Aram Lintzel
>Herausforderung<
Zur Herausforderung kann schlichtweg alles werden, es gibt die Herausforderung der Globalisierung, die Herausforderung des Islam, der Demografie, des Klimawandels, des Frühaufstehens, der Medien etc. Der Begriff ist ein allseits bereites Passepartout, wenn es darum geht, visionäre Kompetenz und Handlungsbereitschaft zu reklamieren. In Editorials, Vorwörtern und Leitartikeln findet sich der Kampfbegriff besonders oft. Wenn etwas in der Welt neue Fragen aufwirft und schnelle Antworten erwartet werden, ermöglicht dieses Etikett ein Spiel auf Zeit. Die Konsequenzen können im Nebulösen verbleiben, der Redner beweist Weitblick, ohne ins Detail gehen zu müssen. Wir wissen zwar nicht, wozu Globalisierung genau führt, aber gut, dass wir wenigstens wissen, dass es sich um eine Herausforderung handelt. Der Begriff schillert, denn er verweist auf eine abstrakte Krisenstimmung und entschärft diese zugleich: Wer etwa den Gemeinplatz deklamiert, »der Islam« sei eine »Herausforderung für die westliche Welt«, sorgt bei seinen Zuhörern zugleich für Beunruhigung und Besänftigung. Denn er/sie gibt zu verstehen, dass er/sie auf der Hut ist und bereit, das »Eigene« gegen die »Herausforderung« zu verteidigen. Bestehen kann in einer Welt permanenter Herausforderungen schließlich nur, wer diese auch »annimmt«. Wer eine Herausforderung nicht erkennt und sich dieser nicht stellt, der hat schon verloren, bevor es richtig losgeht. Der ist in einer kommunikativ vernetzten Gegenwart, in der Folgenlosigkeit und Antwortverweigerung Sünden sind, sozusagen ein Totalausfall.
Für Meinungsführer aller Sparten ist es deswegen unerlässlich, in diesem Stellungskrieg gegen das Heer der Herausforderungen Abwehrstärke zu beweisen und darüber hinaus in die Offensive zu gehen, am besten mit »kreativen Antworten«.
Es ist schließlich erwünscht, dass die Herausforderung ihren Adressaten aus »verkrusteten Strukturen« herausbefördert und ihn dazu bringt, gewohnte Pfade zu verlassen. Im besten Falle springt für die Manager des Unerwarteten ein postheroisches Heldentum heraus.
So ist es kein Wunder, dass die »Herausforderung« in den notorischen Lebensratgebern, Selbstmanagement-Leitfäden und Glückswegweisern einschlägig ist: Nur wer »persönliche« und »neue« Herausforderungen sucht und findet, lebt ein sinnvolles, aufregendes und erfolgreiches Leben. Überaus elastisch fügt sich der Begriff in die Anrufungen einer Risikoökonomie ein, die den Einzelnen ohne Unterlass aktiviert und aus den Routinen reißt. »Hey du da, kämpfe mit mir!«, sagt die Herausforderung zum herausgeforderten Subjekt. Das gewährt denjenigen, die sich als Herausforderungssucher und -annehmer gerieren, einigen symbolischen Profit, alle anderen dürfen nämlich als Drückeberger und Weicheier denunziert werden.
Während man den »persönlichen Herausforderungen« mit einem selbstgenügsamen »I prefer not to« aus dem Weg gehen könnte, sind die angeblichen kollektiven »Herausforderungen« – also die, die uns alle als Zeitgenossen angehen – weniger leicht abzuschütteln. Die entscheidende ideologische Operation des Begriffs liegt hier darin, dass er komplexe gesellschaftliche Verhältnisse entmischt und überschaubar macht. Wo Komplexität ist, soll Zweikampf sein: Hier sind »wir« (wahlweise der Westen, die Politik,die Literaturwissenschaft usw.), dort ist die Herausforderung (der Orient, die Globalisierung, die Medien usw.). Dass Herausforderung und Herausgefordertes immer schon ineinander verschlungen sind, dass das eine immer schon im anderen stattfindet, wird so unterschlagen. Solche Tropen der Herausforderung verleugnen, dass es kein westliches Selbstbild ohne Orient, kein politisches Handeln jenseits der Globalisierung, keine Literaturwissenschaft vor den Medien gibt usw. So dynamisch und allseits bereit sich die Standby-Rede von den »Herausforderungen« gibt – in Wirklichkeit ist sie ein Manöver des konservativen Wertediskurses: Immer dann, wenn es unübersichtlich wird, macht sie uns glauben, es gäbe etwas Vorgängiges zu bewahren. Sie hält die Irritationen vom Hals. Das Versprechen jeder »Herausforderung« ist letztlich nicht das unbekannte Neue, sondern das intakte Alte, das die Herausforderung besteht und übersteht. Aus der Reserve gelockt werden sollen funktionierende Subjekte und Verhältnisse, damit sie besser funktionieren denn je zuvor.