In einer freiheitlichen Ordnung muss man sich darauf verlassen können, dass die öffentliche Gewalt die identitätsprägenden Eigenschaften, Überzeugungen und Lebensformen - Geschlecht, ethnische Herkunft, Religion, sexuelle Ausrichtung -, in denen sich die Bürger unterscheiden, nicht zum Anlass für Privilegierungen oder Benachteiligungen nimmt. Erst die grundsätzliche »Blindheit« des staatlichen Rechts und der staatlichen Institutionen gegenüber derartigen Differenzen ermöglicht individuelle Freiheit und Gleichheit. Gewährleistet wird sie in modernen Verfassungsordnungen durch Diskriminierungsverbote, die den Staat insoweit zur Neutralität verpflichten.Es wäre aber ein fundamentales Missverständnis, ginge man davon aus, dass sich das Rech gegenüber Persönlichkeitsmerkmalen und Lebensformen blind stellen muss, weil sie ohne tiefere Bedeutung seien. Ganz im Gegenteil: Gerade weil sie die persönliche Identität prägen und zudem äußerst umstritten und konfliktträchtig sein können, sind sie im Interesse staatsbürgerlicher Gleichheit der rechtlichen Bewertung entzogen. Umgekehrt heißt dies auch, dass die Neutralität nicht von den Bürgern gefordert werden kann. Sie dürfen sich mit ihren Überzeugungen und Lebensformen identifizieren und andere Ansichten kritisieren - und sollen dies sogar tun, wie die Vordenker freiheitlicher Gesellschaftsordnungen immer wieder betont haben: Ohne einen Wettbewerb und eine Auseinandersetzung der Überzeugungen und Lebensformen werden wir nämlich nicht herausfinden können, welche die wahren und richtigen sind. In pluralistischen Gesellschaften wird es daher immer tiefgreifende Konflikte geben; manche Menschen werden die Überzeugungen und Lebensformen ihrer Mitbürger für grundfalsch und verderblich halten und intensive Zu- und Abneigungen entwickeln.
Vor diesem Hintergrund ist es zweifelhaft, ob es legitim und klug ist, die Bürger durch ein zivilrechtliches Antidiskriminierungsgesetz zu einer Indifferenz gegenüber allen Unterschieden zu zwingen, die nun einmal bestehen. Der klassische Begriff der Toleranz bringt zum Ausdruck, welche Haltung die Mitglieder einer pluralistischen Gesellschaft besitzen müssen: die Fähigkeit zum friedlichen und gleichberechtigten Zusammenleben, obwohl man viele Überzeugungen und Lebensformen seiner Mitbürger entschieden ablehnt. Diese Ablehnungskomponente, die den Toleranzbegriff definiert, weist zugleich darauf hin, dass es sich dabei um eine anspruchsvolle Tugend handelt, die nicht überstrapaziert werden darf. Sünder, Falschgläubige und Verblendete als Mitglieder derselben Gesellschaft akzeptieren zu müssen, ist schon schwer genug; man muss ihnen aber wenigstens im persönlichen Nahbereich aus dem Wege gehen können. Eine Antidiskriminierungsgesetzgebung, die beispielsweise zur umfassenden Gleichbehandlung auch bei der Vermietung einer Einliegerwohnung verpflichtet, überfordert die Bürger.
Den Befürwortern eines weitreichenden Antidiskriminierungsrechts scheint die Vision einer Gesellschaft vor Augen zu stehen, in der sich alle Uneinigkeiten, wie man leben soll, aufgelöst oder auf bedeutungslose Geschmacksfragen reduziert haben. Dies ist aber weder realistisch noch erstrebenswert. Für moderne Gesellschaften ist es charakteristisch, dass es ihre Mitglieder miteinander aushalten, obwohl sie in zentralen Fragen von Weltanschauung und Lebensführung unterschiedlicher Meinung sind. Ist es aber für die »ausgegrenzten« und »diskriminierten« Gruppen nicht doch tragisch, immer wieder erleben zu müssen, dass ihre Überzeugungen und ihre Lebensweise abgelehnt werden? Zweifellos ist das nicht immer einfach zu ertragen, aber in einer freiheitlichen Ordnung nicht zu vermeiden. Anerkennung muss erkämpft und erstritten werden; das Recht kann diese Entwicklung schon deshalb nicht paterwonalistisch vorwegnehmen, weil es dem Staat aufgrund seiner Verpflichtung zur Neutralität vielfach gar nicht ansteht zu entscheiden, was Sinn und was Unsinn ist. Hier sollte das Urteil der Bürger seine Funktion erfüllen. Wenn etwa die Mitglieder der Zeugen Jehovas durch ihre fehlende gesellschaftliche Anerkennung dazu gebracht würden, nochmals darüber nachzudenken, ob sie mit ihrer »Morgen geht die Welt unter«-Ideologie wirklich richtig liegen, wäre das nicht unbedingt ein Schaden. Nicht alles verdient schließlich die Anerkennung, die es erheischt.
Tatsächlich muss in einem Sozialstaat sichergestellt werden, dass jeder - welche Vorbehalte ihm gegenüber auch bestehen - an den üblichen gesellschaftlichen Zusammenhängen teilnehmen kann. Dies mag für ein bedarfsbezogenes, gruppen- und bereichsspezifisches Antidiskriminierungsrecht sprechen; das rechtfertigt aber nicht, die Rechtsbeziehungen zwischen den Bürgern umfassend mit den üblichen Folterinstrumenten des Gleichstellungsrechts - Beweislastumkehr, Verbandsklagerecht usw. - zu überziehen. Eine etwas robustere Deutung des Zusammenlebens, die die Konflikte in einer pluralistischen Gesellschaft in Rechnung stellt, könnte dabei helfen, eine Überforderung der Bürger und des staatlichen Rechts zu vermeiden. Man kann die Freiheit nicht in Watte packen, ohne sie zu ersticken.