Über Jahre hatte ich ihn hinausgeschoben, den Gang ins Amtsgericht. Hin- und herüberlegt. Traditionen beschworen, Konsequenzen gefürchtet, Rat eingeholt. Als ich dann endlich bereit war, an einem sonnigen Tag im Herbst, ging alles ganz schnell und leicht. »Tach«, wurde ich empfangen, da war die Tür zum Dienstzimmer erst halb geöffnet. Die Grüßende war eine schmächtige Frau in Jeans, die gerade in einem großen Schrank räumte; in ihrem Mundwinkel hing eine halbgerauchte Zigarette. »Kirchenaustritt?« - »Jawohl«, sagte ich. »Setzen Sie sich«, befahl sie, und nach bloß kurzer Suche fand ich den richtigen Platz: den Besucherstuhl vor ihrem Schreibtisch, einem Tisch mit meterhohen Aktentürmen. Es gab einen Sichtkanal von meinem Stuhl zu ihrem Computer, durch den ich ihr beim Tippen zusehen konnte. Das tat ich ein paar gebannte Minuten, da sagte sie auch schon, alles gehe klar. Sie drückte mir die Austrittsbescheinigung und einen schiefen, kleinen Zettel mit den Öffnungszeiten des Finanzamts in die Hand und entließ mich ins neue Leben.
Ich fuhr nach Hause und fühlte mich frei. Endlich klare Verhältnisse. Nie wieder verlegene Rechtfertigungen mit der längst abgewickelten Befreiungstheologie. Rache gegen die dunklen Mächte der Kindheit, die Subjektivierungszwänge zur Sünderin, die mit der Probebeichte vor der Erstkommunionsfeier begonnen und Woche um Woche, Beichte um Beichte, Sünden-Ausdenken um Sünden-Ausdenken ihren Lauf genommen hatten. Vergeltung für die erste Bekanntschaft mit institutionellem Sexismus, den kategorischen Ausschluss von Mädchen vom Messdieneramt - wo doch Ministrieren das Aufregendste war, was man als Neunjährige in meinem rheinischen Dorf, schon damals auf dem Weg zur Vororthölle, hätte tun können.
Die Entzauberung meiner katholischen Welt begann also eigentlich schon rund um den ersten Biss - wie gespannt darauf waren wir alle gewesen! - in die Hostie. Ursache war die Kirche selbst - die Kirche mit ihren Beicht- und Diskriminierungspraktiken, gegen die auch das schönste Kommunionskleid nicht ankam. Dabei war mein eigenes Kleid von Spitzen durchwirkt und fast bodenlang, und ich dachte an dem Tag, an dem ich darin durch die Kirche schreiten und später im Mittelpunkt der Familienfeier strahlen durfte, er sei der schönste meines jungen Lebens. Obwohl ich beim nachmittäglichen Zirkusbesuch, den meine Eltern organisiert hatten, damit mein Fest auch kindgerecht würde, auf das Ponyreiten verzichtet hatte - des Kleides wegen.
Ein gutes Jahrzehnt später, vom Kirchenglauben längst abgefallen, entwi-ckelte ich ein Faible für Sakralkitsch. Nach jedem Umzug stellte ich meine kleine, spielerisch mit Heiligenbildchen aus aller Herren Länder möblierte Hauskapelle neu auf. Ihr Besitz erschien mir trotz langjähriger Gottesdienst-abstinenz weder als Schwindel noch als Selbstbetrug. Ich war katholisch, und eines bekifften Abends in Amsterdam hatte mir eine Spanierin mit religiösem Familienhintergrund, eine also, die es wissen musste, erklärt, dass der Witz des Katholizismus nicht Weihrauch und Pomp, sondern vor allem seine moralische Lässigkeit sei. Denn während bei uns Kindern die wichtigste Übung noch aus der ewigen Abfolge von Sünden-Ausdenken, Beichten, Sünden-Ausdenken, Beichten bestanden hatte, so liefe die Erwachsenenversion - so die organische Expertin beim dritten Joint - auf Sünden, Beichten, Sünden, Beichten, Sünden etc. hinaus. Ich glaubte ihr, obwohl ich im schulbegleitenden Kommunionsunterricht anderes gelernt hatte. Und führte in den Jahren nach jenem aufklärerischen Abend meist das katholische Lustprinzip an, wenn ich mich mal wieder für meine Kirchenmitgliedschaft rechtfertigen musste. Dass ich schließlich doch austrat, hing dann mit der Politik zusammen, genauer: mit der katholischen Geschlechterpolitik. Die konnte ich irgendwann nicht mehr schönreden und zwar auch nicht mit Drogen oder Doppelmoral. Und so bewog mich die Kirche, die einst meine bis dato ziemlich heile Kinderwelt entzaubert hatte, nun ausgerechnet zu konsequentem Handeln.