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polar #3: Religion und Kritik



EDITORIAL

 
Peter Siller, Bertram Keller
Editorial



QUESTIO

 

Steffen Sigmund

Am Kap der guten Hoffnung

Das religiöse Feld als Bühne gesellschaftlicher Konflikte


Lange Zeit galt es als gewiss, dass Religion und religiöse Orientierung für die alltägliche Lebensführung der Menschen ihren Einfluss verloren haben. Nun ist Religion in den öffentlichen Diskurs zurückgekehrt. Was ist geschehen?

Religionsphilosophie, Religionspsychologie und Religionssoziologie bildeten zu Beginn des 20. Jahrhunderts die wissenschaftliche Trinität der Religionskritik und in Verbindung mit der gesellschaftlichen Modernisierung mündete dies in der Dia¬gnose eines unumkehrbaren Säkularisierungsprozesses. Gott ist tot (Nietzsche), Religion als kollektive Kindheitsneurose und Illusion entlarvt (Freud) und die religiös motivierten Handlungsorientierungen transformierten sich in ökonomische Interessen, so dass der moderne Mensch im stahlharten Gehäuse des Kapitalismus gefangen ist (Weber). Die Beschäftigung mit Religion war überflüssig geworden, Religiosität aus der öffentlichen Wahrnehmung verschwunden.

Keine 100 Jahre nach diesen Lobgesängen auf die Entzauberungskraft der Aufklärung und den damit verbundenen Abgesängen auf Sinnstiftung durch religiös transzendente Orientierungen, lässt sich nun aber seit geraumer Zeit eine weitreichende Renaissance religiös motivierter Handlungs- und Aus-drucksformen beobachten. Religion scheint en vogue: Die Feuilletons bedienen regelmäßig die vermeintliche Nachfrage nach Orientierung, der Suhrkamp Verlag, lange Zeit verlässlicher Hort kritischer Aufklärung, gründet gar einen Verlag der Weltreligionen, in dessen Zentrum die Neuübersetzung der heiligen Schriften der Weltreligionen stehen. Nationale und globale Kirchentage und Papstbesuche entwickeln sich zu kaum mehr überschaubaren Massenversammlungen, die die unterschiedlichsten sozialen Gruppen mobilisieren. Und die Transformationsprozesse in Osteuropa sind ohne den Verweis auf die Rolle von Religionen und Kirchen als Ausgangspunkt oppositioneller politischer Bewegungen nicht rekonstruierbar. Mit der politikwissenschaftlichen Diagnose Samuel Huntingtons, wonach im 21. Jahrhundert sozialer Wandel nur mehr als Folge der Konflikte zwischen unterschiedlichen Kulturkreisen denkbar ist, und die Religion die zentrale Kraft darstellt, die die Menschen motiviert und politisch mobilisiert, erlangte die These der Rückkehr der Religion schließlich wieder öffentliche Diskurshoheit. Wenngleich meist kurzschlüssig mit der These des Kampfes der Kulturen verknüpft, markiert der 11. September 2001 oder der Mord am niederländischen Filmemacher Theo van Gogh schließlich eine neue Qualität religiös imprägnierter politischer Auseinandersetzungen. Zwar oszilliert die Debatte darum, entweder den religiösen Islamismus in Kollektivhaft zu nehmen oder eine westliche Paranoia zu konstatieren. Ihr eigentlicher Kern besteht darin, sich klar zu machen, dass es sich um religiös motivierte und symbolisch überhöhte Taten handelt, die permanent in Erinnerung zu rufen und dramatisierbar sind, deren weitreichende gesellschaftliche Folgen eine distanzierte politische Debatte erschweren. Der lange Zeit mit dem Pathos wissenschaftlicher Gewissheit unterfütterten Analyse des Endes bzw. Sterbens der Religion steht somit gegenwärtig eine ebenfalls überhöhte und medial dramatisierte Diagnose ihrer Wiederauferstehung gegenüber.

Säkularisierung und Rereligionisierung
Das Verschwinden wie auch die Rückkehr der Religion sind eng verknüpft mit der Wahrnehmung religiösen Handelns und den sozialen Bedingungen dieser Sichtbarkeit. Fokussiert man den Blick etwa auf Deutschland, so scheint die Gegenwart der Religionen ungünstig. Die Teilnahme der Bevölkerung am religiösen Leben schwindet seit 40 Jahren kontinuierlich. Konnte etwa die katholische Kirche ihre Mitgliederzahl nur aufgrund von Zuwanderungsprozessen weitgehend stabil halten, so schrumpft die evangelische Kirche. Der Höhepunkt an Kirchenaustritten zu Beginn der 1990er Jahre (ca. 350.000 Kirchenaustritte pro Jahr) ist zwar überwunden, doch 2004 waren es immer noch 140.000 Menschen. Deutlicher sind die Zahlen beim Blick auf traditionelle religiöse Praxen wie Taufe, kirchliche Eheschließung oder Gottesdienstbesuch. Auch hier wird die Tendenz zur Entkirchlichung des alltäglichen Lebens deutlich. Wenngleich man den Geburtenrückgang und die Verminderung an standesamtlichen Trauungen berücksichtigen muss, zeigt sich doch, dass nurmehr die Hälfte, teilweise sogar nur noch ein Drittel der Kirchenmitglieder diese Praktiken ausüben. Die sich hieran dokumentierende Bindungsschwäche der beiden christlichen Kirchen scheint aber nicht nur ein deutsches, sondern ein europäisches Phänomen zu sein. Trotz regionaler Unterschiede schwindet die Bedeutung der christlichen Kirchen europaweit sichtbar.

Öffnet man die Perspektive nun aber über Europa hinaus, so zeigt sich ein grundlegend verändertes Bild. Weltweit nimmt die Zahl der Gläubigen zu. Glaubt man den Religionswissenschaftlern so soll es gegenwärtig fast 10.000 eigenständige Religionen geben – Tendenz steigend. Gegenüber 1.800 Konfessionen um 1900 kennt das Christentum zur Jahrtausendwende ca. 30.000, wobei dieser Pluralisierungs- und Ausdifferenzierungsprozess die religiöse Situation in den USA widerspiegelt, wo Religion sich weniger kirchlich monopolistisch als vielmehr sektenförmig plural organisiert hat. Diese Religionsgemeinschaften oder Denominationen basieren hier auf freiwilliger Mitgliedschaft und diese Freiheit eröffnet die Chance, verschiedenartigsten religiösen Überzeugungen und Praktiken einen eigenständigen organisatorischen Rahmen zu bieten. So stellen etwa die im fundamentalistischen American Council of Christian Churches oder im liberal dominierten National Council of Churches organisierten vielfältigen Religionsgemeinschaften Beispiele für die zunehmende Individualisierung und Vervielfältigung religiöser Formen dar. Auch die quantitative Zunahme neuer religiöser Bewegungen dokumentiert diese enorme Dynamik. So sollen Schätzungen zufolge den vor allem in Südamerika und Teilen Afrikas besonders schnell anwachsenden christlichen Pfingstkirchen und deren charismatischen Untergruppierungen mittlerweile fast eine halbe Milliarde Menschen angehören, der Islam zählt ca. 1,2 Milliarden Gläubige Muslime und expandiert rasant und auch die Sufiorden in Indien binden mittlerweile ca. 50 Millionen Mitglieder an sich.

Pluralisierung und Vermarktlichung
Hinsichtlich der sozialen Bedingungen von Religion verweisen diese Entwicklungen auf zwei strukturelle Veränderungen. Zum Einen zeigt sich, dass es in der Moderne im Zuge vielfältiger Differenzierungs- und Pluralisierungsprozesse zu einer Entmonopolisierung religiöser Institutionen gekommen ist. Dies geht zum Anderen mit einer Vermarktlichung religiöser Angebote einher. Die Existenz offener Märkte, mit einer Vielzahl konkurrierender Anbieter, ermöglicht ein sehr viel höheres Maß an individueller religiöser Partizipation, als dies unter monopolistischen Strukturen noch möglich war. Je größer das Spektrum an Wahlmöglichkeiten für den homo religiosus ist, der über seine religiösen Präferenzen unabhängig von tradierten Vorstellungen frei entscheiden kann, desto größer ist auch die Wahrscheinlichkeit, dass er diese religiösen Angebote konsumiert.

Und auch die Annahme, dass die weitreichende Pluralisierung der Religion Ausdruck ihrer Transformation in den Bereich der Privatsphäre ist, ihr sukzessives Verschwinden aus der öffentlichen Wahrnehmung ihre zunehmende »Unsichtbarkeit« (Luckmann) anzeigt, scheint sich in den letzten Jahrzehnten nicht mehr zu bestätigen. Im Gegenteil, religiös motivierte Handlungen und Ordnungsvorstellungen bestimmen in vielfältiger Weise den öffentlichen Diskurs der letzten Jahrzehnte. Wie das?

Politisierung und symbolisches Kapital
Die Deprivatisierung der Religion zeigt sich vor allem an der Entstehung einer Vielzahl sozialer Konflikte im Zusammenhang mit religiösen Praktiken. Gleich, ob etwa – wie es die hitzigen Debatten um den Bau von Moscheen und Minaretten deutlich macht – religiös fundamentalistische Bewegungen auf der Grundlage ihrer Symbolwelten politische Ordnungsentwürfe durchzusetzen suchen, oder ob mit Blick auf das individuelle Recht der Meinungsäußerung und der Religionsfreiheit das Tragen von Kopftüchern bzw. das Anbringen von Kruzifixen in süddeutschen Klassenzimmern eingefordert wird: Der Bereich des Religiösen wird zunehmend zu einer Bühne der Darstellung sozialer Differenzen und gesellschaftlicher Konflikte. Wie es scheint, strahlt die Dynamik des »religiösen Feldes«(Bourdieu), die in dem dauernden Kampf zwischen den religiösen Produzenten um die legitime Macht und das Deutungsmonopol über die Lebenspraktiken besteht, gegenwärtig in erhöhtem Maße auf eine Vielzahl gesellschaftlicher Bereiche aus. Politisch rechtliche Diskurse etwa über die Legitimität von Sterbehilfe, den Einsatz von medizinisch-(gen)technischen Verfahren am Beginn des Lebens oder prinzipielle bioethische Überlegungen werden zunehmend durch religiös legitimierte Argumentationsstrategien überlagert. In den gegenwärtigen gesellschaftlichen Anerkennungskämpfen verspricht demnach der Rekurs auf das symbolische Kapital der Religion eine besondere Erfolgschance zur Interessendurchsetzung. Und so stellen angesichts der Tatsache, dass laut einer Umfrage gegenwärtig über die Hälfte der Deutschen daran glaubt, dass die Erde durch eine höhere Macht erschaffen wurde, selbst Lehrpläne an deutschen Schulen plötzlich ein besonders umkämpftes Terrain dar. Es überrascht auch nicht mehr, dass die lange Zeit auf fundamentalistische Kreise Amerikas eingeschränkte Debatte, ob im Biologieunterricht nicht die Darwinsche Evolutionstheorie durch kreationistische Überlegungen »sinnvoll« ergänzt werden könne, plötzlich in der hessischen Bildungs- und Schulpolitik wiederkehrt. Ursprung und Entwicklung des Lebens sind in dieser Perspektive Folge einer kreativen Schöpfung, eines intelligenten überirdischen, göttlichen Designs. Religion stellt einen besonders öffentlichkeitswirksamen Schauplatz für symbolische Kämpfe dar, in dem verschiedenste Heilsanbieter und Laien interagieren. Damit wird aber auch deutlich, dass die Grenzen des religiösen Feldes verschwimmen, sie sind fragil, permanent umkämpft und historisch variabel.

Sinnressourcen und Geltungskraft
Die Frage nach der Kulturbedeutung der Religion zu Beginn des 21. Jahrhunderts ergibt demnach ein ambivalentes Bild. Zwar hat der Verlust an individueller Bindungskraft einen Rückzug institutionalisierter Religion aus dem öffentlichen Raum zur Folge, doch scheint dieser nach und nach von alternativen, individualisierten und politisierten Formen der Religiosität okkupiert zu werden, die eine ganz neue gesellschaftliche Dynamik entfalten. Der mittlerweile inflationäre Gebrauch des Religionsbegriffs im Zusammenhang mit unterschiedlichsten kulturellen Praktiken verdeutlicht dies. Die lange Zeit den religiösen Sinnkonstruktionen exklusiv zugeschriebenen Funktionen der Identitätsstiftung, der Handlungsorientierung, der Bewältigung kontingenter Lebensereignisse und der Gemeinschaftsbildung in unterschiedlichsten Lebensbereichen kann nicht mehr von den klassischen religiösen Institutionen befriedigt werden. An deren Stelle treten neue quasireligiöse Formen. In den Video- und Symbolwelten der zeitgenössischen Pop- und HipHop-Kultur wie auch bei den Gemeinschaftserlebnissen sportlicher Großveranstaltungen finden sich ebenso religiöse Inhalte, wie in der hochgradig ästhetisierten und medial unterstützten Fitnesskultur mit ihren wallfahrtsgleichen Stadtmarathons und den Kirchgängen in die Fitnessstudios oder in den vielfältigen esoterischen New Age Bewegungen. Die Begrenztheit verfügbarer und mit sozialer Geltungskraft ausgestatteter Sinnressourcen ist die zentrale soziale Voraussetzung für die Renaissance der Religiosität und ihre Sichtbarkeit. Diese Wiederkehr der Religion und religiöser Praktiken in den öffentlichen Diskurs ist jedoch weniger Ausdruck einer Resakralisierung individueller und kollektiver Lebensführung – wenngleich dies in gewissen Bereichen nicht von der Hand zu weisen ist – als vielmehr ein Hinweis darauf, dass religiöses Kapital in der Auseinandersetzung um Anerkennung und symbolische Deutungshoheit gegenwärtig eine besonders erfolgversprechende Ressource darstellt. Das religiöse Feld ist nicht zuletzt deshalb von so enormer gesellschaftlicher Bedeutung, als sich religiöse Themen in besonderem Maße für öffentliche Fragen und Belange erfolgreich instrumentalisieren lassen. 



 
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