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polar #3: Religion und Kritik



EDITORIAL

 
Peter Siller, Bertram Keller
Editorial



QUESTIO

 
Steffen Sigmund
Am Kap der guten Hoffnung
Das religiöse Feld als Bühne gesellschaftlicher Konflikte
 
David Strecker
Modernisierung = Säkularisierung?
Betrachtungen zu einer altbekannten Gleichung
 
Stefan Grotfeld, Stefan Huster
Kontroverse: >Öffentliche Religion<
 
Nilüfer Göle
Alla Turca?
Laizität in Frankreich und der Türkei
 
 

Michaela Schäuble

Die Heilige und ihre Helden

Eine Marienwallfahrt an der kroatisch-bosnischen Grenze


Am südöstlichen Rand des neuen Europas: Auf der jährlichen Marien-wallfahrt nach Sinj treffen sich historisch kostümierte Reiter und Men-schen auf der Suche nach Wundern. Eine Reportage zum Wechselspiel zwischen Politik und Religion im Schatten Marias.

Eine alte, schwarz gekleidete Frau am Straßenrand. Sie hält zwei Plakate vor sich in die Höhe: Das eine ist eine Reproduktion des hiesigen Marienbildnisses mit der Aufschrift »Wundertätige Muttergottes von Sinj, bitte für uns«. Das andere zeigt den wegen Kriegsverbrechen verurteilten Ex-General Mirko Norac und stellt die rhetorische Frage »Wie sollen wir je frei sein, wenn wir unsere Befreier ausliefern?«. Diese auf den ersten Blick unverständlich wirkende Kombination aus Glaubensbekenntnis und politischem Kommentar verweist auf die enge Verknüpfung religiöser Heiligen- und militarisierter Heldenverehrung in der kroatischen Nachkriegsgesellschaft.

Der Anlass, aus dem sich die Frau mit ihren Plakaten öffentlich postiert hat, ist eine Marienwallfahrt. Jedes Jahr brechen in Kroatien Mitte August Hunderttausende von Menschen zu Wallfahrten auf. Der Marienverehrung kommt im ganzen Land eine besondere Bedeutung zu und Mariä Himmelfahrt, Velika Gospa genannt, gilt als höchster Feiertag. Schon Tage vor der eigentlichen Feier machen sich viele Menschen - manche barfuss oder sogar auf Knien - auf den Weg zum Marienschrein der Gospa Sinjska, der Muttergottes von Sinj.

Sinj, ein 15.000-Einwohner-Städtchen im kargen dalmatinischen Hinterland, ist der bekannteste Wallfahrtsort in der Region. Die meisten Pilger kommen aus Dalmatien oder dem benachbarten Bosnien-Herzegowina. Aber auch zahlreiche Gläubige, die aus dem sozialistischen Jugoslawien ausgewandert oder später während des Krieges geflüchtet sind, kehren in diesen Tagen für einen Besuch in ihre frühere Heimat zurück.

Die Wallfahrer lassen den Verkehr von der Küstenstadt Split nach Sinj zwei Tage lang stocken und verwandeln die sonst so verschlafene Gemeinde in eine pulsierende Metropole. Fra Zvonko, ein junger Franziskaner aus dem Kloster in Sinj - mit über 30 geweihten Priestern das größte in Kroatien - erklärt: »Wir haben dieses Jahr 120.000 Hostien machen lassen. Ungefähr jeder Dritte geht zur Kommunion. So berechnen wir die Besucherzahlen in etwa.« Sinj platzt seit Jahren jeden August aus allen Nähten und die meisten Besucher, die keine Unterkunft mehr gefunden haben, übernachten einfach im Freien. Tagsüber drängen sich die Menschenmassen in die Kirche. Sie stehen zum Teil stundenlang an, um das »wundertätige Bildnis der Muttergottes von Sinj« anzubeten. Viele kommen mit einem speziellen Anliegen oder haben ein Gelübde abgelegt – die Gospa Sinjska, so glauben sie, ist in der Lage, Wunder zu vollbringen. Viele Pilger besuchen auch die kleine Bergkapelle, die an der Stelle errichtet wurde, wo die Muttergottes erschienen sein soll.

Himmlischer Schutz vor den Osmanen
Der Legende zufolge wurde Sinj 1715 von berittenen Truppen des Osmanischen Reiches angegriffen. In der Not hat das Volk zu dem Marienbildnis der Gospa Sinjska um himmlische Rettung gefleht. Daraufhin soll eine überirdische Frauengestalt mit wehendem Gewand erschienen sein und die Angreifer in die Flucht geschlagen haben. Fortan wurde dem Marienbildnis eine wundertätige Kraft zugeschrieben, die ihm bis heute anhaftet. Als Andenken an den Sieg findet seither jedes Jahr das Reiterspiel Alka statt, bei dem die Schlacht in historischen Kostümen nachgestellt wird. Und an dem darauf folgenden Wochenende wird zu Velika Gospa der Marienerscheinung gedacht. Marienverehrung und die Erinnerung an die militärische Verteidigung Kroatiens sind in diesem Landstrich nicht voneinander zu trennen.

Sinj gilt gemeinhin als Hochburg der kroatischen Nationalisten und stellt einen geradezu militanten Katholizismus zur Schau. Während zu Zeiten Titos öffentliche Glaubensbekundungen extrem eingeschränkt waren, hat die Marienwallfahrt in Sinj seit dem so genannten kroatischen Unabhängigkeitskrieg von 1991 bis 1995 eine regelrechte Renaissance erfahren. Angeblich hatte in den 1990er Jahren jeder kroatische Soldat einen Rosenkranz an seiner Uniform und viele Regimenter waren nach katholischen Schutzheiligen benannt. Und obwohl es sich nie um einen Religionskrieg im klassischen Sinne handelte, ist für viele ehemalige Soldaten die Wallfahrt nach Sinj heute ein Zeichen der Ehrerbietung und des Dankes an die »himmlische Beschützerin«. Nicht umsonst wird die Muttergottes hier Kraljica Hrvata, die »Königin der Kroaten« genannt.

Der Zustrom an Besuchern – unter ihnen viele Armeeangehörige und Veteranen – wird von dem Franziskanerorden in Sinj als Plattform für politisch motivierte Predigten genutzt. Unter anderem wird hier von der Kanzel gegen die internationale Strafverfolgung kroatischer Militärs gewettert. Die Begründung dafür lautet, dass sich Kroatien während des Krieges lediglich gegen serbische Angriffe verteidigt habe und deswegen nicht für begangene Kriegsverbrechen verantwortlich gemacht werden könne.

Für andere ist die Marienwallfahrt gerade deswegen so wichtig, weil öffentliche Glaubensbekenntnisse im sozialistischen Jugoslawien jahrelang nicht oder nur extrem eingeschränkt möglich waren. »Unter Tito sind diejenigen, die zu Velika Gospa religiöse Lieder gesungen haben, sofort verhaftet worden, obwohl im Grundgesetz stand, dass in Jugoslawien Religionsfreiheit gilt. Religionsfreiheit – dass ich nicht lache!« erzählt mir Ivan, ein 65-jähriger Mann, der früher aufgrund seines Glaubens selbst unter Repressalien zu leiden hatte. Obwohl die Marienwallfahrt besonders viele junge Menschen anzieht, sehen manche, vor allem in den Städten, den wachsenden Einfluss der Kirche auch kritisch. »Die Muttergottes muss neuerdings für Vieles herhalten. Vor allem muss sie Tito ersetzen«, erklärt mir Duska, eine junge Kroatin aus Zagreb in sarkastischem Ton.

Volksfest und Heiligenverehrung
In der Stadt herrscht seit Tagen Volksfeststimmung. In den engen Gassen drängen sich die Menschenmassen und ein Durchkommen ist kaum möglich. Überall sind Grills aufgebaut: gegrillte Cevapcici, gegrilltes Lamm, gegrilltes Spanferkel. Aus allen Kneipen und Cafes plärrt lauter Balkanpop. Im Stadtpark hat ein Rummel mit Karussells, Autoscooter, Wurf- und Losbuden seine Zelte aufgeschlagen.

Das Spektakel reicht fast direkt bis vor den Marienaltar, weil den Gläubigen die Kirchentore die ganze Nacht über offen stehen. In der Nacht vom 14. auf den 15. August strömen Zehntausende von Pilgern vom Rummel direkt in die Kirche und umrunden betend das erleuchtete Marienbildnis. An den Ecken des Altars stehen kleine Holzkästchen, in die die Gläubigen Spenden werfen. Alle halbe Stunde müssen sie geleert werden, so schnell füllen sie sich. Vor der Kirche kann man für den Preis von 50 Kuna, ca. 8 Euro, eine heilige Messe für verstorbene Angehörige bestellen. Der Name der betreffenden Person wird dann während eines der zahlreichen Gottesdienste verlesen und in die Gebete mit eingeschlossen.

Der nächste Tag beginnt um sieben Uhr mit Kanonenschüssen, die von der Festungskapelle abgefeuert werden und an den Angriff 1715 erinnern. In der Kirche hängen Franziskaner derweil das wundertätige Bildnis vom Marienaltar ab und befestigen es auf einer Bahre, um es bei der Prozession durch die Stadt zu tragen. Im Innenhof des Klosters sind unter großen Sonnenschirmen Beichtstühle aufgestellt. Die Menschen stehen zu Hunderten an. Einige junge Frauen verkürzen sich die Wartezeit, indem sie mit ihren Mobiltelefonen emsig Kurznachrichten verschicken oder telefonieren. »Ich schaffe etwa 20 Beichten pro Stunde, manchmal auch 30«, sagt Fra Zvonko, für den das Abnehmen der Beichte zur unliebsamsten Tätigkeit seines Priesteramtes gehört. »Ich würde mir viel lieber mehr Zeit für jeden Einzelnen nehmen.«

Während der Prozession folgt ein unüberschaubarer Zug von Gläubigen dem »wundertätigen Bildnis der Muttergottes von Sinj«. Immer wieder versuchen Menschen das Gemälde zu berühren, weil sie glauben, dass sie durch den Kontakt von Krankheiten oder anderen Gebrechen geheilt werden. Ein Franziskanermönch mit Funkgerät läuft aufgeregt hin und her und koordiniert den Pilgerstrom. Die Gesänge und Gebete der Pilger werden scheppernd über Lautsprecher übertragen. Das Marienbild wird abwechselnd von Repräsentanten verschiedener Gruppen getragen: zuerst von Soldaten der kroatischen Armee und dann von den Alkari, den Reitern in ihren historischen Kostümen. Später folgen Franziskaner, diverse Polizeibrigaden, Nonnen sowie Mädchen in lokalen Trachten. Die Prozession führt quer durch die Altstadt und dann zurück zur Franziskanerkirche.

Auf dem Trg Franje Tudmana, dem Platz, der nach dem ersten Präsidenten der kroatischen Republik Dr. Franjo Tudman benannt ist, versammeln sich nach und nach Zehntausende Gläubige zur Eucharistiefeier. Der Bischof, der aus Split angereist ist, erinnert in seiner Predigt noch einmal an die Marienerscheinung, die historische Schlacht 1715 und die tapferen Soldaten aus Sinj. Branitelji, Vaterlandsverteidiger, nennt er sie und verwendet dabei den offiziellen Begriff, der eigentlich den Soldaten des kroatischen Unabhängigkeitskrieges vorbehalten ist. Diese Verknüpfung zwischen historischen und aktuellen Kriegsereignissen ist ein gängiges rhetorisches Mittel, anhand dessen die jeweiligen Kontrahenten unter der Bezeichnung »Angreifer aus dem Osten« zusammengefasst werden. Damit wird auf symbolischer Ebene der Krieg der 1990er Jahre mit dem Widerstand gegen die Truppen der Osmanen verglichen und als militärische Verteidigung der Grenzen des »christlichen Europas« gerechtfertigt. Kroatien wird in der historischen Rolle als »Bollwerk des Christentums« inszeniert, als Land, das für entsprechende Militäraktionen gewürdigt und nicht wegen begangener Kriegsverbrechen angeklagt werden sollte.

Der Umgang mit der eigenen Kriegsvergangenheit – und damit die Auseinandersetzung mit der Schuldfrage – ist gegenwärtig eines der brisantesten Themen in der kroatischen Innen- und Außenpolitik. Die Fortsetzung der EU-Beitrittsverhandlungen hängt nicht zuletzt von der Kooperation des Landes mit dem Kriegsverbrechertribunal in Den Haag und damit einem impliziten Schuldeingeständnis ab. Aber die angeklagten Ex-Generäle Mirko Norac und Ante Gotovina werden von einem großen Teil der Bevölkerung nach wie vor als Nationalhelden und nicht als Kriegsverbrecher wahrgenommen. Die Regierungskoalition steht vor einer Zerreißprobe, will sie ihren Rückhalt und ihre Glaubwürdigkeit in der Bevölkerung nicht verlieren, aber trotzdem die Beitrittsverhandlungen mit Brüssel vorantreiben.

Auf lokaler Ebene formiert sich in Kroatien derzeit eine Protestbewegung gegen überregionale Einflüsse, die auf eine lange Tradition des militärischen Widerstandes verweist. Die Aktion der alten Frau, die am Rande der Marienprozession gegen die Auslieferung von General Norac demonstriert, zeigt, dass religiöse Bilder, Erzählungen und Kulte in dem kleinen Land am südöstlichen Rand des neuen Europas jederzeit mobilisiert und mit Bezug auf aktuelle Ereignisse politisiert werden können. 



 
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