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polar #3: Religion und Kritik



EDITORIAL

 
Peter Siller, Bertram Keller
Editorial



QUESTIO

 
Steffen Sigmund
Am Kap der guten Hoffnung
Das religiöse Feld als Bühne gesellschaftlicher Konflikte
 
David Strecker
Modernisierung = Säkularisierung?
Betrachtungen zu einer altbekannten Gleichung
 
Stefan Grotfeld, Stefan Huster
Kontroverse: >Öffentliche Religion<
 
 

Nilüfer Göle

Alla Turca?

Laizität in Frankreich und der Türkei


Die Moslems sind da, and they're here to stay. Das irritiert die demokratische Öffentlichkeit. Aber müssen die Verteidiger des Laizismus so oberlehrerhaft und autoritär sein? Ein vergleichender Blick auf Frankreich und die Türkei.

Innerhalb Europas ist der französische Laizismus die Ausnahme. Auf die Modernisierung außereuropäischer Länder hatte er aber ungeheuren Einfluss. Laizismus und Positivismus dienten insbesondere in der Türkei als die beiden Stützpfeiler des Modernisierungsprojekts. Die positivistische Devise Fortschritt und Ordnung hat die Ansicht der Modernisierer gestützt, dass sich die laizistischen Reformen in einer islamischen Gesellschaft nur in einem nationalen Rahmen durchführen lassen. Solch ein zentralistisches Modell sozialen Wandels findet im französischen Jakobinismus, nicht im angelsächsischen Liberalismus sein Vorbild. Da es die Säkularisierung eher als politisches Projekt denn als gesellschaftlichen Prozess begreift, sprechen wir von Laizismus oder Säkularismus. Die Präsenz des Islam im Inneren und an den Grenzen Europas stellt auch das europäische Projekt vor neue Fragen und verändert es. Die Türkei kommt dabei vor allem in ihrer Differenz zu Europa, als das Andere Europas in den Blick. Dieser Blick wird auch dadurch verengt, dass der türkische Laizismus gewöhnlich am französischen gemessen wird. Es wäre aber genauso notwendig, die umgekehrte Perspektive einzunehmen und das europäische Projekt sowie das französische Modell im Spiegel der türkischen Erfahrung zu hinterfragen.

Schleier und Schule
Sowohl in der Türkei als auch in Frankreich wird das Verhältnis zwischen Republik und Islam unter dem Begriff des Laizismus verhandelt. In Frankreich haben wir es mit einem aus der Einwanderung gewachsenen Islam, in der Türkei mit einem Islam zu tun, der in einen autoritären Prozess der Verwestlichung verwickelt ist. Auf Frankreich lasten die koloniale Vergangenheit und das algerische Trauma, auf der Türkei die Auflösung des Osmanischen Reiches und der Aufstieg des säkularen Nationalismus. Die Säkularisierung des öffentlichen Raumes war im Frankreich der Dritten Republik (1870-1940) Teil des Demokratisierungsprozesses. In der Türkei hingegen wird die Laizität eher als conditio sine qua non der Modernisierung als der Demokratie verstanden. Der Laizismus als modernistische Ideologie stand in enger Verbindung mit autoritären staatlichen Praktiken zur Kontrolle des öffentlichen Raums, die erst mit der 1950 einsetzenden Demokratisierung weniger rigide Formen annahmen, angesichts des politischen Islamismus heute aber wieder erstarken.

Der Streit um das Kopftuch wirft dabei sowohl in der Türkei als auch in Frankreich ein neues Licht auf das Verhältnis von Republik und Islam. Sowohl in Frankreich als auch in der Türkei verschränken sich Republik und Laizität. Im Unterschied zum meist langwierigen Prozess der Säkularisierung zeugt die Laizität vom politischen Willen des Staates, mit bestimmten Institutionen auch die entsprechenden Formen des sozialen Lebens zu schaffen. Im Fall der kemalistischen Türkei sollte eine Reihe juristischer Neuerungen eine neue gesellschaftliche Ordnung instituieren. Entscheidende Schritte waren die Zentralisierung der Erziehung und die Ausbildung einer nationalen Elite. Dieses Monopol unterstreicht, wie wichtig die Schule war und ist: Individuen werden von ihren traditionellen und religiösen Wurzeln abgetrennt und auf das Leben als Staatsbürger vorbereitet. Hier, im Herzen der Republik, droht das Auftauchen des Kopftuchs einen gefährlichen Präzedenzfall zu schaffen.

Didactic Secularism
Den Türkinnen wurde das Wahlrecht schon 1935, also zehn Jahre vor den Französinnen zugestanden. Das ist keine historische Anomalie, sondern zeigt die Verbindung zwischen Republik und Laizität, die sich in einem muslimischen Land nur über die Rolle der Frau etablieren lässt. In der Türkei spielte die Frauenfrage seit der Gründung der Republik 1923 eine zentrale Rolle. Staatsbürgerschaft wurde definiert über die Emanzipation der Frauen von der Religion, ihren Zugang zu Bildung und ihre Partizipation am öffentlichen Leben. Das ist die feministische Seite des Kemalismus. Die Laizität war zugleich Vorbedingung der Gleichheit der Geschlechter und der Emanzipation der Frau. Der Laizismus definiert sich nicht exklusiv über die Autonomie des Politischen gegenüber dem Religiösen, sondern auch durch eine neue Grenzziehung zwischen dem Privaten und dem Öffentlichen. Diese Konvergenz zwischen Laizität, Frauenrechten und modernen Lebensweisen liegt den gegenwärtigen Debatten über das Kopftuch zugrunde.

Laizität sollte auch zur Organisation und Harmonisierung des Zusammenlebens der türkischen Bevölkerung beitragen. Wie zuvor in Frankreich formte die kemalistische Republik das soziale Leben, indem sie die Maßeinheiten, den Kalender, die Schrift und die Sprache reformierte und damit einen eindeutigen Bruch mit der Vergangenheit proklamierte. Durch diese Reformen wandte sich die Türkei von der arabischen Zivilisation ab und Europa zu. Die soziale Praxis lässt sich durch das Recht ändern, wie die Einführung eines Zivilgesetzbuches und der damit verbundene Bruch mit dem religiösen Recht, der Scharia, zeigen. Die Regelung des Privatlebens, der Familie und der Rechte der Frau wurde damit der religiösen Sphäre entzogen. Das Recht ist nicht das Ergebnis eines gesellschaftlichen Prozesses, sondern erscheint als didaktisches Instrument zur Veränderung der Sitten und kulturellen Gewohnheiten und zur Ermutigung, Einübung und Auferlegung neuer sozialer Praktiken (deshalb spricht Ernest Gellner von einem »didactic secularism«). Ebenso scheint das Gesetz zum Verbot des Schleiers in französischen Schulen der – »zivilisatorischen und emanzipatorischen« – Mission der Verbreitung der Werte der Republik und insbesondere der Gleichheit der Geschlechter zu dienen. Die verstärkte »Wiederverschleierung« muslimischer Frauen seit den 1980er Jahren hat dabei in der Türkei eine Gegenbewegung zur Verteidigung der Laizität hervorgerufen, die ebenfalls größtenteils von Frauen getragen wird. Das lange Zeit von oben auferlegte kemalistische Projekt wird nun durch einen vitalen zivilgesellschaftlichen Aktivismus wieder aufgenommen.

In Frankreich hingegen ist die Verbindung zwischen Laizität und der Gleichheit der Geschlechter erst in Auseinandersetzung mit dem Islam hervorgetreten. Nicht ohne Ironie lässt sich deshalb sagen, dass erst der Kopftuchstreit die französische Republik feminisiert habe. Zugleich ist das »verschleierte Mädchen« in der öffentlichen Wahrnehmung der Einwanderer an die Stelle des »Gastarbeiters« getreten.

Türkischer Mauerfall
Neben der weitgehenden politischen Gleichstellung der Frau hat die Türkei angesichts eines selbstbewusster auftretenden Islam versucht, einen nationalen Islam zu schaffen, der mit der republikanischen Laizität vereinbar ist. Der türkische Staat regelt die religiösen Angelegenheiten, so dass man weder von einer Autonomie des Religiösen noch von einer Neutralität des Staates sprechen kann. Der sunnitische Mehrheitsislam stellt die unausgesprochene »offizielle« Religion dar, die heute auch gegen den radikalen Islamismus verteidigt werden soll.

Diese Kontrolle des Islam führte allerdings auch zu einer autoritären und repressiven Politik gegenüber zivilgesellschaftlichen Ausdrucksformen des Islam. Gestützt durch die laizistische öffentliche Meinung hat der Staat mehrfach auf das Militär zurückgegriffen, um die republikanische Laizität durchzusetzen. Laizität und Demokratie gehen also nicht immer Hand in Hand. Eine Demokratisierung der Türkei muss die klare Trennung zwischen laizistischem und republikanischem Staat auf der einen und ethnisch und religiös heterogener Gesellschaft auf der anderen Seite überwinden.

Diese trennende Mauer wurde seit den 1950er und beschleunigt seit den 1980er Jahren durchlässiger. Damals kam es zu ersten runden Tischen, an denen islamische Intellektuelle mit ihren laizistischen Gegenübern diskutieren konnten. TV-Sender und Zeitschriften übernahmen die Vermittlerrolle und heute ist es fast normal, dass Linksintellektuelle in religiösen Zeitungen schreiben. Im Gegenzug sind viele muslimische Intellektuelle, die früher dem radikalen Islam anhingen, zu Demokraten geworden und schreiben in den großen Tageszeitungen. Medien und Universitäten, aber auch das Parlament stellen die Schnittstellen bereit und ermöglichen eine Debatte, an der sich die Gesellschaft als Ganze beteiligen kann. Natürlich läuft dieser Prozess nicht ohne wechselseitige Verletzungen und Verdächtigungen ab. Und er ist lange nicht abgeschlossen, sondern noch immer in der Experimentierphase.

Sowohl in der Türkei als auch in Frankreich sucht der Islam die öffentliche Sichtbarkeit.  Warum aber sorgt das Kopftuch für so große Aufregung? Der Grund liegt sicherlich darin, dass das Kopftuch die Präsenz des Islam für die breite Öffentlichkeit sichtbarer macht. Die jungen Kopftuchträgerinnen entstammen den urbanen Zentren und besuchen die Schulen und Unis der modernen Republik. Die verschleierten Frauen der ersten Einwanderergeneration störten in Frankreich ebenso wenig wie in den Vororten Istanbuls, weil sie in beiden Fällen unsichtbar blieben. Aber ihre Töchter ziehen die Grenzen zwischen privat und öffentlich neu und tragen die islamische Differenz in die Institutionen der Republik selbst. Auf dem Boden der Moderne kündigen sie das Einverständnis mit den Regeln der Laizität auf. Die Frau wird somit – als Bürgerin der Republik und als islamische Kopftuchträgerin – für beide Seiten zur Schlüsselfigur.

Vom verordneten zum konsensuellen Säkularismus?
Damit ändert sich das Verhältnis von Öffentlichkeit und Differenz. Einerseits konvergieren Republik und Öffentlichkeit, etwa wenn Frauen zu offiziellen Zeremonien keine Kopftücher tragen dürfen. Andererseits bedarf jede Demokratie einer autonomen Öffentlichkeit, die zwischen Staat und Bürgerschaft vermittelt und in der soziale Probleme in all ihrer Ambivalenz zum Ausdruck kommen können. Das europäische Projekt legt hier eine demokratische Rahmung sozialer Auseinandersetzungen nahe. Seine bloße Präsenz löste eine innertürkische Transformation aus, die Optionen jenseits der identitären Fixierungen von Nationalismus und Islamismus eröffnet. Die Hardliner unter den Republikanern sind die größten Europa-Skeptiker, da sie den Nexus zwischen Laizität und autoritärer staatlicher Garantiemacht zerbrechen sehen. Die Demokraten hingegen vertreten mit zunehmendem Einfluss ein inklusiveres Verständnis der Laizität. Ihres Erachtens muss die öffentliche Sichtbarkeit des Islam die Prinzipien der Republik nicht in Frage stellen.

Die Beitrittsperspektive hat es der Türkei erlaubt, das autoritäre Verständnis der Republik ein Stück weit hinter sich zu lassen und einen politischen Konsens zwischen der laizistischen und der islamischen Türkei zu schaffen. Allerdings besteht die Gefahr, dass Europa sich angesichts der Präsenz des Islam in durch partikulare Traditionen bestimmte Grenzen zurückzieht. Den aktuellen Herausforderungen kann aber nur eine säkulare und universalistische Fassung des europäischen Projekts gerecht werden. 

Aus dem Französischen von Robin Celikates

 



 
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