Dietrich Brüggemann
Glauben für ein paar Stunden
Das bigotte Verhältnis von Kino und Religion
Fellini ist katholisch, Bergman protestantisch und George Lucas hat überall geklaut. Aber das Kino rezipiert nicht nur Religion – Kino ist selber eine Religion. Und genau deswegen kann es mit den anderen Religionen nicht so viel anfangen.
Es begab sich aber um die Jahrtausendwende, dass ein Gebot von der australischen Regierung ausging, dass alle Welt geschätzet werde. Und jedermann ging, dass er sich schätzen ließe, ein jeglicher in seiner Stadt. Da machten sich auch auf 70.000 Australier und trugen ein, ihre Religion sei Jedi. Ähnlich begab es sich in Neuseeland, dort waren die Jedi die zweitgrößte Religionsgemeinschaft, hätte man die Stimmen denn gezählt.
Falls jemand es wirklich nicht weiß: Die Jedi sind der spirituelle Ritterorden in den Star-Wars-Filmen. Damit wäre diese Geschichte ein erster Beleg für die These, dass das Kino die eigentliche Religion unserer Zeit ist. Denn wenn Tausende von Menschen sich öffentlich per Volkszählung zum Jedi bekennen, dann ist das einerseits hintersinniger Protest gegen staatliche Datenerhebung, andererseits ein practical joke, aber darüber hinaus verrät es eine tiefere Wahrheit über die Gesellschaft, in der wir leben.
Schon bei oberflächlicher Betrachtung fällt die Analogie von Kirchgang und Kinobesuch auf. Eine Gemeinde von Menschen versammelt sich in einem mehr oder weniger dunklen Raum, um dort einem etwa anderthalbstündigen Ritual beizuwohnen, das sie aus ihrem Alltag emporhebt, Sinnfragen stellt und Geschichten erzählt. Manchmal ist es auch langweilig, und einige Leute schlafen ein. Es gibt verschiedene Konfessionen, je nach Vorliebe kann man es bunt und farbenprächtig oder streng und wortkarg bekommen. Es findet in der Freizeit statt, bevorzugt am Wochenende, das anschließende gruppenweise Beisammensitzen ist fast genauso ritualisiert wie der eigentliche Akt, und wer unbedingt will, kann darin auch Opium fürs Volk erblicken.
Provokation und Heilsversprechen
Die Kirche hat sich lange Zeit so verhalten, als sei das Kino tatsächlich eine neue Religion, die ihr Konkurrenz machen wolle – das kann man als Indiz werten, dass sie da gar nicht so falsch lag. Film in seiner emotionalisierenden Wirkung, mit all seinem Potential des Angstmachens und Euphorisierens wirkt auf Menschen, die die Welt autoritär ordnen wollen, erfahrungsgemäß wie eine blanke Provokation, die man in den Käfig sperren und bewachen muss. Andererseits enthielt das Kino oftmals tatsächlich genau jene Provokationen, die die heiligen Männer in ihm sahen. Zunächst nur, indem es Menschen zeigte, die ein Leben abseits der kirchlichen Heilsversprechen führten, die ihr eigenes Glück verfolgten, die sich der körperlichen Liebe hingaben. Als das Kino dann in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wilder wurde und alle Institutionen aufs Korn nahm, kam es auch zu direkten Attacken. Man werfe nur einen Blick auf Robert Altmans M.A.S.H. (1970) – hier wird ein bigotter, doppelzüngiger Christ mit so viel Verve in die Pfanne gehauen, dass man sich unwillkürlich fragt, ob das heute überhaupt noch gehen würde.
Umgekehrt kann man beobachten, dass das Kino stets da, wo es eine Partnerschaft mit der Religion eingehen wollte, seine Kraft einbüßte. Filme, die Heiligengeschichten erzählen oder im christlichen Sinne erbauen wollen, sind meist lendenlahm und langweilig. Auch das ist nur folgerichtig: Zwei Religionen haben einander nie wirklich viel zu sagen. Wollen sie mit aller Gewalt zusammenkommen, so entstehen unvitale Mischformen, das kann man in jedem Motorradoder Jazz-Gottesdienst beobachten.
Die Kirche ist nicht mehr tonangebende Instanz, und möglicherweise ist das Kino auch nicht mehr die Religion unserer Zeit, weil es die Krone ans Internet abgeben musste. Bis vor kurzem war es das aber, und diese Entwicklung gipfelte in einem Phänomen, das nicht umsonst seinen Namen von der Religion hat, nämlich dem Kultfilm. Ein Kultfilm, das ist ein Film, der eine Religion stiftet. Dazu muss er zum einen eine Geschichte erzählen, in deren Nachverfolgung der Zuschauer eine Art Erlösung erfährt und sich seines Daseins als geistiges Wesen vergewissert. Zum anderen darf der Film aber diese Geschichte nicht einfach so in die Welt setzen, sondern muss ein in sich geschlossenes Gedankengebäude errichten und damit ein Weltbild schaffen, das der Jünger für sich übernehmen kann. Wenn eine Kultgemeinde in einem Kinosaal sitzt und eine Aufführung von Rocky Horror Picture Show mit Wasserpistolen und Reis begleitet, dann tun die Mitglieder genau die Dinge, die auch ein Gottesdienstpublikum tut: Sie folgen einem gleichförmig ritualisierten Ablauf, sie vollziehen Handlungen, die keinen erkennbaren Sinn haben, und versichern sich dadurch ihrer Zusammengehörigkeit. Zugleich ist die Freiheit, sinnlose Dinge zu tun, ein klares Vorrecht des Menschen und letztlich ein Bild für das Leben an sich. Das haben alle Religionen erkannt, instinktiv wissen es schon spielende Kinder. Wenn Kino eine Weltreligion ist, dann sind Kultfilm-Kulte lokale Ausprägungen, vergleichbar einer Fronleichnamsprozession im Voralpenland.
Diese Art der Kultfilmverehrung belegt nebenbei noch eine andere Tatsache: Religion funktioniert auch ohne Dran-Glauben. Kaum einer der vielen Star-Wars-Jünger glaubt wirklich an die Macht. Die Wirkung der Religionsausübung wird dadurch nicht beeinträchtigt. Menschen kommen in Gruppen zusammen, Gemeinden entstehen, Bündnisse werden geschmiedet, Konflikten wird vorgebeugt. Die Gemeinde hat ihren Sinn im Diesseits. Der zusätzliche Effekt im Jenseits ist nicht nachprüfbar.
Auch Kino kennt Konfession
So wie das Christentum ist jedoch auch das Kino in Konfessionen gespalten. Es war die Regisseurin Julia von Heinz, die mir gegenüber einmal den Gedanken äußerte, es gebe ja katholische und protestantische Filme, in Deutschland jedoch fast nur protestantische. Diese Idee fand ich spontan völlig einleuchtend. Da das Kino in bestehende Gesellschaften eindringt und dort die vorherrschende Religion ersetzt, ist es nur folgerichtig, dass Filme Merkmale ihrer Vorgängerreligion aufweisen. Das Christentum hat es mit seinen Vorgängern ja auch nicht anders gemacht. Der katholische Film, der mit großem audiovisuellen Aufwand und Weihrauch eine mystische, nicht immer ganz klar verständliche Geschichte erzählt, in der neben den Hauptfiguren eine Armada von Heiligen und Engeln herumschwebt, ist in Reinform zum Beispiel bei Fellini zu finden. Dem gegenüber steht der protestantische Film, in dem es nur das Subjekt und sein ganz persönliches Verhältnis zur Erlösung gibt – keine Vermittler, keine Heiligen, kein fröhliches Sündigen und anschließendes zur Beichte gehen. Wer einen protestantischen Film sehen will, möge sich ein beliebiges Werk von Ingmar Bergman ansehen.
Aber auch jenseits des Christentums findet man im filmischen Erzählen religiöse Prägungen. Die lineare Erzählung, in der ein Protagonist von A über B nach C begleitet wird, entspricht dem Monotheismus, wo dem gläubigen Individuum ein ebenso individueller Gott gegenübersteht. Nur folgerichtig, dass beispielsweise in Indien, wo eine Vielzahl von Göttern im Himmel sitzt, auch die Filme eine ausladendere Struktur besitzen. Bei Filmen aus Japan oder China wiederum wundern wir uns oft über die seltsam mäandernde Erzählweise, in der es weniger um Handlungsstränge geht, sondern eher um eine Geflecht von Motiven und Metamorphosen – auch das ist logische Konsequenz einer religiös geprägten Weltsicht, in der es eben nicht um den Weg des Individuums zur individuellen Erlösung geht, sondern um ein Geflecht aus Naturgöttern, Ahnen und dem Nirvana.
Wir stellen fest: Kino ist eine parasitäre Meta-Religion, die die Frage nach dem Sinn des Lebens komplett beantwortet, aber leider immer nur für ein paar Stunden. Es nimmt Eigenschaften seiner Wirtsreligionen auf, zudem können einzelne Filme Sub-Religionen stiften. Richtig interessant wird es aber, wenn Filme einen Kult begründen und sich zugleich mit bestehenden Religionen auseinandersetzen. Ein Film, der einen veritablen Kult nach sich zog, beschäftigt sich selbst unerhört differenziert, komplett respektlos und sehr komisch mit religiösem Verhalten. Dieser Film enthält eigentlich alles Wichtige zum Thema, daher werde ich an dieser Stelle aufhören und dem geneigten Leser Monty Python’s Life of Brian ans Herz legen. Da bleiben kaum mehr Fragen offen.