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polar #1: Politisierung



EDITORIAL

 
Peter Siller, Bertram Keller
Editorial



AUFKLÄRUNG

 
Peter Siller / Arnd Pollmann
Anstiftung zum Uncoolsein
Warum Politisierung Not tut
 
Barbara Gärtner
Das Gehirn ist nur ein Platzhalter
Die Bürgerkonferenz ''Meeting of Minds''
 
Der wahre Text: 'Strategen Reden'
Neue Berliner Sprachkritik
 
Rudolf Speth
Miese Expertise
Von Think Tanks, Consultants und anderen Ãœbeln
 
Bertram Keller
''Ich bin ein großer Fan des Staates''
Interview mit Martti Koskenniemi
 
 

Raul Zelik

Aufbegehren, Krieg, Staatlichkeit

Zwei Exempel aus Lateinamerika


Die Grenzregion am Arauca-Fluss zeigt anschaulich, wie ungleichzeitig Prozesse in Nachbarländern verlaufen können. Während auf kolumbianischer paramilitärische Gruppen ein ständiges Machtvakuum erzeugen, ist auf venezolanischer Seite mit Hugo Chávez ein Staatsführer neuen Typs entstanden.

Dass die Konstellation in Lateinamerika, die gemeinhin als »Linksruck« beschrieben wird, längst nicht so homogen ist, wie der Begriff nahe legt, dürfte sich mittlerweile herumgesprochen haben. Während die Regierungen Brasiliens und Chiles für eine Kontinuität des Neoliberalismus stehen, spricht ihr Pendant in Venezuela vom »Sozialismus des 21. Jahrhunderts«. Und doch gibt es Gemeinsames – allerdings weniger im Sinne eines Trends als vielmehr im Sinne von »politischen Fluchten«, wie man in Anlehnung an Deleuze/Guattari behaupten könnte: Absetzbewegungen, die sich als Reaktionen auf gesellschaftliche Krisen verstehen lassen.

Nirgendwo auf dem amerikanischen Kontinent prallen die politischen Situationen so heftig aufeinander wie an der kolumbianisch-venezolanischen Grenze. In der abgelegenden Savannenregion am Arauca-Fluss zeigt sich das Phänomen »Grenze« in seiner ganzen Eigentümlichkeit. So weit das Auge reicht, erstreckt sich auf beiden Seiten des Stroms die gleiche eintönige Landschaft, begeistert sich die Bevölkerung für Llanera-Musik und pflegt einen
nachlässigen Cowboy-Stil im täglichen Umgang. Zugleich erweist sich hier die Gegenwart des Nationalstaats: Nicht nur Währungen und Militäruniformen sind unterschiedlich, vor allem die politisch-ökonomischen Systeme haben extrem unterschiedliche gesellschaftliche Situationen hervorgebracht. Die USA scheinen auf der venezolanischen Seite in Gestalt von importierten Straßenkreuzern und Fastfood-Drive-Ins zwar sichtbarer, ungleich präsenter sind sie allerdings in Kolumbien. Mehrere Hundert Millionen US-Dollar hat Washington in das Departement Arauca gepumpt; zunächst im Rahmen der Drogen-, dann der Terrorbekämpfung und schließlich – wie es heißt – zum Schutz einer Pipeline. Arauca, das von amnesty international als »Laboratorium des Krieges« bezeichnet wird, ist einer der Schwerpunkte des kolumbianischen Konflikts, die europäischen Botschaften halten die Region für eine no go area. Dementsprechend niedergeschlagen ist die Stimmung in der Bevölkerung. Nicht nur politische Meinungsäußerungen sind faktisch unmöglich, sondern auch eine einigermaßen normale Alltagskommunikation.

Ganz anders auf der Nordseite der Grenze: In Venezuela haben die politischen Veränderungen der vergangenen Jahre eine wahre Bekenntniskultur hervorgebracht. Nach dem Grenzübertritt dauert es keine fünf Minuten, bis man in die erste Diskussion über die »bolivarianische Revolution« verstrickt ist. So gesehen lässt sich die Provinzgrenze als Verdichtung der lateinamerikanischen Verhältnisse interpretieren. Was jedoch geschieht hier mit Staat und Politik?

Politik des Folterns und Outsourcing der Staatsgewalt

Das kolumbianische Arauca gehört seit Jahrzehnten zu den politisiertesten Regionen des Landes. Erst in den 1960er Jahren von Weißen besiedelt, zeichnet sich das Department (wie auch andere kleinbäuerliche Kolonisierungsgebiete Kolumbiens) durch einen hohen Organisationsgrad der Bevölkerung und starke Guerillapräsenz aus. Arauca steht für eine Situation, die gemeinhin mit den 1970er Jahren identifiziert wird: starke soziale Bewegungen, revolutionäre Guerillagruppen, definierte sozialistische Konzepte. Die kolumbianische Regierung ging im Jahr 2002 gegen diese Konstellation mit einer großen Offensive vor. Die Zerschlagung sozialer Alternativen durch den Staat – also das genaue Gegenteil des neuerdings so inflationär konstatierten Staatszerfalls – vollzieht sich dabei in einer neuen, von den Militärdiktaturen der 1970er Jahre grundlegend verschiedenen Weise.

Wie in den Diktaturen Chiles oder Argentiniens beweist sich Staatlichkeit auch in Kolumbien in der Zurschaustellung souveräner Gewalt. Von einer Ökonomie des Strafens, wie sie Foucault beschrieben hat, keine Spur: In öffentlichen Akten werden Kleinbauern und Gewerkschafter aufs Grausamste mit Folterinstrumenten malträtiert, die aus schlechten Horrorfilmen zu stammen scheinen. Geradezu theatralisch wird damit eine extreme Macht-
Ohnmacht-Situation etabliert, die der Bevölkerung vermittelt, keine Chance zu haben. Mit dieser Politik des Folterns wird das Gewaltmonopol bekräftigt, das der Staat aufgrund des Widerstands beträchtlicher Bevölkerungsteile in Frage gestellt sieht. Es handelt sich also um eine extreme Form jener »Dezision«, jener rechtsetzenden Gewalt, die Carl Schmitt zu Anfang des 20. Jahrhunderts als verborgenen Kern von Souveränität und Staatlichkeit ausmachte.

Die kolumbianische Regierung »flieht« jedoch nicht nur vor der Aufstandsdrohung, sie muss sich auch von den Erfahrungen der südamerikanischen Diktaturen wie dem Pinochet-Regime absetzen. Erst der 11. September 2001 hat die Erinnerung an den 11. September 1973 und den von Washington gestützten Staatsterror in Chile verblassen lassen. Die Rückkehr der Rechtsordnung mit den Mitteln Carl Schmitts (auctoritas non veritas facit legem) findet im kolumbianischen Fall deshalb sozusagen outgesourct statt. Die Eliten im Land haben dafür gesorgt, dass der Staat, so weit möglich, nicht selbst den Staatszustand wieder herstellen muss. Paradoxerweise handelt die Regierung also in der Maßlosigkeit des Strafens durchaus »haushaltend«, man könnte von einer Art »Kriegs-Gouvernementalität« sprechen. An dieser Stelle kommt der Warlord ins Spiel, der doch gemeinhin in den Politikwissenschaften immer als Bedrohung der Staatlichkeit bezeichnet wird. Die seit Carl Schmitt so nachhaltig beklagte »Asymmetrie«, die der Partisan angeblich in den Krieg bringt, wird re-symmetriert.

Mit paramilitärischen Strukturen, also der militärischen Organisierung von Zivilisten, ist seit den 1950er Jahren immer wieder dafür gesorgt worden, dass die Zivilbevölkerung aus der Verbindung mit den Partisanen herausgelöst wird, indem man sie auf Seiten der Militärs in den Krieg einbindet. Dies ist der Ursprung der Dorfschützersysteme, wie sie in den Guerillakriegen beispielsweise auf den Philippinen zu beobachten waren. In Kolumbien hat sich der Paramilitarismus allerdings weiter entwickelt: Er tritt als rechte Partisanenarmee auf, die autonom zu agieren scheint und formal außerhalb der Legalität steht. Zwar geht diese Truppe faktisch stets in enger Koordination mit den Streitkräften vor, doch politisch ist die Symmetrie durch ihre Existenz wiederhergestellt. Wie ein Spiegelbild kopiert der Paramilitarismus die Kommunikations- und Organisationsformen der Guerilla und sorgt damit für ein Panorama, in dem der Staat als Opfer des Extremismus von rechts und links erscheint. Damit werden nicht nur die politischen Kosten der Aufstandsbekämpfung auf einen privaten Kriegsakteur abgewälzt, sondern der Staat kann die fürchterliche Gewalt zur Durchsetzung seiner Macht sogar politisch für sich in Wert setzen. Die Massaker werden als Anzeichen des Staatszerfalls interpretiert und rechtfertigen die militärische Aufrüstung des Staates mit allen Mitteln.

Die Flucht in die politische Nicht-Repräsentation

Ganz anders die Absetzbewegung, die sich in Venezuela beobachten lässt. Das Land galt in den 1970er Jahren als lateinamerikanischer Ausnahmefall. Mit Hilfe der Ölgewinne wurden Sozialprogramme, staatliche Investitionen und Lebensmittelsubventionen finanziert. Erst in den 80er Jahren wurde deutlich, dass die Modernisierungspolitik in erster Linie ein Instrument der Eliten gewesen war, öffentliche Einkommen zu privatisieren. Ein gigantisches Klientelsystem hatte dafür gesorgt, dass permanent Gelder aus öffentlichen Programmen abgezweigt wurden. Als 1989 die sozialdemokratische Regierung Venezuelas ein vom IWF verordnetes Sparpaket umzusetzen begann, revoltierte die Bevölkerung der Armenviertel in Caracas. Es kam zu tagelangen Plünderungen und einer blutigen Niederschlagung des Aufstands.

Die heute als »bolivarianische Revolution« bezeichnete diffuse Aufstandsbewegung entstand im Anschluss an diese Unruhen. Die Bevölkerung fühlte sich von »der Politik« nicht mehr repräsentiert, und so kollabierten die Staatsparteien: die Christ- und Sozialdemokraten. Doch auch der mediale Diskurs der nicht-korrumpierten Zivilgesellschaft und die Projekte der Linken artikulierten die Unzufriedenheit der Bevölkerung nicht. Stattdessen kam es zu einer Vielzahl singulärer Revolten gegen die herrschende Ordnung. Nationalistische Militärs wagten Putschversuche, in den Armenvierteln breiteten sich asamblearische Praktiken aus, allein in Caracas entstanden mehr als 20 Piratensender. Die vielfältigen gesellschaftlichen Risse, die schließlich dem überraschenden Wahlerfolg des linken Offiziers Hugo Chávez 1998 den Weg ebneten, wurden nicht politisch angeleitet. Keine Partei, kein Programm vereinigte die diffusen oppositionellen Praktiken und doch entstand ein Gravitationszentrum. Interessanterweise ist gerade die messianische Rolle der Figur Chávez Ausdruck jener mangelnden Vertretung. Weil parteipolitische Vermittlungsinstanzen bis heute von der Bevölkerung nicht ernst genommen werden, besitzt der Präsident als Symbol und Projektionsfläche eine zentrale Funktion. Auf eigenartige Weise verknüpfen sich damit radikaldemokratische und caudillistische Elemente.

In gewisser Hinsicht ist die venezolanische Gesellschaft also sowohl vor einem Establishment, einer sozialen Situation und der ökonomischen Krise als auch vor der Politik »geflohen«. Sie hat sich den traditionellen Trägern linker Transformation – den Avantgardeparteien ebenso wie der reformistischen Parlamentslinken – verweigert. So entpuppt sich der venezolanische Prozess bei genauerer Betrachtung als Verkettung vielfältiger, diffuser und sehr unterschiedlicher Widerstands- und Emanzipationspraktiken in der ganzen Gesellschaft. Er ähnelt dem Deleuzeschen Rhizom, einem untergründigen, nicht in klaren Strängen verlaufenen Wachstumsprozess.

Auch sieben Jahre nach Chávez’ Amtsantritt ist das immer wieder spürbar. Gerade im Unterschied zu Kolumbien fällt auf, wie vergleichsweise rar eine organisierte Linke in Venezuela ist: Die wenigen kontinuierlich arbeitenden Strukturen kreisen oft um den Staat. Und dennoch trifft man ununterbrochen auf politische Praktiken: etwa eine Gruppe, die selbstorganisiert das Abitur nachmacht oder die Bewohner eines Straßenzugs, die ein Komitee zur
Wasserversorgung ihrer Nachbarschaft bilden. In der Beziehung dieser lokalen Initiativen zum Staat manifestieren sich erneut eigentümliche Fluchtbewegungen. Der Staat mit seinen nach wie vor klientelistischen Strukturen ist für die »Revolution von unten«, wie es emphatisch heißt, zwar das größte Hindernis, aber gleichzeitig auch ihre Voraussetzung. John Holloway, der davon spricht, die Welt zu verändern, ohne die Macht zu übernehmen, scheint in Venezuela gründlich widerlegt. Erst die Übernahme des Staatsapparates und die Verfügung über die Ölgewinne hat dort nämlich die Ausbreitung der Basisnetzwerke ermöglicht. Andererseits unterbricht die Orientierung am Staat die (von eben diesem) ausgelösten Prozesse immer wieder.

Die Beispiele Kolumbiens und Venezuelas zeigen die ganze Spannbreite der lateinamerikanischen Konstellation. Sie machen deutlich, dass die Entwicklungen auf dem Subkontinent heute in erster Linie different sind. Für die Zukunft sollte man auf weitere Überraschungen gefasst sein. Dass Venezuela zu einem Gravitationszentrum der kontinentalen Linken werden könnte, hätte noch vor fünf Jahren niemand für möglich gehalten. Ein Sachverhalt, der auch im globalen Kontext von größter Bedeutung ist, scheint jedoch schon jetzt klar  zu sein: In Lateinamerika finden sich nicht nur extreme Formen von Herrschaft und Krieg, sondern vor allem politische Konfliktlinien, die entlang des Sozialen verlaufen. Während heute sonst in der Welt das Religiöse und Ethnische die gesellschaftlichen Konflikte zu strukturieren scheint, steht auf dem Subkontinent die Frage der Macht- und Reichtumsverurteilung im Zentrum. Schon allein das macht Hoffnung. 􀂄



 
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