Das Online-Magazin zur Zeitschrift | HALBJAHRESMAGAZIN polar






polar #3: Religion und Kritik



EDITORIAL

 
Peter Siller, Bertram Keller
Editorial



QUESTIO

 
Steffen Sigmund
Am Kap der guten Hoffnung
Das religiöse Feld als Bühne gesellschaftlicher Konflikte
 
David Strecker
Modernisierung = Säkularisierung?
Betrachtungen zu einer altbekannten Gleichung
 
Stefan Grotfeld, Stefan Huster
Kontroverse: >Öffentliche Religion<
 
Nilüfer Göle
Alla Turca?
Laizität in Frankreich und der Türkei
 
Michaela Schäuble
Die Heilige und ihre Helden
Eine Marienwallfahrt an der kroatisch-bosnischen Grenze
 
Krystian Woznicki
Allahs Themenpark
Pakistans islamische Utopie des Massentourismus
 
Steffen Stadthaus
Im Vorortzug Richtung Brooklyn
Auf der Suche nach authentischer Jiddischkeit
 
Peter Fuchs
Du darfst nicht .
Shopping in den Funkelwelten des Konsums
 
James D. Ingram, Arnd Pollmann, Roman Schmidt, Peter Siller
Ist es links?: >Aufklärung<
 
 

Ina Kerner

Leben im Kapitalismus: >Sünden, Beichten, Sünden<


Über Jahre hatte ich ihn hinausgeschoben, den Gang ins Amtsgericht. Hin- und herüberlegt. Traditionen beschworen, Konsequenzen gefürchtet, Rat eingeholt. Als ich dann endlich bereit war, an einem sonnigen Tag im Herbst, ging alles ganz schnell und leicht. »Tach«, wurde ich empfangen, da war die Tür zum Dienstzimmer erst halb geöffnet. Die Grüßende war eine schmächtige Frau in Jeans, die gerade in einem großen Schrank räumte; in ihrem Mundwinkel hing eine halbgerauchte Zigarette. »Kirchenaustritt?« - »Jawohl«, sagte ich. »Setzen Sie sich«, befahl sie, und nach bloß kurzer Suche fand ich den richtigen Platz: den Besucherstuhl vor ihrem Schreibtisch, einem Tisch mit meterhohen Aktentürmen. Es gab einen Sichtkanal von meinem Stuhl zu ihrem Computer, durch den ich ihr beim Tippen zusehen konnte. Das tat ich ein paar gebannte Minuten, da sagte sie auch schon, alles gehe klar. Sie drückte mir die Austrittsbescheinigung und einen schiefen, kleinen Zettel mit den Öffnungszeiten des Finanzamts in die Hand und entließ mich ins neue Leben.

Ich fuhr nach Hause und fühlte mich frei. Endlich klare Verhältnisse. Nie wieder verlegene Rechtfertigungen mit der längst abgewickelten Befreiungstheologie. Rache gegen die dunklen Mächte der Kindheit, die Subjektivierungszwänge zur Sünderin, die mit der Probebeichte vor der Erstkommunionsfeier begonnen und Woche um Woche, Beichte um Beichte, Sünden-Ausdenken um Sünden-Ausdenken ihren Lauf genommen hatten. Vergeltung für die erste Bekanntschaft mit institutionellem Sexismus, den kategorischen Ausschluss von Mädchen vom Messdieneramt - wo doch Ministrieren das Aufregendste war, was man als Neunjährige in meinem rheinischen Dorf, schon damals auf dem Weg zur Vororthölle, hätte tun können.

Die Entzauberung meiner katholischen Welt begann also eigentlich schon rund um den ersten Biss - wie gespannt darauf waren wir alle gewesen! - in die Hostie. Ursache war die Kirche selbst - die Kirche mit ihren Beicht- und Diskriminierungspraktiken, gegen die auch das schönste Kommunionskleid nicht ankam. Dabei war mein eigenes Kleid von Spitzen durchwirkt und fast bodenlang, und ich dachte an dem Tag, an dem ich darin durch die Kirche schreiten und später im Mittelpunkt der Familienfeier strahlen durfte, er sei der schönste meines jungen Lebens. Obwohl ich beim nachmittäglichen Zirkusbesuch, den meine Eltern organisiert hatten, damit mein Fest auch kindgerecht würde, auf das Ponyreiten verzichtet hatte - des Kleides wegen.

Ein gutes Jahrzehnt später, vom Kirchenglauben längst abgefallen, entwi-ckelte ich ein Faible für Sakralkitsch. Nach jedem Umzug stellte ich meine kleine, spielerisch mit Heiligenbildchen aus aller Herren Länder möblierte Hauskapelle neu auf. Ihr Besitz erschien mir trotz langjähriger Gottesdienst-abstinenz weder als Schwindel noch als Selbstbetrug. Ich war katholisch, und eines bekifften Abends in Amsterdam hatte mir eine Spanierin mit religiösem Familienhintergrund, eine also, die es wissen musste, erklärt, dass der Witz des Katholizismus nicht Weihrauch und Pomp, sondern vor allem seine moralische Lässigkeit sei. Denn während bei uns Kindern die wichtigste Übung noch aus der ewigen Abfolge von Sünden-Ausdenken, Beichten, Sünden-Ausdenken, Beichten bestanden hatte, so liefe die Erwachsenenversion - so die organische Expertin beim dritten Joint - auf Sünden, Beichten, Sünden, Beichten, Sünden etc. hinaus. Ich glaubte ihr, obwohl ich im schulbegleitenden Kommunionsunterricht anderes gelernt hatte. Und führte in den Jahren nach jenem aufklärerischen Abend meist das katholische Lustprinzip an, wenn ich mich mal wieder für meine Kirchenmitgliedschaft rechtfertigen musste. Dass ich schließlich doch austrat, hing dann mit der Politik zusammen, genauer: mit der katholischen Geschlechterpolitik. Die konnte ich irgendwann nicht mehr schönreden und zwar auch nicht mit Drogen oder Doppelmoral. Und so bewog mich die Kirche, die einst meine bis dato ziemlich heile Kinderwelt entzaubert hatte, nun ausgerechnet zu konsequentem Handeln.
 




DISPUTATION

 
Rainer Forst
Die hohe Kunst der Toleranz
Eine Orientierungshilfe in Zeiten der Religionskämpfe
 
Robin Celikates/Rahel Jaeggi
Die Blumen an der Kette
Acht Thesen zur Religionskritik
 
Petra Bahr
Wiederkehr der Gotik
Die Lust der neuen Bürgerlichkeit am Religiösen
 
Ein Gespräch mit Hans Joas, Herbert Schnädelbach und Rolf Schieder
»Wozu Gott?«
 
Torsten Mayerhauser/Patrick Wöhrle
Gott als Basenpaar
Kritik der naturalistischen Religionskritik
 
Rudolf Speth
Werte und Mehrwert
Parteien als Glaubensgemeinschaften und Interessenvereinigungen
 
Der wahre Text: >Texbausteine für das 21. Jahrhundert<
Neue Berliner Sprachkritik
 
Katharina Liebsch
Versprechen und Verheißungen
Über religiöse Ökonomien und ökonomische Religion
 
Felix Ensslin
Am Signifikantentropf des Anderen
Zum Geschäft der Artikulation unbedingter Bedingtheit
 
Interview mit Navid Kermani
»Die Anmaßung des Lebens«
 
Martin Saar
Bildpolitik: >Die Moschee im Dorf<
 
Julie Miess
Mein halbes Jahr
>Musik<
 
Simon Rothöhler
Mein halbes Jahr
>Film<
 
Peter Siller
Mein halbes Jahr
>Literatur<



RELIQUIEN

 
Arnd Pollmann/Kai Schöneberg
Who the fuck is Reiner?
Einem fanatischen Autogrammjäger auf der Spur
 
Gespräch mit Dirk v. Lowtzow und Rick McPhail
»Gegen den Strich«
 
Dietrich Brüggemann
Glauben für ein paar Stunden
Das bigotte Verhältnis von Kino und Religion
 
Daniela Dröscher
Vom Äußeren zum Inneren zum Äußeren der Kuh
Epiphanien des Sitzens
 
Aram Lintzel
Sinncontainer: >Herausforderung<



SCHÖNHEITEN

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