Das Online-Magazin zur Zeitschrift | HALBJAHRESMAGAZIN polar






polar #3: Religion und Kritik



EDITORIAL

 
Peter Siller, Bertram Keller
Editorial



QUESTIO

 
Steffen Sigmund
Am Kap der guten Hoffnung
Das religiöse Feld als Bühne gesellschaftlicher Konflikte
 
David Strecker
Modernisierung = Säkularisierung?
Betrachtungen zu einer altbekannten Gleichung
 
Stefan Grotfeld, Stefan Huster
Kontroverse: >Öffentliche Religion<
 
Nilüfer Göle
Alla Turca?
Laizität in Frankreich und der Türkei
 
Michaela Schäuble
Die Heilige und ihre Helden
Eine Marienwallfahrt an der kroatisch-bosnischen Grenze
 
Krystian Woznicki
Allahs Themenpark
Pakistans islamische Utopie des Massentourismus
 
 

Steffen Stadthaus

Im Vorortzug Richtung Brooklyn

Auf der Suche nach authentischer Jiddischkeit


Lange war Assimilation das große Ziel der in die USA eingewanderten Juden und ihrer Nachfahren. Jetzt beruft sich wieder eine lebendige, junge Bewegung selbstbewusst auf jüdische Eigenheiten und Traditionen und zwar ganz ohne leidenden Unterton.

Auch wenn es komisch klingt: Jüdisch-Sein ist für manchen in der Trendmetropole New York das »next-hip-thing«. Überall zwischen Lower East Side und Brook¬lyn-Williamsburg basteln jüdische Hipster eifrig an ihren eigenen Prototypen einer jüdischen Identität für das 21. Jahrhundert. In den letzten Jahren ist so eine vitale Szene entstanden. Die »New Jews« publizieren trendige Magazine, drehen Filme über Superjuden, treffen sich zum »Storahtelling« auf Synagogendächern, tanzen zu Klezmer-Punk und tragen T-Shirts mit markigen jiddischen Slogans. Zur »Szene« zählen Autoren wie Nathan Englander, Musiker wie SoCalled und Balkan Beat Box, Magazine wie Heeb und Zeek, Websites wie Jewschool und Filmemacherinnen wie Irit Reinheimer, die gerade die programmatische Dokumentation »Young, Jewish and Left« abgedreht hat. Vorbilder haben die neuen Heeb-Jünger auch. Sie heißen John Zorn, Klezmatics oder Harvey Pekar. Musiker und Künstler, die schon Ende der 1980er Jahre begannen, auf eine zeitgenössische Weise mit jüdischen Kulturtraditionen zu experimentieren. Auf »zeitgenössisch« liegt die Betonung, denn Ghettoromantik und Stetl-Kitsch sind für die Trendsetter ein rotes Tuch.

Die »New Jews« sind eine Antwort auf die übertriebene Assimilation ihrer Elterngeneration, sagt Josh Neumann, Herausgeber des Heeb-Magazins, das so etwas wie die heilige Schrift der Bewegung ist. Neumann meint die radikalen Wandlungsprozesse, die die jüdischen Milieus in den USA in den letzten Dekaden erlebten. Soziologen sprechen von einer Suburbanisierung und Assimilierung der zweiten jüdischen Migrantengeneration an die »weiße Mittelklasse«. »Unsere Eltern flohen aus den jüdischen Emigrantenvierteln der Großstädte in die Vorstadt und begannen dort, ihre jüdische Identität zu verheimlichen.« Neumann hat als schlagendes Beispiel die Kultur der »nosejobs« für seine These parat. In den siebziger und achtziger Jahren, sagt Neumann, musste selbst die Nase den regionalen Standards der WASPs entsprechen, um nur nicht aufzufallen. Jüngst hat die Filmemacherin Tiffany Shlaine in ihrem Film »The Tribe« ironisch mit dieser Überassimilierung abgerechnet. Der Film ist eine »Barbie-Austreibung«: eine kritische Spurensuche nach den verheimlichten jüdischen Wurzeln des blonden Traumdolls, das die Kinderzimmer der Welt eroberte. Denn obwohl die Barbie-Erfinderin Ruth Handler, selbst Jüdin, ihrer revolutionären Puppenkreation den Spitznamen ihrer Tochter Barbara zudachte, gestaltete sie das Püppchen symptomatischerweise so, als wäre es dem Lebensborn entsprungen.

Eine lebendige, spezifisch jüdische Kultur sei in diesem Klima auf der Strecke geblieben, findet Neumann. »Uns ist klar geworden, dass wir ein Manifest für eine neue Renaissance des jüdischen Lebens brauchen. Das ist Heeb geworden«, sagt er mit Emphase. Religiös soll das aber nicht daherkommen. Im Gegensatz zum chassidischen Popstar Matisyahu, dem von Heeb promoteten ersten Reggaesänger mit wirbelnden Schläfenlocken und schwarzem Kaftan, will Neumann lieber an die Tradition der sozialistischen »Jiddischkeit« der Theaterszene der Lower East Side, an den großen Komiker Lenny Bruce oder an Comic-Artisten wie Harvey Pekar anknüpfen. Der religiöse Selbstfindungstrip des Vorstadtrebellen Mathew Miller, der vor ein paar Jahren zu einer halbstündigen S-Bahnfahrt nach Brooklyn aufbrach und zu Matisyahu, dem Lubavitscher Chassiden und später zum Popsänger wurde, ist auch für Neumann ein Kuriosum. Eine Synagoge habe er noch nie von innen gesehen, sagt er und schmunzelt.

Jews kick Ass
Die »New Jews« drehen das Rad der Geschichte – reflektiert wohlgemerkt – ein wenig zurück. So wie Anette Ezekiel, die Sängerin der Klezmer-Punkband Golem. Die New Yorker Musikerin hat es sich zur Lebensaufgabe gemacht, alte jiddische Lieder vor dem Vergessen zu retten. Seit Jahren durchstreift Ezekiel die Altersheime rund um New York und Miami und lässt sich Volkslieder vorsingen, die sie dann mit ihrer Band Golem neuarrangiert und mit zeitgenössischen Stilen kreuzt. Dem Klezmer bleibt Golem auch in einer anderen Tradition treu. Neben gefeierten Auftritten in der »Knitting Factory«, beim SXW-Festival in Austin oder der Fête de la Musique in Paris bespielen sie jüdische Hochzeiten und Bar-Mizwa-Feiern von Brooklyn bis Queens.

SoCalled, der nächste Star am jüdischen Pophimmel, dessen letzte CD die deutschen World-Music-Charts erklomm, beschreibt sich selbst als einen Soundarchäologen. Auf »The So Called Seder« mixt er jiddische Klassiker mit zeitgenössischer Elektronik und Hip-Hop Beats, was dann klingt wie die jiddische Version von Kruder und Dorfmeister. Gerade schippert SoCalled mit David Krakauer von den berühmten Klezmatics auf einem Ausflugsdampfer die Donau von Kiew bis Odessa hinunter: zu den Geburtsorten der Musik. Heritage-Tour nennen die Musiker die Reise, die vom kanadischen Fernsehen dokumentiert wird. Solche Reisen in die jüdische Vergangenheit sind »in« unter »jungen Juden«.

Bis nach Odessa schaffen es zwar die wenigsten »New Jews«, aber zumindest in die Stadtviertel von Brooklyn und Manhattan, in denen ihre Vorfahren einmal strandeten, zieht es die Vorstadtkinder zurück. Bittere Ironie der Geschichte: Heute geraten die Nachkommen der »Jiddischisten« in Stadtvierteln wie Williamsburg mit traditionellen Chassiden in Konflikt, deren gewachsene Sozialstrukturen aufgrund der steigenden Immobilienpreise gefährdet sind. Schon gibt es Proteste gegen die neue jüdische und nicht-jüdische Boheme in Brooklyn. Dass man jetzt auch in den trendy Cafés und Bars wieder das totgeglaubte Jiddisch vernehmen kann und Hipster sich Wörter wie »schlapp« und »meschugge« um die Ohren hauen, ist für die sozial randständige, jiddischsprachige Community der Chassiden kein Trost.

Am offiziellen Judentum nervt viele »jüdische Hipster« nicht nur die konservative Langeweile, der Vorstadtgeruch und die »nosejob«-Kultur, sondern auch die Neigung, sich noch immer als potenzielles Opfer zu stilisieren. Hasdai Westbrook, freier Journalist und ehemaliger Herausgeber des nationalen jüdischen Studentenmagazins New Voices, kritisiert vor allem die identitäre Fixierung auf Israel und den Holocaust. Man mache es sich in einer virtuellen Ghettomentalität bequem, um unliebsamen Fragen über die Zukunft des amerikanischen Judentums aus dem Weg zu gehen, lautet seine Diagnose. »Warum sollen wir so weitermachen, als säßen wir zwischen lauter Antisemiten?«, fragt er. Statt der ängstlichen Einigelungstaktik, die sich gegen »intermarriages« oder gleichgeschlechtliche Partnerschaften richtet, sollte sich das offiziöse Judentum den neuen Realitäten einer multikulturellen Gesellschaft öffnen, findet Westbrook.

»Jews kick Ass« schreit es einem stattdessen von Heeb-T-Shirts entgegen. Anstelle ödipaler Verzweiflung, wie man sie von jüdischen Antihelden wie Alvi Singer oder Alexander Portnoy kennt, betreibt Heeb ein subtiles Spiel mit den jüdischen Stereotypen. Zum Beispiel präsentiert das Magazin seinen Lesern die ersten Muskeljuden seit Max Nordau. Oder macht Schluss mit der Barbieisierung jüdischer Schönheitsvorstellungen, indem es in einer Fotostrecke die klassischen Stereotype jüdischer Physiognomien feiert, die man sich, im Zeichen der Assimilation, vor zwanzig Jahren aus dem Gesicht operierte. Dass unter den Models sich auch mancher »Gojim« befindet, gehört zum Spielerischen des Konzepts dazu.

Reine MTV-Anbiederung?
Heeb ist selbstbewusst, ironisch, überheblich und ganz viel Mittelklasse. Konzentriert findet man hier die Erfahrungen einer jüdisch erzogenen »Generation Golf«. Statt an Nutella erinnern sich die Autoren an Urlaube in den Catskill Mountains, an kultige Mazzes und osteuropäischen Pflaumenschnaps. Protest erntet die Softporno-Ästhetik des Hefts höchstens noch von der notorischen »Anti-Defamation League«, die Heeb-Ausgaben als Affront gegen die Sittlichkeit betrachtet.

Wütende Kritik kommt aus einer ganz anderen Richtung. Der linke jüdische Kultur- und Kult-Kritiker Douglas Rushkoff wettert seit Jahren in polemischen Tiraden gegen jüdisches Establishment, jüdische Neocons und gegen Heeb und andere jüdische »Life-Style-Hipster«. Der Titel seiner manifestartigen Neubestimmung des Judaismus lautet programmatisch »Nothing Is Sacred«. Die einen halten Professor Rushkoff für einen neuen Martin Buber, die anderen für einen Nestbeschmutzer und »jüdischen Selbsthasser«. Für Rushkoff, der mit seiner schwarzen Lederjacke bekleidet aussieht wie eine Mischung aus Woody Allen und Altpunk, sind die Heeb-Macher nichts anderes als hippe Neofundamentalisten. »Sie geben sich modern, machen coole Musik oder Kunst, glauben aber, dass Judaismus eine Rasse oder Ethnie ist«, sagt Rushkoff. Er vergleicht die »New Jews« daher mit anderen religiösen Fundamentalisten wie den Christenrockern von P.O.D., gibt aber zu, dass sie wenigstens ein bisschen lockerer daher kommen. Ziel sei die Werbung für eine jüdische Sache, die sich nicht grundsätzlich von den Zielen großer amerikanischer Organisationen wie dem »American Jewish Committee« unterscheide. Außerdem sei die Anbiederung an die MTV-Kultur lächerlich. Rushkoff selbst begreift Judaismus als eine antiikonographische »Open Source«-Religion, die ihre beste Entsprechung im Punk-Slogan »kill your idols« hat. Er beruft sich auf Freud, Einstein und Marx.

Rushkoffs Urteil ist sicher überspitzt. Steckt trotzdem ein Kern Wahrheit in seinen Vorwürfen? Betreiben die Heeb-Juden eine fundamentalistische Identitätspolitik, verabschieden sie einen universalistischen Ansatz, wie ihn die jüdische Linke der 1960er und 1970er Jahre noch hatte? Nicht wirklich. Dafür sind Heeb und andere zu ironisch, zu multikulturell, zu viel Pop. Denn in ihrem Herzen sind sie MTV-erprobte Vorstadtkinder mit jüdischem Background geblieben, die in den gentrifizierten ehemaligen Emigrantenvierteln von den aufregenderen Zeiten des amerikanischen Judentums träumen. 



 
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