam, unter vielen und schweren Kämpfen, Bahn gebrochen haben gegen ebenso viele Gegenargumente, die der christliche Glaube birgt, etwa die Pflicht, den Verirrten zu helfen, deren Seelenheil auf dem Spiel steht, wozu oft das Gleichnis vom »Zwang zum Eintreten« zum bereiteten Mahl (Luk. 14, 16ff.) herangezogen wurde. So sah man sich in der Pflicht, erkennbares Unkraut auszureißen; und auch die Auffassung, dass das Gewissen gegen äußeren Druck resistent ist, wurde mit dem Hinweis auf gelungene Bekehrungen bezweifelt. Zur Erinnerung: Erst in der Erklärung »De libertate religiosa« des Zweiten Vatikanischen Konzils (1965) machte die katholische Kirche ihren Frieden mit dem subjektiven Recht auf Religionsfreiheit. Die Toleranz, so sollte man festhalten, war eher eine Errungeschaft derer, die als »Ketzer« galten, als eine »des Christentums«.

Wichtiger aber noch ist der Fehler anzunehmen, dass religiöse Toleranzbegründungen, so notwendig sie – besonders im globalen interkulturellen Dialog – sind, ausreichen. Denn einerseits finden sie allzu oft ihre Grenze dort, wo die Grundlagen eben dieses Glaubens abgelehnt werden, etwa durch die »Gottlosen« oder, was stets das Schlimmste war, die Häretiker in den eigenen Reihen. Und andererseits dienen sie im interreligiösen Dialog nicht als Grundlage eines normativen Gebots wechselseitiger Toleranz, da die jeweiligen Gründe nicht auf die Andersdenkenden übertragbar sind. Dann bleibt Toleranz eine einseitige Leistung, was Hochmut ebenso mit sich bringen kann wie Demut.

So greift man denn auf »säkulare« Toleranzargumente zurück, etwa das einesPluralismus von objektiven Werten oder das skeptische, das religiöse Absolutheitsansprüche grundsätzlich anzweifelt. Diese Argumente aber sind selbst vernünftigerweise bestreitbar, und sie bergen auch wieder eigene Gefahren zu enger Grenzziehungen und der Intoleranz denen gegenüber, die eben keine Pluralisten oder Skeptiker sind.

Daher bedürfte es einer Toleranzbegründung, die im Streit zwischen Skeptizismus und Religion neutral bleibt und zugleich wechselseitig bindende Grundsätze enthält. Dabei kommt es darauf an, die Endlichkeit der menschlichen Vernunft in Fragen »letzter« Wahrheiten auf eine Weise zu verstehen, die die eigene Wahrheitsauffassung nur soweit relativiert, dass man die Überzeugungen der Anderen zwar nicht als ebenfalls oder gleichermaßen wahr, aber auch als nicht unvernünftig ansieht. Und in normativer Hinsicht bedürfte es einer Einsicht in das Prinzip der Wechselseitigkeit selbst, das von den Bürgern fordert, ihre politischen Ansprüche aneinander mit Gründen zu rechtfertigen, die nicht die partikularen Überzeugungen einer Partei verabsolutieren, sondern wechselseitig akzeptabel sind.

Dasjenige dulden, mit dem man nicht übereinstimmt
Was hieße das in der Praxis? Das bedeutete etwa, dass nicht ein Teil der Bürger, und sei es die Mehrheit, ihre religiösen Symbole per Gesetz in Klassenzimmern öffentlicher Schulen aufhängen und diese Symbole dabei einmal als allgemeine Zeichen der Toleranz und einmal als Ausdruck ihres Glaubens deklarieren kann. LehrerInnen hingegen dürften aus Gründen der Religionsfreiheit und als Ausdruck ihrer ethischen Identität religiöse Symbole tragen, solange ihnen nicht nachgewiesen werden kann, dass diese Praxis negative Konsequenzen für den Schulalltag hat, die der Lehrkraft anzulasten sind (und nicht den Vorurteilen anderer). Der gegenseitige Respekt unter Staatsbürgern bedeutet, dass sie sich in ihren unterschiedlichen kulturellen Identitäten tolerieren und die geltenden Gesetze und Verordnungen daraufhin überprüfen, ob sie »fremde« Lebensformen benachteiligen bzw. unter Generalverdacht stellen. Die Neutralität einer staatlichen Institution kann weder bedeuten, dass Bedienstete, sofern sie ihre Pflicht erfüllen, zu »neutralisierten«, identitätslosen Wesen werden, noch darf sie so ausgelegt werden, dass konventionelle oder »unauffällige« Lebensformen die Norm abgeben und bevorzugt werden. Kulturell oder religiös bedingte Unterdrückung in der Familie oder anderen gesellschaftlichen Bereichen muss freilich, wo immer sie vorkommt, gleichwohl aufgedeckt und bekämpft werden; dies jedoch nicht um den Preis einer doppelten Stigmatisierung der Betroffenen.

Ein weiteres Beispiel: Die Gegner rechtlich anerkannter gleichgeschlechtlicher Lebenspartnerschaften müssten im Sinne demokratischer Toleranz zeigen, dass sie nicht nur versuchen, eine religiös bestimmte Lehre des rechten Lebens zur Grundlage allgemeiner Gesetze zu machen. Sicher, eine bloße »Duldung« homosexueller Paare ohne rechtliche Gleichstellung kann auch »Toleranz« genannt werden, nach Maßgabe des Prinzips der Wechselseitigkeit und des gleichen Respekts wäre dies aber der Ausdruck eines hierarchischen und kritikwürdigen Toleranzverständnisses.

Das Recht auf freie Meinungsäußerung und die Freiheit der Kunst müssen in einer freien und pluralistischen Gesellschaft geschützt werden; auf keinen Fall darf auf geschmacklose und eine Religion verletzende Darstellungen mit Verboten oder Gewalt reagiert werden. Die Gründe für Gewaltausbrüche müssen allerdings sorgsam analysiert werden, denn die Frage der Toleranz steht stets in einem weiteren Kontext der Fairness sozialer Verhältnisse.

Die Toleranz ist eine hohe Kunst, setzt sie doch voraus, dasjenige zu dulden, mit dem man nicht übereinstimmt, auch aus tief empfundenen Gründen heraus. Toleranz heißt nicht, diese Differenz und Ablehnung wegzudrücken, es heißt aber, dass man sie so ausdrückt, dass die Anderen respektierte Gleiche bleiben – auf Augenhöhe, aber nicht ohne wechselseitige Kritik. Keine Gesellschaft hat diesen Lernprozess der Ausbalancierung von Gleichheit und Differenz je abgeschlossen. 



 
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