Das Online-Magazin zur Zeitschrift | HALBJAHRESMAGAZIN polar






polar #3: Religion und Kritik



EDITORIAL

 
Peter Siller, Bertram Keller
Editorial



QUESTIO

 
Steffen Sigmund
Am Kap der guten Hoffnung
Das religiöse Feld als Bühne gesellschaftlicher Konflikte
 
David Strecker
Modernisierung = Säkularisierung?
Betrachtungen zu einer altbekannten Gleichung
 
Stefan Grotfeld, Stefan Huster
Kontroverse: >Öffentliche Religion<
 
Nilüfer Göle
Alla Turca?
Laizität in Frankreich und der Türkei
 
Michaela Schäuble
Die Heilige und ihre Helden
Eine Marienwallfahrt an der kroatisch-bosnischen Grenze
 
 

Krystian Woznicki

Allahs Themenpark

Pakistans islamische Utopie des Massentourismus


Als in den 1960er und 1970er Jahren zahlreiche postkoloniale Staats-gründungen stattfanden, schlug auch die Geburtsstunde des Massentourismus. Allerdings ist die Rolle des Tourismus-Sektors beim Nation-Building selten untersucht worden. Pakistan, das aus der geopolitischen Konkursmasse britischer Besitztümer her¬vorging, ist in diesem Zusammenhang ein besonders interessantes Beispiel. Isla-mische Alternativen zum gängigen Massentourismus sollten hier die Geburt des ersten Gottesstaates auf Erden katalysieren.

Wie kaum ein anderes Land in Südasien ist Pakistan seit seiner Gründung im Jahre 1947 in einem Schwebezustand suspendiert, stets schwankend zwischen Stabilität und Instabilität und dabei so sehr hin- und hergerissen, dass beide Zustände graduell ununterscheidbar geworden sind. Wer mag heute schon eine eindeutige Aussage darüber treffen, ob Pakistan durch zivile oder durch militärische Regierungen geprägt worden ist? Zwischen 1958 und 1969 sowie zwischen 1977 und 1988 war die Junta an der Macht, die im Jahre 1999 einmal mehr die Zügel an sich riss und sie bis heute in der Hand hat. Wer würde schon behaupten können, Pakistans Territorium sei klar umrissen? Seit der Staatsgründung ist die Nord-Westgrenze Pakistans Gegenstand heißer Debatten und Kämpfe, weil Afghanistan die Durandlinie, die das Gebiet der Paschtunen trennt, nicht anerkennt. Ebenso lange wird um die Nord-Ostgrenze gestritten. In diesem Fall ist es wiederum Pakistan, das mit der Grenzziehung der Briten nicht einverstanden ist und das muslimische Mehrheitsgebiet Kashmir - seit ehedem in der Hand Indiens - für sich beansprucht.

Während diese Grenzkonflikte seit mehr als 50 Jahren anhalten und zahlrei-che Menschenleben gefordert haben, ist die Trennung von Ostpakistan, heute Bangladesh, zwar abgeschlossen, aber in gewisser Hinsicht ebenfalls nicht ad acta gelegt worden: Bis heute ist die Sezession ein »traumatisches Erlebnis« (Bernard-Henri Lévy) geblieben, denn sie führte deutlich vor Augen: Religion reichte im ersten genuinen Gottesstaat nicht mehr aus, um nationale Identität zu stiften. Ostpakistan war schließlich ebenso mehrheitlich muslimisch wie Westpakistan gewesen, doch soziale sowie kulturelle Differenzen und nicht zuletzt die unterschiedliche Sprache trieben einen Keil zwischen beide Regionen. Das im Vergleich zu Bangladesh sprachlich, ethnisch und kulturell wesentlich heterogenere Pakistan stand zu Beginn der 1970er Jahre vor der Aufgabe, sich nochmals neu zu erfinden - ein Prozess, der zu Beginn des 21. Jahrhunderts andauert.

Gerastertes Gebirgsmassiv im Hochhausformat
War Pakistan in den frühen 1970ern von aufreibenden Ungewissheiten geprägt, so wirkte Islamabad, die neu errichtete Hauptstadt des Landes, wie ein Ruhepol im Chaos. Man hatte bei der Planungsphase Städte wie Canberra und Washington im Hinterkopf gehabt, doch vor allem Brasilia, das mitten in der brasilianischen Pampa quasi aus dem Nichts entstanden war, galt als das Vorbild der neuen Hauptstadt. Wie Brasilia wurde auch Islamabad auf dem Reißbrett entworfen und ex nihilo im Norden des Landes innerhalb weniger Jahre fertig gestellt. Nachdem 1959 eine Studie angefertigt wurde, legten der griechische Stadtplaner Constantinos Doxiades und der japanische Landschaftsarchitekt Kondo Kimio 1960 einen Entwurf vor, der nur ein Jahr später mit dem Beginn der Baumaßnahmen verwirklicht wurde. Wo vorher bloß eine dörfliche Siedlung war, nahmen quasi über Nacht die Raster von Islamabad Gestalt an: quadratische Zonen mit der symmetrischen Präzision einer digitalen Matrix. Zunächst entstanden nur acht solcher Einheiten; unterschiedliche Sphären der Stadt wurden darin separat untergebracht: Administration, Diplomatie, Bildung, Industrie, Kommerz, Natur, Land und Wohnen. Jeder Bereich bildete eine eigene Enklave.

Überhaupt wurde bei der »Stadtentwicklung« nicht mit Natur gespart. Angeblich sollen mehr als sechs Millionen Bäume angepflanzt worden sein. Das Resultat: Auf Bildern aus der Luft entsteht der Eindruck, Islamabad wäre in einen Urwald eingelassen worden. Für die Planer sicherlich die passende Metapher, denn im Urwald namens Wandel (Modernisierung, Urbanisierung etc.) sollte ihr Konzept ein Ordnungsmuster darstellen, das steuerbares Wachstum ermöglicht. So sollten nach und nach zusätzliche Zonen entstehen und die Stadt sowohl in die Horizontale als auch in die Vertikale erweitern.

Bevor in Islamabad mit der Faisal-Moschee eines der größten Gotteshäuser der Erde entstand, richteten sich die Ministerien in der neuen Hauptstadt ein. Im Januar 1972, also nur 23 Monate nach der Weltpremiere der Boeing 747, wurde beispielsweise das Tourismus-Ministerium etabliert. Als eigenständige Institution war es eine brandneue Einrichtung. Während auch die anderen Ministerien ihren Weg nach Islamabad fanden, artikulierte das Tourismusministerium seine Agenda, konzipierte einen Masterplan und rief unterschiedliche Institutionen ins Leben, darunter das »Pakistan Institute of Tourism & Hotel Management«. So sehr man mit sich selbst beschäftigt war – in den Geburtsstunden des globalen Massentourismus war man sich durchaus bewusst, dass auch Pakistans »Ressourcen« gewinnbringend auf dem Weltmarkt feilgeboten werden konnten.

Islamische Version des Tourismus
Das Wachstum der neuen Branche sollte in ebenso geordneten Bahnen verlaufen wie die Entwicklung von Islamabad. Die Regierung machte sich daran, eine touristische Supra- und Infrastruktur zu schaffen, gleichzeitig ging es ihr darum, Tourismus als Sinnsystem zu definieren. Im Zuge dessen musste das aufkeimende Dienstleistungsgewerbe den Werten und Normen der pakistanischen Nation untergeordnet werden. Kein reibungsloser Vorgang: Im Gegensatz zu den zivilen Regierungen tendierten die Militärregierungen dazu, die Verfassung des Staates von Gott abzuleiten und waren nicht gewillt, eine Entwicklung des Tourismus zu unterstützen,die den sozio-religiösen Werten des Korans zuwider lief. So avancierte Tourismus zu einem ideologischen Schlachtfeld, auf dem die Wiedergeburt Pakistans verhandelt wurde.

In dieser Zeit trieben die Industrieländer die Vermassung touristischer Waren so vehement voran, dass sich selbst »die Moral in den Urlaubsländern« änderte, wie der Stern im Januar 1973 konstatierte. Das deutsche Wochenmagazin, das damit auf die Unwägbarkeiten sexueller Abenteuer am Strand anspielte, gab im gleichen Atemzug konstruktive, aufreizend bebilderte Tipps, wo man wie »landen« konnte – ein heißer Flirt gehörte einfach zum Urlaub. Dem pakistanischen Tourismus-Ministerium waren diese (globalen) Standards bekannt. Der Markt war auf die vier großen »S« ausgerichtet (Sea, Sun, Sand, Sex) und es gab wohl nichts, was den eigenen Wertvorstellungen diametraler entgegengestanden hätte. Die Frage, ob man mit einem Verzicht auf das standardisierte Erfolgsrezept überhaupt konkurrenzfähig war, stellte sich nicht. Man war sich sicher, dass man die Klientel – der Großteil aller Pakistanbesucher war männlich – auch anders als mit den vier großen »S« zufriedenstellen konnte.

Der Präsident Pakistans General Mohammad Ziaul formulierte auf einer Trekking-Tagung im Jahre 1981 wie das zu bewerkstelligen war. In der Eröffnungsrede dozierte er: »We have to make it known how vast and lush green our valleys are, we have to publicise how stately and tall our mountains are.« Gott sei es zu danken, dass Pakistan mit solchen Schätzen gesegnet ist, und es wäre nicht daran zu denken, so Ziaul weiter, dass ein Gottesland diese Qualitäten zugunsten von »cheap entertainment« zurückstellen würde. Statt Bars und Kasinos sollten Berge, Wiesen und Flüsse als Lockmittel eingesetzt werden. Statt sexhungrigen Sonnenanbetern sollten abenteuerlustige Wanderer und Kletterer ins Land strömen. Vor diesem Hintergrund wurden unterschiedliche Verordnungen und Gesetze erlassen. Beispielsweise wurde der Konsum von Alkohol verboten. Sogar an Bord der »Pakistan International Airlines« sowie in Maschinen anderer Luftfahrtunternehmen mit Pakistan-Destinationen durfte nicht getrunken werden. Frauen konnten im Touristiksektor zwar arbeiten, mit ihnen durfte aber nicht geworben werden. Deshalb erregte der Slogan des Hotels Plaza International »Where you will be served by cheerful hostesses« großen Ärger und musste aus dem Verkehr gezogen werden. Nicht zuletzt galt das Baden im Bikini als gesetzeswidrig.

Wer weiß, wie sich der Tourismus in Pakistan auf diesem reglementierten Boden über die Jahre entwickelt hätte, wenn politische Entwicklungen in den Nachbarländern nicht dazu geführt hätten, dass in den 1980er Jahren einige Länder aus den regionalen Tourismuscharts verschwanden. Das unter Hippies enorm beliebte Afghanistan sowie die regionalen Spitzenreiter Iran und Sri Lanka wurden aufgrund von dauerhaften Kriegen weit zurückgeworfen. Infolgedessen wurde Pakistan nach Indien das zweitbeliebteste Reiseziel in Südasien.

Dass während der fundamentalistischen Militärherrschaft die Tourismusindustrie ausgebaut werden konnte, ist nicht wirklich verwunderlich. Dem Globetrotter-Guru Robert Young Pelton zufolge sind Touristen apolitische Wesen: »It doesn‘t really matter who is in control in Pakistan. The country still attracts planeloads of trekkers, hippies, and hard-core mountain climbers to discover some of the world‘s most rugged scenery, smoke a bit hash and explore many of the wild and dangerous areas.« In einer gewissen Hinsicht ist die Entwicklung der 1980er Jahre aber doch erstaunlich. Immerhin wurden in jener Dekade zwei terroristische Anschläge auf »Pan Am«-Einrichtungen verübt: Vorfälle, die für gewöhnlich als entwicklungshemmend gelten – der islamischen Version des Tourismus taten sie offenbar keinen Abbruch.

Landschaft des Bleibenden
In Pakistan waren die terroristischen Vorfälle der 1980er Jahre vor allem auch Anzeichen von innerer Instabilität, bei deren Kompensation sich die Touristik als hilfreich erwies. »Pakistan International Airlines« schaltete damals eine Anzeige, die beispielhaft ist – nicht nur für jene Zeit, sondern auch für die Touristik-Werbung in Pakistan im Allgemeinen. Darauf abgebildet waren fünf Gebirgsmotive und die ersten Zeilen des Anzeigentextes lauteten: »They touch the skies. They rest their heads in the clouds. They stand proud. They are timeless.« Daraufhin wurden die Berge näher beschrieben, beim Namen genannt und territorial verortet. Die Ruhe und Gewissheit, die hier zum Ausdruck kommen sollte, zieht sich als Leitmotiv durch die pakistanische Touristikwerbung der letzten Dekaden, deren Sujets immer wieder Berge gewesen sind.

Diesen ästhetischen Kanon hatte die »Pakistan Tourism Development Corporation (PTDC)« geprägt, eine privatwirtschaftliche Einrichtung, die man als Marketing-Abteilung des pakistanischen Tourismus-Ministeriums bezeichnen kann – seit den frühen 1970ern publiziert die PTDC in allen verfügbaren Medien Bilder von Pakistan. Während man auf diese Weise die nationale Idee Pakistans am Beispiel von Flora und Fauna durchdeklinierte, wurde mit Kampagnen wie »Discover Pakistan« auch das staatliche Territorium vermessen und markiert. Mit einprägsamen Bildern konnte die nach der Trennung von Ostpakistan ungewisse Topographie des Landes eingefangen und definiert werden.

Mit ihrer Reduktion des Zeichenkanons auf Naturelemente wirken PTDC-Motive mitunter wie Ansichten von einem Land und einer Zeit vor dem Massentourismus. Auf den stillen Bildern sind die Kunden der zweitgrößten Industrie der Welt noch nicht auf dem Vormarsch. Selbst Kampagnenmotive aus der vergangenen und laufenden Dekade weichen von diesem Kanon nicht ab. Die dünnen Spuren der menschlichen Zivilisation, die sich dort abzeichnen, verstärken eigentlich nur den Eindruck: Touristen betreten in Pakistan eine Zeitmaschine. Die Entwicklung, die zahlreiche andere Urlaubsziele bis zur Unkenntlichkeit verändert hat, ist in Pakistan in den Kinderschuhen stecken geblieben. Immer noch ist Pakistan jene Landschaft, die vor 35 Jahren von Hippies und den Pionieren des Rucksacktourismus entdeckt wurde. Eine Landschaft des Bleibenden.

Normalerweise ist das Bleibende im Tourismus nur eine fiktive Größe, es existiert in der Nostalgie oder in der Fantasie. Die Realität dagegen ist Wandel. Als Pakistan sich entschied, durch die Brille des Tourismus auf sich selbst zu blicken und im Zuge dessen zu sich selbst zu kommen, galt es, solchen Veränderungen zuvorzukommen. Heute sollen die PTDC-Motive glaubhaft machen, dass sich die besagten Transformationserscheinungen der touristischen Kommerzialisierung an den Pässen des Karakorum nicht abzeichnen – doch was bedeutet das?

Ist das Bleibende der touristischen Landschaft Pakistans ein Anzeichen dafür, dass das islamische Modell des Fremdenverkehrs die gängigen Regeln des Tourismus außer Kraft setzt? Oder ist es vielmehr ein Anzeichen dafür, dass das Land es versäumt hat, die Idee der Nation als etwas Dynamisches zu konzipieren? Die Fragen deuten an, dass es sich bei Pakistan um das seltene Beispiel eines Ortes handelt, der in der gegenwärtigen Globalisierungsphase erfolgreich als »Außen« des fortschreitenden Schrumpfungsprozesses der Erde in Szene gesetzt werden kann. Erfolgreich deshalb, weil sich diese Eigenschaft nicht ohne weiteres als Fiktion entlarven lässt. In diesem Sinne scheint Pakistan – anders als die paradigmatischen Fälle von Nordkorea (Fiktion Hölle) oder Hawaii (Fiktion Paradies) – wahrhaft utopische Energien zu bündeln. Energien, die der marxistische Geograf David Harvey eigentlich nur »Spaces of Hope« zuspricht. 



 
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