Daniela Dröscher
Vom Äußeren zum Inneren zum Äußeren
der Kuh
Epiphanien des Sitzens
»I’ve got two tickets to a midnight execution / We’ll hitch our way from Odessa to
Houston / and when they turn on the chair / something’s added in the air / when
they turn on the chair / something’s added in the air forever.« (The Silver Jews)
Kennen Sie den Geruch eines verbrannten Fingernagels?
Die Glut, die sich in die zu Horn gewordene Haut frisst, sie braun färbt, erzeugt ein fremdes, würziges Aroma. Letzthin beim Schreiben blieb, da ich die Zigarette ungeschickt ausdrückte, ein Stück Glut am Nagel meines Zeigefingers kleben. Am Computer sitzend einen Teil des eigenen Körpers verglühen zu sehen, ist eine Konstellation, die das Archaische in der modernen Technik aufspringen lässt, einen magischen Moment von (Un-)Gleichzeitigkeit preisgibt.
Im Konzentrationslager Buchenwald gab es einen Zoo.
Als ich durch Buchenwald ging, sagte man mir diesen Satz. Der Satz legte sich wie ein Gitter über alles, was ich sah. Ich vergaß ihn, bis er aus meinem verbrannten Fingernagel wieder hervor gekrochen kam.
Diesen Satz im Sitzen zu schreiben kommt mir obszön vor. Der Stuhl, auf dem ich sitze, riecht plötzlich nach Macht.
Im Täterbereich Buchenwalds gab es Stühle, viele Stühle, im Opferbereich hingegen kaum, »Jedem das seine« steht über dem Haupteingang. Ich bin unentschieden, was mehr Scham bei mir erzeugt: der unsichtbare Zoo oder dieser sichtbare Satz. Das erste Bild, das mir beim Wort Scham in den Sinn kommt, ist Willy Brandts kniende, mit gefalteten Händen erbetene Vergebung vor dem Warschauer Ehrenmahnmal. Beten und Knien sind religiöse Gesten, doch scheint die Scham, diese reine, leere Form, sie mit der Religion zu teilen.
In Buchenwald gibt es eine in den Boden eingelassene Gedenktafel, deren Stein stets auf eine Temperatur von 37° Celsius erwärmt ist.
Ich, die ich selten knie und nie bete, sitze ausgiebig: an Schreibtischen, in Cafés. Manchmal, wenn ich einen freigewordenen Platz in der U-Bahn einnehme, ist einen Moment lang noch die Körperwärme eines Anderen zu spüren, bevor meine eigene sie zu verdrängen beginnt.
Das Sitzen bringt den Körper in eine zweiwinklige Haltung; es befördert die Konzentration auf Geistiges, die den Gebrauch des Körpers minimiert. Diesen vergessenen Gebrauch inszeniert das Genre des Musicals. In dem Film Dancer in the Dark wird die Akkordarbeit der Angestellten Selma durch heitere Tanzsequenzen unterbrochen. In ihrer liebenswerten Naivität ist Selma: Jesus und Idiot, heilig und ausgestoßen.
Auch Lesen und Schreiben zehrt von dieser Paradoxie; erfordert es doch Stille, Vereinzelung. Bedauerlicherweise ist die Akrobatik, die man einst im Lesen praktizierte – das gemeinsame, stehende, singende Lesen – , fast gänzlich verschwunden. Vielleicht weil es diese Vereinzelung aufhebt, liebe ich das Theater: jenes Ineinander von Sprache und Körper, das man gemeinsam mit anderen erfährt, und das darin der religiösen Erfahrung ähnelt. Religion heißt auch communio, und Gemeinschaft ist etwas, was ich mehr und mehr zu vermissen beginne.
Wenn ich sage, dass das Theater mich etwas erfahren lässt, was ursprünglich der Sphäre der Religion angehörte, so meine ich damit vor allem ein solches Theater, das an Dinge des Wirklichen rührt, es nicht zustellt mit Bedeutung, Psychologie.
Der Bühnenbildner Bert Neumann war der erste, der einen Monoblock-Stuhl auf eine Theaterbühne stellte und also begann, sie mit Dingen des Wirklichen zu bevölkern. Der Stuhl hat seinen Ursprung im Thron, der Thron seinen Ursprung im Opferstein, auf dem lange Zeit ausschließlich Menschenopfer vollbracht wurden. Als man das Menschenopfer durch das Tieropfer ersetzt, spaltet sich der Stein auf in Tisch und Stuhl. Dem Stuhl haftet also nicht nur schon immer die Spur der Gewalt an, sondern auch ihre Verschiebung vom Menschen auf das Tier.
Der demokratische Imperialismus des Stuhls ist eine Signatur des Bürgertums
Zu den Privilegien, die man während der Französischen Revolution erkämpfte, zählt auch das Stuhlsitzen. Ihm haften Errungenschaften wie Gleichheit und Redefreiheit an. Ohne Stühle gäbe es keine Tische, niemand könnte sich um sie versammeln, von ihnen erheben.
Aufstand definieren Historiker als eine gescheiterte Revolution. Bis zum 11. September wäre man sich einig gewesen darüber, dass der Kapitalismus als ein Transzendental obsiegt hat, als ein Innen, zu dem es kein Außen gibt.
Wer angesichts der Reduktion des Menschen auf seine Ausprägung als homo oeconomicus den Widerstand sucht, braucht Verbündete, eine Bewegung. Nicht zuletzt weil Gemeinschaften mir Angst einjagen, schreibe ich wahrscheinlich lieber, als dass ich spreche. An Diskussionen überfordert mich das kommunikative Gesetz des (schnellen, reibungslosen) Verstehens; ich fühle mich wie ein zeitverzögerter Alien.
Das mag daran liegen, dass das Verstehen eine gewisse Ignoranz gegenüber dem Anderen der Sprache bedeutet: der Stimme, Mimik, Gestik. Wenn man aber das Sprechen als ein verkörpertes reklamiert, kann man sich getrost in die Arena des Denkens werfen. Dort gibt es zum Glück nicht nur die Sprache wie ein Raubtier im Zaum haltende Dompteure, sondern Akrobaten, die sich an ihrer Außenseite, der aisthesis, entlang tasten: ein Tier, das sie fliegen macht, und es und sich im Flug verlierend.
Auch Foucaults Figur der Affirmation ist eine Denkfigur, die kontrapunktisch zum Diskursiven agiert und so die Erfahrung des Göttlichen zurück ins Herz der Philosophie zu bringen versucht.
Ähnlich gibt es bei Giorgio Agamben die Utopie der »beliebigen Singularität«: also die ununterbrochene Emergenz eines Unteilbaren, das sich der sprachlichen Repräsentation entzieht. Die Singularität reklamiert, im Gegensatz zur Identität, nicht eine »richtige« Repräsentation aufgrund bestimmter Prädikate, sondern die Achtung, Liebenswürdigkeit aufgrund ihres So-Seins.
Utopien wie diese gelten leicht als pathetisch, oft auch: naiv. Schließlich lebt man in einem trostlosen Stadium der Geschichte, einer Negativität ohne Beschäftigung. Vielleicht ist zur Überwindung dieses Geschichtsendes eine Naivität jenseits von Differenzen, Parenthesen vonnöten. Arno Schmidt bezeichnet die Klammer, also das nicht-alphabetische Zeichen der Parenthese, als »die stilisierte Hohlhand, hinter der man additional-geheimes flüstert«. So gerne ich in diesem grazilen Inneren lebe, sehne ich mich manchmal nach seinem Außen (von dem ich weiß, dass es sich zur Faust krümmen kann). Nach einer Kraft, die, ungeachtet der eigenen Verstrickung, einen Ausweg aus der Totalität verspricht.
In Songs from the Second Floor, einem Film von Roy Anderson, ist die Liebe jene Kraft, die den Zirkel aus Kapitalismus und Depression zu unterbrechen vermag. Glaube und Liebe gemeinsam ist ihre Weigerung, die Grenzen der Realität anzuerkennen: Ihre obskure Mischung aus Demut und Obsession, die Hingabe an etwas, das stets die Spur eines (Außer-)Ordentlichen trägt. Eine der schönsten Szenen des Filmes ist die, wo ein Mann und eine Frau Blockflöte zusammen spielen. Das Spiel erinnert an Hermes’ Flöte, deren Klang den panoptischen Argus zum Weinen bringt, ihn blendet, entmachtet.
Gerade der Konnex von Kirche und Kapital erschwert diese Entmachtung: vergilbte, trostlose Figuren schleppen Kruzifixe, unter deren Gewicht sie zu zerbrechen drohen, durch apokalyptische Straßen. Dass ihnen das Gehen schwer fällt, liegt nicht zuletzt an jener kirchlichen Doktrin, die im Film leitmotivisch zur Unterwürfigkeit gemahnt:
»Nur wer sich hinsetzt, wird geliebt.«
Das Motiv des Sitzens spielt in der christlichen Religion eine wichtige Rolle. Der Tragsessel des König Salomos ist aus silbernen Füßen gefertigt, einer Lehne aus Gold, einem Sitz aus Purpur; die Offenbarung des Johannes verspricht den Sitz auf dem Thron bis in alle Ewigkeit.
Auch in dem Kinderspiel »Die Reise nach Jerusalem«, das inspiriert ist vom Zug des Volkes Israel durch die ägyptische Wüste, muss man einen Stuhl erkämpfen. Es geht darum, dass man beim Erklingen eines Signals schnell einen Platz einnimmt; einer der Mitspieler bleibt übrig, ist ausgeschlossen.
Ist die Wüste hier eine menschenfeindliche Sphäre, so figurieren die Dichtungen Ingeborg Bachmanns sie als den Ort der Poesie. Denken und Schreiben kennen, so auch Deleuze, weder Ursprung noch Transzendenz: sie kommen »aus wandelnden Wüsten der Immanenz«. Wie erreicht man es, schreibend, das Wirkliche? Manchmal sitze ich am Schreibtisch und fühle die Furcht, dort sitzend, die Berührung mit der Wirklichkeit zu verlieren. Seinen Stuhl vom Schreibtisch fort, hinaus tragen zu wollen ist ebenso naiv wie vergeblich. Stets braucht man, um zu schreiben, das ABC, diese die Zeit und Raum zerteilende Haut, unter die zu schlüpfen in der Erfahrung des Hier und Jetzt nicht möglich ist. Gleichwohl sind Kraft des Imaginären die Gesetze des Realen aufgehoben.
Kunst schafft Begegnungen mit einem Anderen, das wirklich und unwirklich zugleich ist. Ähnlich ist nach Lévinas im Gesicht eines Menschen Gott als jene anders bleibende Andersheit anwesend: als eine Spur, die zur Ethizität gemahnt.
Ist also Religion die Bedingung von Humanität? Oder ist sie ein Kreuz, ohne das im Rücken wir menschlicher wären? In Andersons Film landen die Kruzifixe in einer gigantischen Müllkippe, an deren Rändern Menschenopfer vollbracht werden. Dieser Chiasmus des Religiösen zwischen Humanität und Inhumanität erinnert an Derridas paradoxe Aporie der notwendigen und zugleich unmöglichen Gemeinschaft. Wenn Derrida fragt, »wer könnte je ein ›wir‹ wagen, ohne zu zittern?«, beharrt er darauf, Gemeinschaft aufgrund ihrer epistemischen, existentiellen und normativen Unvollkommenheit als etwas Durchlässiges, zu Knüpfendes zu denken, nicht als etwas, das sich über Kategorien wie Ethnizität oder Nationalität stabilisiert.
Einer Wendung Lévinas’ zufolge aber wird die ganze abendländische Philosophie »Egologie« bleiben, solange sie das (denkende) Ich ins Zentrum aller Überlegungen stellt, anstatt vom Anderen her zu denken. Oder vielmehr: anstatt ihn wahrzunehmen.
Das englische Wort für Stuhl, chair, hat das gleiche Schriftbild wie das französische Wort für Fleisch, und das »Fleisch der Welt« ist in der Phänomenologie Merleau-Pontys eine Metapher für die Materialität der Phänomene.
Dass auch der Mensch dieses Fleisch ist, wird gern verdrängt, vorzugsweise über die Abgrenzung zu anderem Fleisch, dem Tier. In ihrer Überzeugung, dass der Mensch stets im Zentrum aller Dinge zu stehen habe, sind westliche Gesellschaften Fundamentalisten.
Vielleicht ist der Mensch, der nur noch sitzt und denkt, der homo sedens, der gefährlichste Vierbeiner auf diesem Planeten geworden.
Die Tiere in »Animal Farm« geben wenig Anlass zu Optimismus, was das revolutionäre Potential der Vierbeiner betrifft. Die Tiere aber sind hier lediglich Allegorien für die Schattenseiten des real existierenden Kommunismus; Elias Canetti hingegen denkt vom So-Sein echter Tiere her, wenn er sich fragt, wann endlich die Tiere das Schießen lernen.
Dass die Grenze zwischen Mensch und Tier im Menschen selbst verläuft, dafür ist der Zoo von Buchenwald ein Emblem schlechthin. Kunst und Glauben gemeinsam ist es, Passionen, Sinnen Raum und Rahmen zu geben: auf die Gefahr hin, dass die Grenze zum Tier poröser wird. Als Foucault 1966 schrieb, dass der Mensch in Bälde wie Sand am Meer hinweggespült würde, imaginierte er vielleicht nicht so sehr die Auslöschung unserer Gattung, sondern vor allem den Verlust der diskursiven Modalität von Sprache. Übrig blieben dann mimische oder klangliche Zeichengebärden. Womöglich also bliebe alles andere, die Kunst, die Liebe, das Spiel erhalten.
»Vielleicht spielt sich alles in einer Kuh ab« (Gellu Naum). Seit ich diese Zeile las, lebe ich in einer Kuh. Die Kuh ist nicht golden, keine Metapher, sondern ein echtes Tier, das Sonne braucht, Luft, eine Wiese mit Gras. Dort liegt sie, rund, glücklich, ein Seegetier zwischen Steinen. Im Inneren der Kuh ist es warm, dunkel; man muss sich seiner Hände und Sohlen erinnern.
Das deutsche Wort »Kuh« hat das gleiche Lautbild wie das japanische Schriftzeichen für Leere, das »ku« ausgesprochen wird, und das im Buddhismus als die höchste Stufe der Befreiung gilt. Tucholsky moniert einmal über den Essay, dass er so tue, »als habe er gerade mit Buddha gefrühstückt, dürfe uns aber nicht mitteilen, was es zu essen gegeben hat, weil das schwer geheim sei«.
Mein Frühstück wusste nur so ungenießbare Dinge zu servieren wie brennende Fingernägel und verratenes Fleisch. Das nächste Mal sitze ich mit Leichterem zu Gericht. Dann werden wir fliegen. Versprochen.