Das Online-Magazin zur Zeitschrift | HALBJAHRESMAGAZIN polar






polar #1: Politisierung



EDITORIAL

 
Peter Siller, Bertram Keller
Editorial



AUFKLÄRUNG

 
Peter Siller / Arnd Pollmann
Anstiftung zum Uncoolsein
Warum Politisierung Not tut
 
Barbara Gärtner
Das Gehirn ist nur ein Platzhalter
Die Bürgerkonferenz ''Meeting of Minds''
 
Der wahre Text: 'Strategen Reden'
Neue Berliner Sprachkritik
 
Rudolf Speth
Miese Expertise
Von Think Tanks, Consultants und anderen Ãœbeln
 
Bertram Keller
''Ich bin ein großer Fan des Staates''
Interview mit Martti Koskenniemi
 
Raul Zelik
Aufbegehren, Krieg, Staatlichkeit
Zwei Exempel aus Lateinamerika
 
Klaas Glenewinkel / Anja Wollenberg
Die Wanderung des UKW-Dialers
Zur Mediensituation im Irak
 
Robert Misik
Jetzt sauf ma uns an
Kultur als Standort- und Störfaktor
 
Simon Rothöhler
Keine Heimat an den Rändern
Vom Standortvorteil des Films an der Peripherie
 
 

Michael Eggers / Sebastian Richter

Reality bites

Die neue Dokumentarkunst


Michael Moore dreht keine politischen Filme. Wer medial intervenieren will, zeigt nicht, wie es wirklich ist, sondern wie wir es uns gerade wirklich machen.

Als im März 2002 der damalige Bundestagspräsident Wolfgang Thierse »das Ansehen und die Würde des Deutschen Bundestages beeinträchtigt« sah, war es nicht etwa ein polternder Rechtsradikaler am Rednerpult, der die Missbilligung des obersten Volksvertreters auf sich zog. Es ging vielmehr um ein Theaterstück. Thierse verhinderte damals, dass das Regieteam Rimini- Protokoll, bestehend aus Helgard Haug, Stefan Kaegi und Daniel Wetzel, den ausgedienten Plenarsaal des Bonner Bundestages als Spielstätte für eine Aufführung nutzten, die ihre Brisanz nicht etwa aus exzessiven Grenzüberschreitungen auf der Bühne gewann, sondern aus einem denkbar simplen Ansatz: Laiendarsteller spielten Bundestagsabgeordnete, und zwar in einer Art Live-Übertragung, als Kopie der echten Politik. Der jeweilige Akteur hatte die Tonspur der zeitgleich stattfindenden Debatte im Berliner Reichstagsgebäude im Ohr und sprach sie nach, mit eigener Stimme und Betonung, vor einem »Plenum« und Publikum. Echtzeit und Echttext, aber Bonn statt Berlin und Volk statt Volksvertreter.

Während Thierse als Vorsitzender des Kunstbeirats zugleich darum bemüht war, durch die Ausstaffierung des Bundestags mit Gegenwartskunst dessen symbolisches (und ökonomisches) Gewicht zu steigern, war ihm diese theatrale Verdoppelung des Parlaments doch zu unbehaglich. Ein Zeichen dafür, wie wirksam eine ästhetische Strategie sein kann, die Realität abbildet, ohne realistisch zu sein. Rimini-Protokoll, die ihren Inszenierungsstil selbst als dokumentarisch beschreiben, gehören zu den einfallsreichsten Vertretern einer Entwicklung, die gegenwärtig nicht nur im Theater zu beobachten ist. Ob dieser Trend mit dem summarischen Genrebegriff des Dokumentarischen adäquat erfasst wird, ist jedoch mehr als fraglich. Zwar arbeiten Rimini-Protokoll mit Dokumenten im weitesten Sinne – wie Redetexten von Bundestagsabgeordneten bei »Deutschland 2« oder auch dem Verschneiden von Schillers »Wallenstein« mit den »wirklichen« Lebensgeschichten der Darsteller in einer ihrer jüngeren Theaterarbeiten. Aber das ist nicht der Punkt – entscheidend ist vielmehr die Umstülpung der Realität. Was ist wohl realer: die erste Debatte in Berlin oder die zweite in Bonn, gespielt von denen, für die und in deren Namen die erste stattfindet? Und die endlich mal mit eigener Stimme für sich selbst sprechen können – allerdings ohne Einfluss darauf zu haben, was sie dabei sagen? Unmittelbarer als bei diesem künstlerischen Ansatz könnte eine Orientierung an der Wirklichkeit kaum sein. Und doch wird diese Wirklichkeit auf den Kopf gestellt, ihrer Autorität getrotzt.

Als Vorbild ihres dokumentarischen Theaters dient Rimini-Protokoll damit weniger das Aufzeichnungsmedium Film mit seinem scheinbar objektiven Zeigegestus, sondern vielmehr die experimentelle Praxis der Naturwissenschaften. Elemente der Wirklichkeit (wie authentische Biografien oder gefundene Texte) werden zum Material eines szenischen Experiments: Die Arbeiten von Rimini-Protokoll gleichen Versuchsanordnungen, die keine Ergebnisse produzieren, sondern lediglich Möglichkeiten aufzeigen.

Draußen tobt die soziale Wirklichkeit

Diese Tendenz, das Dokumentarische als Versuchanordnung der Wirklichkeit zu begreifen, ist in den letzten Jahren medien- und genreübergreifend zu beobachten. Auch die Bücher und Theaterstücke von Kathrin Röggla haben keinen vorgefertigten Begriff der Realität. Bevor sie einen Text schreibt, hört Röggla erst einmal genau zu. Sie führt Interviews mit Leuten aus einem bestimmten Teilbereich unserer Gesellschaft: für »wir schlafen nicht« etwa mit Angestellten aus Unternehmensberatungen, für »junk space« mit Teilnehmern von Seminaren gegen Flugangst, zuletzt für »draußen tobt die dunkelziffer« mit Insolvenzberatern und deren Kunden, den Verschuldeten. Die Personen in den Stücken, die sie aus dem gesammelten Material dann zusammenbastelt, sprechen die Sprache derer, die ihr von sich und ihren Erfahrungen erzählt haben. Sie benutzen nicht nur deren Vokabular, sondern reden von dem, was sie so umtreibt, sei es der Versuch, die eigenen Schlafzeiten zu rationalisieren oder die erwartbare, aber unbeherrschbare Panik vor dem Abheben. Wer diese Texte liest oder hört und noch nie zuvor mit Key Account Managern oder Kaufsüchtigen zu tun hatte, dem erschließen sich Parallelwelten. Der ahnt auf einmal (mit Grauen), was für Zwänge und psychische Mechanismen entstehen können, wenn das moderne Subjekt einfach nur funktionieren will. Rögglas Texte machen auf unbehagliche Weise klar, wie wenig selbstverständlich das ist, was wie die Alltagswirklichkeit aussieht, indem sie deren Sprachoberfläche spiegelt, verdichtet und bricht. Es ist eine dokumentarische Kunst im besten Sinne, denn sie zeigt nicht, wie es wirklich war oder ist, sondern wie wir es uns gerade wirklich machen.

Ein filmisches Experiment mit der Wirklichkeit unternehmen auch Andreas Veiel und Lars Kraume. Mit Veiels DIE SPIELWÜTIGEN (2003) und Kraumes KEINE LIEDER ÜBER LIEBE (2005) entstanden zwei filmische Langzeitversuche, die nicht nur die mediale Verwirklichung von Realem, sondern auch klassische Genreeinteilungen in Frage stellen. Andreas Veiel verfolgt in DIE SPIELWÜTIGEN über sieben Jahre den Weg von Schauspielschülern von der Aufnahmeprüfung bis zu ihren ersten Engagements, Lars Kraume begleitet in KEINE LIEDER ÜBER LIEBE eine dreiwöchige Tournee der fiktiven »Hansen-Band«, bestehend aus Musikern der realen Hamburger Bands Kettcar und Tomte sowie dem Schauspieler Jürgen Vogel als Sänger. Obwohl beide Filmprojekte also auf einem ähnlichen Grundszenario basieren, gehören sie scheinbar verschiedenen Genres an: KEINE LIEDER ÜBER LIEDER wurde als Spielfilm vermarktet, Veiels Film als Dokumentarfilm.

Genauer betrachtet weichen diese Genreeinteilungen allerdings auf. So finden sich in DIE SPIELWÜTIGEN nachgestellte Szenen, die Ereignisse zeigen sollen, die sich in Abwesenheit des Regisseurs zugetragen haben. Die Inszenierung wird hier zum Teil der Dokumentation – ohne dass dies besonders gekennzeichnet würde. Dagegen mutet Kraumes Methode fast klassisch dokumentarisch an: Für seinen Spielfilm schickte er seine Schauspieler ohne Drehbuch drei Wochen lang einfach wirklich auf Tournee und ließ sie dabei von einem Kamerateam beobachten. Dieses Verwischen und Erweitern der Genregrenzen blieb nicht ohne Folgen: Die »Hansen Band« ist keine Fiktion mehr – sondern längst auf Tournee durch deutsche Konzertsäle.

In den Filmen Veiels und Kraumes geht es nicht nur um Personen und um eine Handlung. In beiden Fällen wird vielmehr künstlerisches Schaffen auf zweierlei Weise reflektiert. Zunächst ganz direkt, indem es zum Thema wird, sei es das Schauspieltraining oder die Rockmusik. Kunst ist hier nicht mehr nur ein Werk, ein Ergebnis, das vor ein Publikum gestellt wird, sondern wird zugleich in seiner Entstehung gezeigt, in seinen sozialen Einbindungen und Abhängigkeiten und damit in seiner Kontingenz: Diese Inszenierung könnte auch ganz anders aussehen, dieser Song und jener Text ganz anders klingen. Gezeigt wird also, dass die Bedeutung von Werken immer eine gemachte ist. Und damit steht auch die Form des jeweiligen Filmes selbst in Frage: Durch die gleitenden Übergänge zwischen Inszenierung und Wirklichkeit reflektieren diese Filme mit ihren narrativen Mitteln selbst auch immer die Verlässlichkeit dessen, was sie zeigen. So wird Dokumentation fiktionalisiert, oder eben umgekehrt, Fiktionalisierung dokumentiert.

Aufklärerisch wirken, ohne Echtheit zu bezeugen

So unterschiedlich diese Kunst und Erzählformen in der Wahl ihrer Themen und Materialien auch sind – sie haben alle eine gesteigerte Selbstreflexivität, die keinen Wert mehr auf ungebrochene Illusionen legt. Hier wird keine zweite, fiktive Welt entworfen, die sich von der ersten, realen Welt löst oder diese auch nur nachahmt. Hier wird stattdessen tatsächlich gelebtes Leben inszeniert. Der Blick auf das Gezeigte bleibt nicht in der neutralen Beobachterposition, sondern dringt in die Realität ein und verändert sie für unsere Wahrnehmung. Ein solcher Zugriff ist immanent politisch, denn er interessiert sich für tatsächlich stattgefundene Lebensabläufe, deren Bedingungen und wie man über sie sprechen oder sie zeigen kann. Er ist aber nicht in dem Sinne aufklärerisch, wie es die Dokumentarpoetik der 60er und 70er Jahre eines Peter Weiss oder Heinar Kipphardt war, die vergessene Wahrheiten publik machen wollte, sich gezielt gegen mediale Vertuschung einsetzte und politisch Position bezog. In den neuen Formen des Dokumentarischen wird dagegen Wahrheit zur Disposition gestellt, danach gefragt, welchen Einfluss Medien und Kunst auf unser Verständnis der Wirklichkeit und unsere Entscheidungen haben – Ergebnis offen.

Man muss diese neuen künstlerischen Strategien, die die Wirklichkeit zum Thema machen, deshalb deutlich von jenen Formaten abgrenzen, die sich lediglich auf einer formalen Ebene mit den Insignien des Dokumentarischen schmücken. So wird nicht nur bei den privaten Sendern das Vorabendprogramm längst von so genannten Doku-Soaps beherrscht. Low-Budget-Erfolgsserien wie z. B. LENSSEN UND PARTNER oder K11 versuchen über eine Kameraführung im Homevideo-Style und über den Einsatz von Laiendarstellern das Gefühl von Echtheit zu erzeugen. Diesen Serien gelingt es, einen Realitätseffekt zu erzeugen, gerade weil sie so offensichtlich schlecht produziert sind und weil sie mit ihren Plots eine voyeuristische Schaulust erzeugen. Damit stehen sie im deutlichen Gegensatz zu den neuen dokumentarischen Formen, die mit ähnlichen formalen Mitteln etwas ganz anderes schaffen. Wo jene Formate ungebrochen Realität versprechen, experimentieren die neuen Formen des
Dokumentarischen mit der Wirklichkeit: Sie stellen diese auf die Probe, bringen sie in neue Kontexte oder treiben sie auf die Spitze. In diesem Zusammenhang muss man deshalb die Filme Michael Moores als höchst unpolitisch bewerten – obwohl sie mit einem gegenteiligen Anspruch entstanden und weitgehend rezipiert wurden. In ihren ungebrochenen Wirklichkeitsversprechen unterscheiden sich FAHRENHEIT 911 oder BOWLING FOR COLUMBINE im Prinzip kaum von Formaten wie LENSSEN UND PARTNER – außer dass Moores Filme unterhaltsamer und besser produziert sind. Die Arbeiten von Rimini-Protokoll, Röggla, Veiel oder Kraume dagegen unterlaufen das eigene Wirklichkeits- und Authentizitätsversprechen permanent. Sie sind nicht deshalb politisch, weil sie auf einer inhaltlichen Ebene gesellschaftliche Themen bearbeiten: Politisch sind sie vielmehr, weil sie auch die zwangsläufige Inszeniertheit von Realität durch jegliche Form der medialen Darstellung zum Thema machen. 􀂄


 
Aram Lintzel
Sinncontainer: 'Integration'



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