1969 schrieb Helmut Salzinger, promovierter Germanist und erster Pop- (musik)kritiker in Deutschland, der diesen Namen verdient, einen Text für KONKRET, den er »Scheiß Beatles« nannte und es genau so meint – eine ätzende Kritik an der Band.
Diese Kritik lief aber nicht auf den Vorwurf hinaus, den man in einem Monatsmagazin der deutschen Linken vielleicht erwarten konnte: dass die Beatles zu wenig politisch seien, dass sie sich nicht den Erfordernissen des aktuellen Klassenkampfes stellten etc.pp. Salzinger lobt hingegen das Desinteresse der Fab Four an Politik: »Es war gerade das Wichtigste an den Beatles, dass sie unpolitisch waren. Im Rahmen der englischen Klassenstruktur bedeuteten die ›Mods‹ eine wirkliche Revolte gegen die Elterngeneration. Für die Abkömmlinge des Slums war es damals noch ungeheuer revolutionär, durch bloßes Klimpern auf der Gitarre Millionen zu machen, denn die speziellen Auslesetests des Systems verwehrten ihnen von vornherein jeden Zugang zu irgendeiner anderen Karriere mit höherer Schulbildung.« In dem Moment aber, in dem die Beatles sich explizit politisch äußern – Salzinger bezieht sich auf den heute legendären Song »Revolution« vom White Album – kippt es: Sie entpuppen sich als angepasste Klugscheißer. »You say you’ll change the constitution/ Well you know/we all want to change your head/You tell me it’s the institution/Well you know/ You better free your mind instead«.
Die Frage also, wonach sich der Politisiertheitsgrad einer Popmusik bemisst, ist kompliziert, weil dieser sich nicht auf ein paar Merkmale festlegen lässt, sondern aus einer bisweilen sehr brisanten Mischung aus Fremd- und Selbstzuschreibung ergibt. Ein anderes Beispiel: Bob Dylan schnallt sich ab 1965 eine elektrische Gitarre um, das Entsetzen in der Folk-Szene ist groß, alte Freunde wenden sich ab, die Konzerte, die er 65/66 spielt sind tumultartig: auf der einen Seite seine neuen Fans, junge, urbane Kids, auf der anderen die alten Folkies, die, angeblich angestachelt von Ortsgruppen der kommunistischen Partei (so geht tatsächlich ein Gerücht), seine Konzerte nieder zu brüllen versuchen.
Es gibt heute keinen Essay zu Dylan, der diese Wendung – weg vom engagierten, in einem traditionsbewussten Kollektiv eingebetteten Liedermacher, hin zum elektrifizierten, autonomen, cool-arroganten Künstler-Ich – noch problematisieren würde. Es sei doch, so die herrschende Meinung, ebendieser Eigensinn Dylans, diese Mischung aus griffigen Slogans (don’t follow leaders/ better watch your parking meters) und kaum zu entschlüsselnden Textkaskaden, aus Rockriffs und immer noch sehr folkigen und fragilen Songs, aus leicht verwahrlostem Look und Designerklamotten, die ihn zum Rebellen, zum großen Widerständigen gegen die Zeitläufte und ihrem Zwang zum Konformismus machen! Oder?
Tatsächlich steht die Szene, aus der sich Dylan der Legende nach emporgearbeitet hat, für eine basisdemokratische, antikommerzielle Arbeitsweise, ist einer radikalen politischen Tradition (nämlich der zu Beginn des 20. Jahrhundert in den USA sehr präsenten anarchosyndikalistischen Arbeiterbewegung der Wobblies) verpflichtet und getragen von einem Enthusiasmus, der für ständige Diskussionen, ständigen Austausch, ständige Reflexion aller Beteiligten sorgt.
Schamloser Mainstream oder authentische Jugendrevolte?
Zusammengefasst: Was an den Beatles (direkt) politisch ist, ist kaum verhohlener Mainstream. Was an ihnen indirekt politisch ist, das An-sich-sein ihres Klassenstandpunktes (hätte man damals gesagt), ist in der Tat rebellisch. Was an Bob Dylan (direkt) politisch ist, gilt als frühe Episode, die Szene, der er entstammt, als halsstarrig und borniert. Seine Abwendung von der Politik, wird als integraler Bestandteil »jener Jahre«, als ein authentischer Ausdruck der Jugendrevolte verstanden. Dabei kann man mit guten Argumenten Bob Dylans Eingliederung in das kulturindustrielle Starsystem, sein überhebliches Poetengetue, diese Koketterie mit der Unberechenbarkeit, aus der dann letztlich doch sehr berechenbare Produkte und Images folgen, kritisieren.
Solche Wechselspiele könnte man fast beliebig weitertreiben, und dass das so ist, liegt nicht an einer Art Naturgesetz, wonach jede Bewegung auch ihr Anti mit sich bringt (etwa: Ein Mehr an politischen Äußerungen bedeute ein Weniger an künstlerischem Eigensinn), sondern einfach an unterschiedlichen Begriffen von Politisierung. Man kann, ganz vorläufig, zwei unterscheiden: einen engen und einen weiten.
Der junge Dylan entspricht demnach dem engen Begriff, weil er sich an ein bestimmtes Set von ästhetischen Vorgaben zu halten hat, die ihren Ursprung in einer genuin politischen Bewegung haben. Die späten Beatles des »Revolution«-Songs entsprechen ebenfalls dem engen – gibt es doch auch hier klare Vorgaben (Ironie, Abgeklärtheit, milde Resignation), die das Weltbild des Emporkömmlings und Bescheidwissers hervorbringen. Dylan als »autonomer Künstler« hingegen ist weniger politisch in einem direkten Sinne, zeitigt aber die größere politische Wirkung – indem er aus seinem begrenzten Milieu ausbrechend zum (wenn auch widerwilligen) Sprecher einer ganzen Generation wird.
Serielle britische Rockmusik
Heute unterzieht sich in den Popszenen des Westens kaum einer der Mühe, einem engen Politik- bzw. Politisierungsbegriff entsprechen zu wollen, allein schon, weil das keine gute Musik garantiert. Im Gegenteil: Wer so viel auf die politische Karte setzt, muss mindestens ebenso viel auf die musikalisch-ästhetische setzen – um ein adäquates Gegengewicht vorweisen zu können (das beste Beispiel für den deutschsprachigen Raum sind immer noch die Goldenen Zitronen, die ihre Musik parallel zu ihrer politischen Radikalisierung immer krachiger, immer unübersichtlicher, immer offener – im Jazz-Sinne – gestalteten). Großen Anlass zur Klage bietet das nicht – die harte Politisierung, die sich immer auf Quellen und Vorbilder bezieht, die nichts mit Musik und nichts mit Pop zu tun haben, war von jeher Angelegenheit kleiner Szenen. Die Szenen sind heute noch kleiner geworden, aber sie sind zäh. Das kommt wieder.
Aber wie steht es, um ein sehr aktuelles Beispiel zu nennen, mit der Heerschar britischer Retro-Rockbands von Franz Ferdinand über Maximo Park bis Arctic Monkeys? Macht es Sinn, diesen erweiterten bzw. indirekten Politisierungsbegriff, wie er für eine bestimmte Phase Dylans und eine bestimmte Phase der Beatles gegolten hat, auf sie anzuwenden? Man zögert. Das mag hauptsächlich damit zu tun haben, dass diese Musik jetzt vor unseren Augen und Ohren passiert und die Bands, die Plattenindustrie und die trunkene Musikpresse alles daran setzen, diese Musik als absolut überwältigend zu inszenieren. Die Bands sind vollkommen in eine Aufregungsmaschinerie integriert, die sie eben nicht mehr maßlos stilisiert (wie es den Beatles – bekannter als Jesus! – passiert ist), sondern die gnadenlos seriell neue Bands ausspuckt. Für eine Politisierung, und sei sie auch noch so vage unbestimmt, noch so sehr innerlich-pubertär, bleibt da kein Platz. In eine polemische Kurzformel gefasst:
Diese Bands repräsentieren nichts mehr, sondern sind direkter Ausdruck des Narzissmus eines Publikums, das sich vor allem selbst feiern will und dem kleinsten Anflug von Langeweile mit einer neuen – noch jüngeren, noch »britischeren« Band – bekämpft. Um von der indirekten Politisierung zu sprechen, Stoff aller großen Popmusik-Reportagen, bedarf es also eines Künstlersubjekts, das repräsentieren kann, das Brüche und alle möglichen Spuren von »Verrat« und »Abschied« aufweist, mit dem man sich identifizieren möchte und von dem man sich abstoßen muss. Das gibt es zur Zeit nicht, zumindest nicht in den hiesigen (westlichen, kleinbürgerlichen) Popszenen. Wenn aber daraus eine Renaissance der offenen, direkten Politisierung folgt, und sei sie auch noch so bescheiden, dann wäre das immerhin ein Fortschritt.