[Pro] Wir müssen leider draußen bleiben (Stefan Grotefeld)
»Wir« - das sind in diesem Fall Menschen mit religiösen Überzeugungen. Menschen, die dazu neigen, diese Überzeugungen ins Spiel zu bringen, wenn es um Moral geht. Eben das, so heißt es, gehört sich nicht. Jedenfalls dann nicht, wenn es um moralische Kontroversen in der Politik geht. Wo über Politik nachgedacht, debattiert und entschieden wird, habe Religion nichts zu suchen. So jedenfalls die These des politischen Liberalismus.
Zugegeben, ich habe ein wenig übertrieben. Nicht, dass für religiöse Men-schen in einer liberalen Demokratie kein Platz sei. Die Menschen selber seien durchaus willkommen, erklären die liberalen Sittenwächter. Nur die Religion, die müsse man nun einmal an der Eingangstür zur Politik zurück lassen. - Was aber, wenn man die eigenen religiösen Überzeugungen nicht so einfach draußen stehen lassen kann wie einen Hund vor dem Fleischwarenfachgeschäft?
Kontroverse
Sicher, für viele mag das gar nicht so schwierig sein. Wer mal mit dieser, mal mit jener Religion flirtet, dürfte auch in bestimmten Lebenslagen von seinen jeweiligen religiösen Überzeugungen absehen können. Doch nicht alle pflegen ein derart lockeres oder souveränes Verhältnis zu ihrer Religion. Bei manchen macht sie einen Teil ihrer Identität aus, über den sie nicht so ohne weiteres verfügen können. Muss man sich wirklich entscheiden, ob man ein guter Bürger oder aber ein Mensch sein will, der seine Religion ernst nimmt?
Bevor wir eine Antwort auf diese Frage geben, sollten wir uns klarmachen, weshalb der politische Liberalismus Selbstbeschränkung in Sachen Religion für eine Bürgerpflicht hält. Der Grund ist nicht, dass er in der Religion eine irrationale Erscheinung sieht. Der politische Liberalismus steht der Religion nicht feindlich, sondern eher wachsam gegenüber, weil er in ihr eine potenzielle Bedrohung für die Stabilität der Gesellschaft wittert. Mehr noch als diese Sorge aber ist es die Überzeugung, dass es dem Personen geschuldeten Respekt widerspricht, wenn man sie zu etwas zwingt und sich dabei auf Gründe beruft, denen sie nicht zustimmen könnten. Da religiöse Überzeugungen sich niemandem aufzwingen ließen, könnten sie nie und nimmer die Zustimmung aller finden. Daraus wiederum folge, dass sich jegliche Legitimation staatlichen Rechts mit religiösen Argumenten verbiete, da die Androhung und Ausübung von Zwang nun einmal zum Wesen staatlichen Rechts gehöre. Und dieses Verbot gelte nicht etwa nur für Politiker, sondern grundsätzlich für alle Bürger. Denn schließlich sei es das Volk, von dem in einer Demokratie alle Macht ausgehe.
Auf den ersten Blick klingt diese Argumentation recht plausibel und sie weckt die Hoffnung, manch moralische Kontroverse, etwa im Bereich der Biopolitik, möge auf diese Weise endlich ihren verdienten Frieden finden. Aber befriedet man eine Kontroverse wirklich dadurch, dass man einer Seite den Mund verbietet? Und wichtiger noch: Hängt die Legitimität staatlicher Machtausübung tatsächlich davon ab, dass die zu ihrer Rechtfertigung angeführten Gründe die Zustimmung aller Bürger wenn schon nicht finden, dann doch zumindest finden könnten? Das, so will uns der politische Liberalismus glauben machen, gebiete der Respekt, den wir einander schulden. Aber stimmt das auch? Was sind das eigentlich für Argumente, denen wir zustimmen könnten, ohne dass wir ihnen in der Realität immer zustimmen? Und hängt es nicht vielmehr von anderen Kriterien ab, ob wir eine politische Entscheidung als im Einklang mit dem uns gebührenden Respekt stehend akzeptieren, auch wenn wir die für diese Entscheidung vorgebrachten Argumente nicht teilen: von partizipativen und fairen Verfahren nämlich, von der Bereitschaft der anderen, unsere Argumente ernst zu nehmen und Kompromisse zu schließen, sowie schließlich und vor allem von der Beachtung unserer fundamentalen Menschen- und Bürgerrechte?!
Dass es religiöse Überzeugungen gibt, die in Widerspruch zu den Menschenrechten stehen, lässt sich nicht leugnen. Sich ihrer zur Begründung staatlicher Machtausübung zu bedienen, verbietet sich in der Tat. Wer allerdings glaubt, dies gelte für religiöse Überzeugungen als solche, befindet sich im Irrtum. Sie generell einer Selbstbeschränkung unterwerfen zu wollen, ist daher falsch. Denn das hieße, das Kind mit dem Bade auszuschütten.
[Contra] Ihr müsst leider draußen bleiben (Stefan Huster)
In der Bundestagsdebatte über das Embryonenschutzgesetz hat ein Ab-geordneter seine skeptische Haltung gegenüber weitgehenden Verboten mit den folgenden Worten zum Ausdruck gebracht: »Auf der einen Seite lehne ich für mich alle diese Praktiken der Fortpflanzungsmedizin aus Gewissensgründen, die natürlich von meinen religiösen Überzeugungen geprägt sind, ab. Auf der anderen Seite sehe ich mich aber außerstande, von anderen Menschen dieselbe Einstellung zu verlangen.« Auffällig an dieser Stellungnahme sind die doppelte Nötigung und die Unterscheidung ihrer Adressaten: einerseits die religiös geprägten »Gewissensgründe«, die »für mich« zur Ablehnung bestimmter Verhaltensweisen führen; anderseits sieht man sich aber »außerstande«, diese Haltung auch »von anderen Menschen zu verlangen«. Wie kommt es zu diesen subtilen Differenzierungen?
>Öffentliche Religion<
Vermutlich zeigt sich hier ein Bedürfnis, das in der politischen Öffentlichkeit eines demokratischen Gemeinwesens eine zentrale Rolle spielt: die Nötigung, Maßnahmen der öffentlichen Gewalt gegenüber seinen Mitbürgern zu rechtfertigen. Kaum jemand mag noch gesetzliche Ver- oder Gebote mit Argumenten fordern, von denen alle wissen, dass sie nur auf der Grundlage bestimmter religiös-weltanschaulicher Überzeugungen plausibel sind, die in modernen pluralistischen Gesellschaften nicht mehr allgemein geteilt werden. In gesetzlichen Fragen parteiisch vorzugehen, wäre nicht nur unklug, weil man damit rechnen muss, dass die Gegenseite ihre Position dann ähnlich anschlussunfähig vertreten wird, wenn es die politischen Mehrheitsverhältnisse zulassen; es wäre auch unfair, die öffentliche Gewalt für Ziele und Zwecke in Anspruch zu nehmen, die einige Mitbürger legitimerweise ablehnen.
Es ist daher weithin aus der Mode gekommen, politische Vorschläge religiös-weltanschaulich zu unterfüttern. In dieser Beschränkung ist aber kein Verlust, sondern ein zivilisatorischer Fortschritt zu sehen. Natürlich kann Religion eine Ressource des gesellschaftlichen Zusammenhalts und des politischen Engagements sein – aber daran ändert sich durch das Gebot der religiös-weltanschaulichen Zurückhaltung in politischen Fragen gar nichts: Man sollte unterscheiden zwischen Gründen, die allgemein nachvollziehbar sein müssen, und Motiven, die höchst partikular und individuell sein können. Auch ist es jedermann unbenommen zu versuchen, die Mitbürger von seinen religiösen Auffassungen und den entsprechenden moralischen Verhaltensregeln zu überzeugen.
Dass er dafür nicht den staatlichen Zwangsapparat in Anspruch nehmen kann, rechtfertigt kaum den beliebten Vorwurf, die Religion werde aus der Öffentlichkeit verdrängt: Die zivilgesellschaftliche Öffentlichkeit reicht weiter als die Politik, und auch die Moral geht im positiven Recht nicht auf.
Ist aber in das Beschränkungsgebot nicht doch in dem Sinne eine Asymmetrie eingebaut, dass die laxen liberalen Weltanschauungen gegenüber den anspruchsvolleren religiösen Lebenskonzepten politisch immer gewinnen? Zwar haben auch kämpferische Liberale durch das Beschränkungsgebot etwas zu verlieren, wenn sie etwa darauf verzichten müssen, in der öffentlichen Schule dezidierte Religionskritik zu betreiben. Trotzdem wird man nicht leugnen können, dass die Last dieses Gebotes in der Regel bei den stärker religiös-weltanschaulich geprägten Positionen liegt: Begründungspflichtig ist nämlich derjenige, der seinen Mitbürgern ein bestimmtes Verhalten per Gesetz ge- oder verbieten will; wer diesbezüglich gar keine Ambitionen hat, kann das Beschränkungsgebot sehr viel gelassener betrachten. Es ist dieser Vorrang der Freiheit, der religiösen Eiferern das Leben in modernen Gesellschaften so schwer macht. Da wir das aber gewiss nicht ändern wollen, muss es weiterhin heißen: Ihr müsst leider draußen bleiben.