Das Online-Magazin zur Zeitschrift | HALBJAHRESMAGAZIN polar






polar #1: Politisierung



EDITORIAL

 
Peter Siller, Bertram Keller
Editorial



AUFKLÄRUNG

 
Peter Siller / Arnd Pollmann
Anstiftung zum Uncoolsein
Warum Politisierung Not tut
 
Barbara Gärtner
Das Gehirn ist nur ein Platzhalter
Die Bürgerkonferenz ''Meeting of Minds''
 
Der wahre Text: 'Strategen Reden'
Neue Berliner Sprachkritik
 
Rudolf Speth
Miese Expertise
Von Think Tanks, Consultants und anderen Ãœbeln
 
Bertram Keller
''Ich bin ein großer Fan des Staates''
Interview mit Martti Koskenniemi
 
Raul Zelik
Aufbegehren, Krieg, Staatlichkeit
Zwei Exempel aus Lateinamerika
 
 

Klaas Glenewinkel / Anja Wollenberg

Die Wanderung des UKW-Dialers

Zur Mediensituation im Irak


Der Irak ist gerade einer der gefährlichsten Orte der Welt. Gleichzeitig haben einheimische und ausländische Journalisten erstmals die Chance, ihrem Beruf ohne Zensur nachzugehen. Freier Journalismus im Ausnahmezustand – wie geht das?

Das Radio spricht viele Sprachen: Hocharabisch, Arabisch mit dem irakischen Dialekt, Assyrisch, verschiedene kurdische Dialekte, Turkmenisch und im Südirak inzwischen sogar Persisch. Die Wanderung des UKW-Dialers während einer Autofahrt von Basra über Bagdad nach Erbil ist auch eine Reise durch verschiedene ethno-religiöse und politische Territorien des Irak. In keinem anderen arabischen Land ist die Medienlandschaft so diversifiziert und offen wie im Irak.

Diese Vielfalt ist so jung wie die Konflikte, die sie mit sich bringt. Zu Zeiten der Herrschaft Saddam Husseins bis April 2003 gab es nur eine winzige Anzahl staatlicher Zeitungen und Fernsehkanäle sowie Gesetze, die etwa die Todesstrafe für diejenigen vorsahen, die Kritik am Präsidenten oder seiner Partei übten. Unmittelbar nach dem Fall des Regimes und im Zuge der Besetzung des Iraks trat an die Stelle von Verbot und Kontrolle uneingeschränkte Deregulierung, in dessen Folge das Medienfeld von Verlegern, Journalisten, Lesern, Zuschauern, Widerstandskämpfern und Politikern unterschiedlichster Herkunft bevölkert wurde. Wenige Monate nach dem Fall des Baath-Regimes gab es im Irak bereits über 150 Zeitungen, ähnlich viele Radiosender und fast 100 Internetcafes allein in Bagdad. Ein vielstimmiges Gewimmel von Berichten, Meinungen und Kommentaren bildete fortan einen neuen Resonanzraum für die politischen Debatten im Irak.

Als Betreiber einer Radioagentur im Irak stehen wir in ständigem Kontakt zu Verlegern, Journalisten und medienrelevanten Institutionen. Man kennt sich, und das heißt im Irak: man kennt Motivlage, politisches Lager und Ziele der Produzenten. Nicht immer kennt man die Finanzquellen, fast immer aber Gerüchte darüber. Mit dem Ziel, gemeinsame und gegenläufige Interessen zu präzisieren, haben wir im letzten Jahr mit Chefredakteuren und Betreibern von 22 verschiedenen irakischen Radiostationen in Amman eine Konferenz durchgeführt. Von der Form glich diese Zusammenkunft einem parlamentarischen Ausschuss, in dem Interessensvertreter von Schiiten, Frauen, Assyrern, Christen, Säkularisten, Islamisten, Kurden und Sunniten ihre Standpunkte erläutern. Inhaltlich wurden Unterschiede im Streit um Begriffe ausgetragen: Wer spricht von Widerstand wer von Aufständischen? Wer spricht von Märtyrern, wer von Opfern? Wer schimpft den ehemaligen Präsidenten einen Tyrannen, wer nennt ihn einen ehemaligen Präsidenten?

Zuordnungen von Medien zu Interessensgruppen sind kein Geheimnis, sondern fester Bestandteil dessen, was sich im Irak gerade als neue Meinungsfreiheit entfaltet – eine Freiheit, die auch das Recht zur Meinungsmache umarmt und als solche genutzt wird. Die kulturelle Tradition der Diktatur, Medien als Mittel politischer Propaganda zu nutzen, ist also nicht abgeschafft, sondern in ein anarchisches Kaleidoskop der Perspektiven zersplittert. Viele angesehene Tageszeitungen und Radiostationen werden von Parteien betrieben, andere werden von amerikanischen, iranischen oder saudi-arabischen Quellen finanziert, dritte wiederum gehören zum Iraqi Media Network, dessen Aufbau bereits 2002 im Pentagon begonnen wurde und das als öffentlichrechtliche Rundfunkanstalt im Irak als Sprachrohr amerikanischer Interessen gilt.

Und was denkt der Konsument darüber? Aller Besorgnis zum Trotz verweigert dieser als Leser, Zuhörer oder Zuschauer die Rolle des willfährigen Medienopfers. Die irakische Geschichte hat einen misstrauischen Mediennutzer hervorgebracht, der für den Kontext der Informationsproduktion stärker sensibilisiert ist als sein europäisches Pendant. Al-Jazeera wird selbstverständlich als »anti-amerikanischer« Sender goutiert, Radio Sawa als »amerikanische Marketingplattform« mit guter Musik, die Zeitung Bagdad als Organ der Partei Irakische Eintracht. Bewusster als in Europa werden Medienberichte im Irak als das konsumiert, was sie sind: einseitige und tendenziöse Darstellungen ausgewählter Realitätsausschnitte. »Iraker nutzen in zunehmendem Maße verschiedene Medienquellen für eine ausgewogene, akkurate und zeitnahe Berichterstattung«, erkannte folgerichtig eine Studie zur Mediennutzung im Irak von 2004. In einem Land, in dem 12,4 Millionen Menschen für den Gang zur Wahlurne ihr Leben riskieren, sollte außerdem davon ausgegangen werden, dass sich diese Distanziertheit zu den Medien mit höchster Aufmerksamkeit fürs Politische paart – ohne hier freilich der Illusion Nahrung geben zu wollen, dass die Menge der Wähler mit einem ähnlich hohen Demokratisierungsgrad korreliere.

Und wo stehen die Journalisten? Irakische Medienschaffende, die ihre Mission als moralische Aufgabe und Informationsvermittlung »ohne Hinzufügungen und Streichungen« beschreiben, interessieren sich gemeinhin nicht für die Dramaturgie einer »Story«, nicht für Verführungsstrategien, sondern für Fakten. Anders als im europäischen Umfeld werden der Wahrheitsbegriff und die Möglichkeit der Objektivität dabei nicht hinterfragt. Nicht die Relativität von Wahrheit gilt als Voraussetzung ihrer Herstellung, sondern der feste Glaube an die uneingeschränkte Amoralität der politischen Elite. Sie ist das Ziel der Beobachtung und Enttarnung. Und tatsächlich sind die Zeitungen voll von Berichten über Korruption und Wahlbetrug, über Seilschaften zwischen Politikern und Stammesführern sowie veruntreuten Geldern und Menschenrechtsverletzungen in irakischen Institutionen. In der Zeitung »Adala« wurden beispielsweise mehrere Gründe für eine Amtsenthebung des damaligen Bürgermeisters von Bagdad, Al Tamimi, offen angeführt, »darunter seine Unfähigkeit, völlige Nachlässigkeit seines Personals, der Krebsgang der Dienstleistungen der Stadtverwaltung, Korruption im Amt«. Tamimi habe den größten Teil seiner Amtszeit mit Auslandsreisen auf Amtskosten verbracht und Monatsgehälter in Höhe von 13 Mrd. IQD (ca. 9 Mio. USD) für 4750 Sicherheitsbeamte berechnet, obwohl nur 150 Sicherheitskräfte registriert seien. Ferner habe er unrechtmäßig Grundstücke in Bagdad verkauft und in Verletzung des Debaathifizierungsgesetzes ehemaliges baathistisches Führungspersonal im Amt belassen.

Dieses kleine Orchester: der moralische Journalist, der misstrauische Nutzer und der machtorientierte Produzent haben gemeinsam ein Medienfeuerwerk entfacht, das die arabische Welt noch nicht gesehen hat: eine beispiellose Liberalisierung, die sowohl ohne Markt als auch ohne Regulierung zurechtkommen muss und dafür den Preis der Unabhängigkeit zahlt; Journalisten, die im Machtkampf der Parteien instrumentalisierbar werden, weil sie ein unerreichbares Objektivitätsideal zum Dogma erheben; eine Berichterstattung, die noch nicht in den Zustand der Warenförmigkeit getreten ist und sich deswegen nicht an Auflagen und Einschaltquoten orientieren
muss.

Doch damit könnte jetzt Schluss sein. Zwei gegenläufige Entwicklungen läuten gerade eine Umkehrung der Verhältnisse ein: Kommerzialisierung auf der einen und staatliche Zensur auf der anderen Seite. Bis heute hat sich kein Werbemarkt im Irak entwickeln können und die Anbieter sind auf Zuwendungen und Finanziers angewiesen. Sobald das sinkende Sicherheitsrisiko im Irak eine bestimmte Schwelle unterschreitet, werden wohl ausländische Medienunternehmer verstärkt Einzug halten. Dieses eher freiheitliche Szenario dürfte allerdings überformt werden von staatlichen Einschränkungen, für deren Legitimität bereits Vorsorge getroffen wurde. Die im August 2005 vorläufig verabschiedete Verfassung des Irak zieht Grenzen der Pressefreiheit dort, wo die Werte der »öffentlichen Moral« verletzt werden (Artikel 38). Den im Dezember an die Macht gewählten schiitischen Islamisten der Vereinten Irakischen Allianz wird also maßgeblich die Definition dessen obliegen, was als öffentliche Moral gelten soll. 􀂄



 
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