Totgesagte leben länger. Noch vor dem Ende der Kunst haben die Intellektuellen den Untergang der Religion verkündet. Zu früh gefreut. Sie ist wieder da, die Religion. Und die lieben intellektuellen Freunde zeigen sich als gänzlich verwandelte. Nicht nur, weil sie jetzt Latte Macchiato trinken und Anzüge tragen. Sie scheinen auch eine Erleuchtung zu haben.
Der Untergang der Religion galt bis vor kurzem als sicher. Nicht mit jener großen weltanschaulichen Geste, wie sie noch Nietzsche, Freud und Marx großzügig über die Welt der nicht ganz so hellsichtigen Geister proklamierten - jeder von ihnen ein eigener Prophet und dem priesterlichen Selbstentwurf nicht abgeneigt. Nein, die bundesrepublikanischen Intellektuellen setzten weniger auf Pathosformen als auf das allmähliche Verschwinden. Die Religion, so vermuteten sie lauthals, würde sich schlicht totlaufen. In der Zwischenzeit würde man sich noch eine Kippe drehen, einen Schluck aus dem vermackten Kaffeepott nehmen und die Regenbogenreihe eines Frankfurter Verlags durchblättern, die Tablebooks der 1990er. Was dann käme, wäre nicht paradiesisch, aber deutlich bequemer: Kein Konfirmationsanzug kneifte mehr im Schritt, kein Weih-nachtsgottesdienst im Münsterland bei Mama und Papa zuhause müsste durchgestanden werden, bevor die Gans auf den Tisch käme, dieses lästige Ritual, das einen Jahr für Jahr mit seinem eigenen regressiven Kitschbedürfnis konfrontiert. Außerdem will man Mama nicht verärgern.
Habermas und Luhmann, Fußball und Rave
Nein, Rebellion ist nicht mehr ihre Sache und Religionskritik ein ziemlich anspruchsvolles Geschäft. Soviel hat man ja noch mitgekriegt im Nebenfach Philosophie, damals in Frankfurt oder Berlin. Also haben sie einfach abgewartet auf die Vollendung der Moderne, die ihnen der bestallte Bundesphilosoph und Diskurspolitiker versprochen hat. Und irgendwie gefunden, dass man sich von nichts bestimmen lassen dürfe, was man nicht selbst erfunden hat. (Wovon bei jenem Philosophen nie die Rede war.) Bei Jürgen Habermas fehlte schon das
Pathos derer, die sich von etwas Übermächtigem zu befreien suchten. Und Niklas Luhmann, der große Antipode der Theorie, hat ihm in Sachen Religion mehr oder weniger zugestimmt. Das dachten jedenfalls die, die die Lektüre der späten Texte Habermas' zu mühsam fanden. Keine Austreibung des Aberglaubens mehr und keine wütende Institutionenkritik, keine Hochhuths, Neuenfels und Gottesvergiftungsselbsthilfegruppen.Schließlich schienen ja auch die Gegner harmlos zu sein. Kirchentagschristen, feministische Theologen und Habermasianerinnen auch hier. Und dann die klägliche Zunft der Religionssoziologen, die in einer Mischung aus Verzweiflung und Melancholie den Gott der DJs suchten. Fußball und Rave waren in ihrer Diagnose die letzten kultischen Ereignisse, die auch nur ansatzweise an das Phänomen der religiösen Erfahrung heranreichten. Und die Zeitgeistdiagnostiker fanden das Erhabene nur noch in der Werbung. Ansonsten galt: Man kann ja schließlich über alles reden, bis es sich erledigt hat. Und dann, irgendwann, würde schon Ruhe sein im Weltengebäude. Und der Himmel wäre endlich leer, einmal abgesehen vom Weltraumschrott. So leicht war noch keine Generation der Religion davongekommen, ohne Eifer und ohne den Ansatz der Nachdenklichkeit.
Zu früh gefreut. Sie ist noch da, die Religion. Oder sollte ich besser sagen: Sie ist wieder da? Mit Macht hat sie sich zurückgemeldet, in diffusen wie komplexen Formaten. Und die lieben intellektuellen Freunde zeigen sich als gänzlich verwandelte. Nicht nur, weil sie jetzt Latte Macchiato trinken und Anzüge tragen. Sie scheinen auch eine Erleuchtung zu haben. Von der »Wiederkehr des Religiösen« ist da die Rede, im Feuilleton und auf Partys. Und die Theologin ist plötzlich eine angesagte Gesprächspartnerin. Über Religion zu reden ist nicht mehr peinlich. Der Papst und die Beichte, das Kopftuch und die Scharia, der Weihnachtsgottesdienst und die Wiederkehr des Sakralen in den Künsten, alles eignet sich in unordentlicher Mischung als Gesprächsthema.
Da-Vinci-Code, B 16 und lateinische Messen
Angstlust blitzt aus den Augen, wenn sich die Kollegen über den religiösen Code des 11. September und über den Da-Vinci-Code hermachen. »Da ist vielleicht doch was dran«, raunen sie und erzählen sich jeweils die abgedrehteste Verschwörungsgeschichte. In Berlin Mitte reden sie bei Galeriebesuchen liebevoll und cool von »B 16«, wenn sie den deutschen Papst erwähnen als sei er der letzte Intellektuelle, dem sie noch trauen wollten und einer, mit dem sie immer schon Umgang pflegten. »Ratze« ist auch hoch im Kurs. »Authentizität«, so wollen Soziologen ausgemacht haben, sei das Geheimnis seiner Überzeugungskraft, die Sehnsucht nach Vorbildern begründe den Erfolg der Bilder aus Rom. Das klingt nach Jugendstudie. Nur sind meine lieben Freunde alle mindestens Mitte Dreißig. Und noch vor ein paar Jahren hätten sie beim Stichwort »Authentizität« angeekelt die Nase kraus gezogen. »B 16« – so ähnlich hießen doch die Bomber im Zweiten Weltkrieg? Egal, beim neuen Modethema »Religion« will man es ja gar nicht so genau wissen. Mit Sekt in der Hand redet es sich vortrefflich über die Macht der Liebe, die Performance des Sakralen und das Ende des Gewöhnlichen.
Neulich stritten tatsächlich zwei Freunde für die Wiedereinführung der lateinischen Messe. Meine Frage, wann sie denn das letzte Mal im Gottesdienst gewesen seien, fanden sie blöd. Es ginge, so verkündeten sie, jetzt ganz mit dem Pathos großer Propheten, um das Ende einer Ära. Die erschöpfte Moderne hole jetzt vor dem Heiligen Luft. Mannomann, wenn ich so was mal vor ein paar Jahren gesagt hätte, ich, die Theologin, die bei der Kontaktaufnahme mit neuen Bekannten vorsorglich als »Religionsphilosophin« vorgestellt wurde. Und plötzlich kann ich gar nicht mehr mitreden, die Kulturprotestantin, die sich auf Melanchthon, Kant und Schleiermacher beruft. Religion und Vernunft, was für ein schrecklich modernes Thema. »Du steckst mit deinen Fragen noch tief im 20. Jahrhundert«, gab mir neulich ein Bekannter mit auf den Weg. Und wedelte mit seinem neuen Giorgio Agamben. »Wir brauchen eine neue politische Theologie«, unterstreicht er meine hoffnungslose Rückständigkeit und empfiehlt mir bei der Gelegenheit Carl Schmitt zur Lektüre, als handele es sich um eine geheimnisumwitterte Neuerscheinung. Bei mir selber denke ich verschüchtert, dass in diesem Falle ein wenig mehr Bezug auf die Geistesentwicklung des 20. Jahrhunderts gar nicht schaden könnte. Aber was denke ich da. »Souveränität« ist der neue Attraktor. Und sein Medium der neue Kult um das Unverständliche. Religion, vor allem die christliche, soll so fremd und schön und glamourös sein, dass sie der eigenen Existenz mit ihren klammheimlichen Fragen bloß nicht zu nahe kommt. »Ach ja«, sagt eine Freundin. »Hast du vielleicht ein schönes Gute-Nacht-Lied und ein Abendgebet für unsere Kleine? Kinder brauchen doch Rituale.« Vielleicht gibt es die Gebete auch schon auf CD.
Wer von Religion keine Ahnung hat, glaubt am Ende alles, hat mein Großvater immer gesagt. Er meinte das mit Blick auf sein eigenes Jahrhundert. Noch sind die Traditionen theologischer Differenzierungsgewinne nicht ganz vergessen. Noch kann der genaue Blick auf religiöse Herkünfte und Zukünfte die komplexe gegenwärtige Lage der eigenen und der fremden Religionskultur aufhellen. Noch kann aus dem Partygeschwätz und der feuilletonistischen Laune eine niveauvolle Debatte über die Gegenwart des Religiösen werden. Sicher ist jedenfalls eines: Religion kann man sich nicht zulegen wie das neue Robbe & Berking-Besteck, als Selbstversuch in neuer Bürgerlichkeit. Religion ist eine Angelegenheit, in der es um nicht weniger als um Leben und Tod geht. Das Christentum kann man weder durch Abwarten abschütteln, noch durch Zuschauen gewinnen. Es braucht Aneignungsprozesse und eigene Erfahrungen, es braucht Nachdenklichkeit und Zeit und die Bereitschaft, ein Risiko einzugehen: Die Gefahr besteht nämlich, dass einen seine Botschaft nicht unverändert lässt.