Monatlich den Billigflieger zur Theoriekonferenz nehmen, aber Parlamentsarbeit irgendwie scheiße finden? Will man die Frage, wer wie und wovon lebt, nicht den Ratzingers und Mullahs überlassen, darf man vom institutionellen Räderwerk nicht absehen.Da schuften sie im Subsystem. Als Bremsklotz beschimpft und als Begleitschutz missbraucht vom Handel, abgeschrieben von der Theorie, zur Seifenoper degradiert vom Journalismus, episodisch geschätzt, doch letztlich verachtet von der Bohème. Durch diese »Institutionen«, die Rathäuser, Parlamente, Ämter, Gewerkschaften und Verbände, mag heute kaum einer mehr mit frisch rebellischer Energie »marschieren«. Dort machen sie, was sie wollen, und können doch nichts mehr machen, verteilen von unten nach oben oder von oben nach unten, auf jeden Fall aber das, wovon »wir« nichts mehr haben, streiten sich tagaus, tagein, typisch deutsch immer im Konsens, sind protoautoritär, mutlos, privilegiengeil, verstaubt. Über diese Bildmontage des Betriebs legen dann die konkurrierenden Experten der »Zuspitzung« die symbolisch-darstellerische Ebene, jene ewige Tagesschau Seifenoper, für die man noch die entschiedensten Polit-Verächter in Akademie, Boulevard und Feuilleton begeistern kann. Wo Alpha-Tiere lahme Enten zurückpfeifen, Querdenker an den Stühlen von Aussitzern sägen und es ständig fünf vor zwölf ist.
Derweil verschieben durch politische Mühsal weniger Geplagte in Sekundenschnelle Millionen auf Konten in Steueroasen und Fabriken in Länder, wo die Nicht-Besitzenden noch weniger Verhandlungsmacht haben. Eine neofeudale Elite steigt auf ins Licht und genießt mitsamt Eigentum die globale Freizügigkeit – ein für die meisten doch recht eingeschränktes Gut. Von der Wertschöpfung mal wieder größere Stücke für die Wertschöpfenden und Ausgeschlossenen aller Länder rauszuholen und den ganzen Prozess über die Rhetorik der Corporate Responsibility und der Charity hinaus auch demokratisch zu regeln, das gelänge bloß noch unter mühsamsten politisch-institutionellen Anstrengungen in unendlich vielen Sitzungen unendlich vieler Gremien.
Das Subsystem im Alltag: Die Welt der Positionspapiere, Eckpunkte und Bundestagsdrucksachen. Konflikte inszenieren, Botschaften »managen«, Lobbyisten empfangen, Journalisten bekumpeln. Wort und Schrift zu lähmend formelhaften und – wesentlich schlimmer – »peppigen« »Textbausteinen« verschneiden. Gesetzesvorlagen, Referentenentwürfe, Verwässerungen, Neufassungen. Das lange Geforderte im letzten Moment rausgestrichen, hintenrum wieder reinverhandelt, tags drauf medial verhöhnt, ein Jahr später als kontraproduktiv erkannt. Dann die Blockade auf europäischer Ebene, ein bremsendes Verfassungsgerichtsurteil, die Wahlniederlage, weil ein Kollege sich bei Christiansen versprochen hat. 12 Jahre Opposition. Von vorne.
Die Politikverdrängung speist sich wohl auch aus der hochplausiblen Intuition, irgendetwas in Hirn, Herz oder Unterleib müsse wohl Schaden nehmen, wenn man sich allzu regelmäßig mit Beitragsbemessungsgrenzen, Netznutzungsentgelten oder Kettenduldungsregelungen beschäftigt. Vitalistische Fühldenksegmente gegen die Aktenfresserei, irgendwie verständlich, hier und da theoriegeadelt (»... stahlhartes Gehäuse der Moderne ...«, »... alles wie im Gefängnis hier ...«). Doch will man die Frage, wer wie und wovon lebt, nicht den Investoren und Konsumenten, Ratzingers und Mullahs überlassen, sondern sie weiterhin als Aufforderung zur Selbstbefreiung und Selbstbestimmung begreifen, dann kann man vom institutionellen Politikbetrieb wohl nicht schweigen. Lebensentwürfe haben Bedingungen: Arbeitswelten, Zeitressourcen, Eigentumsstrukturen, Wohnen, Heizen, Arztbesuch, (Steuer-) Geld für Kunst, Wissen, Bildung.
Manche meinen mit der Großbetrachtung »der Kapitalismus hat gewonnen!« sei die Arbeit getan. Differenzierungen seien oberflächlich, Politik ein Scheinaktionismus, apokalyptisch wird die Verelendung der Massen abgewartet. Diese jedoch haben im Augenblick noch Spielräume zu verteidigen, die durch die Machtverschiebungen der letzten Jahre tatsächlich massiv bedroht sind. Die Verhandlungsmacht nicht-mobiler und nicht-besitzender Akteure (Arbeitslose, Arbeitnehmer, kleine Freiberufler, kleine Betriebe) gegenüber mobilen, über wirtschaftliche Ressourcen verfügenden Akteuren (Kleinanleger und Großinvestoren, große und mittelständische multinationale Unternehmen) ist dramatisch geschrumpft. Politik begegnet den »Sachzwängen« der Standortkonkurrenz, der internationalen Arbeitsteilung, der Steuerflucht und der Investorenmacht nur noch reaktiv. Verlagerung von Produktionsstätten bei unerwünschter Lohnhöhe, Verhandlungen mit abwanderungswilligen Reichen über die Höhe ihrer Steuerzahlungsbereitschaft, Renditeforderungen von Großinvestoren und blind den Niedrigstpreis belohnende Konsumenten: getriebene Politik.
Argumente gegen Parlamente: a – Das ist alles ein elitenhöriger neoliberaler Einheitsbrei; b – Das sorgt nur für Verschwendung, Verzerrung von Marktpreisen, Schmälerung »unseres« Wohlstands; c – Die Politik ist heute rein administrativ und technokratisch; d – Das ist Demokratiesimulation, man lässt uns da doch nicht rein; e – Im Politikbetrieb wird nur auf außerparlamentarischen Druck reagiert, daher muss Politik im weiteren Sinne auch dort ansetzen. Eines dieser fünf Argumente ist richtig.
Die Diagnose der Getriebenheit scheint im Wesentlichen zutreffend, doch die überspringende Trivialversion, nach der politische Institutionen und organisierte Akteure völlig bedeutungslos sind, ist falsch. Zwischenstaatlich koordinierte Politik wird besonders für die Besitzlosen immer wichtiger. Sozialstandards und Steuerharmonisierung auf europäischer Ebene, transnationale gewerkschaftliche Koordinierung, Demokratisierung der WTO, Stärkung der ILO, Verzahnung der kommunalen, regionalen, nationalstaatlichen, europäischen, globalen Ebenen. Eine solche Koordinierung wird sich gegen den fatalen Status quo des nationalen, föderalen und regionalen Wettbewerbs um die Gunst des Investors richten müssen. Da die heute schon Ausgeschlossenen und Verelendenden politisch zu schwach sind, müssten die relativ reichen westlichen Mittelschichten eine solche Renaissance der Politik mittragen. Diese Milieus hätten ein langfristiges Interesse daran, doch sie sind kurzfristig tief verstrickt in den Status Quo durch Konsuminteressen, multinationale Auftraggeber, Vermögen in Investmentfonds, billig entlohnte Haushaltshilfen, billig importierte DVD-Player und den monatlichen Billigflug zur Theoriekonferenz. Who is »The Man«?
»The Man« ist immer noch ein »System«. Keine Sache also der individuellen Moral, obwohl sich immer mal wieder irgend jemand von Verbraucherappellen oder »ethischem Investment« die Zivilisierung des globalen Marktes verspricht. Derartige »zivilgesellschaftliche« Aktionsformen werden nicht ausreichen, nur robuste Politik könnte in die globale Dynamik eingreifen, in Form von Umverteilung, Gesetzen, Steuern, Handelsabkommen. Sie müsste es allerdings wieder wollen. Verloren ist leider die Option emotionalisierender Vereinfachungen à la »1968«, wo die sexuelle, kulturelle, politische, ökonomische Repression gemeinsam auf der anderen Seite zu stehen schien. Versuchen, derartige Dichotomien wieder bereitzustellen, etwa »Multitude« gegen »Empire«, sieht man schon auf der Theorieebene an, dass ihre Pole kaum konsequent gegeneinander stehen.
Politisierung und Motivation: a – Interesse: Verbraucherschutz, Wirtschaftsverband, Frauenpolitik, Chemielobby, Wohlfahrtsverband, Lohnabhängigkeit. b – Moral: Entwicklungshilfe, Tierschutz, Naturschutz, Karitatives, Flüchtlingshilfe. c – Leidenschaft: Weltanschauung, Religion, Köpfe, kollektive Identitäten, gehasste Gegner. d – Politik als Selbstzweck. Theorie adelt diesen letzen Fall gelegentlich zur höchsten Form menschlichen Lebens. Politik IST dann das gute Leben, nicht das Mittel zu diesem Zweck. Nächtelanges Debattieren als diskursive Erotik. Macht man heute nicht mehr.
Beim raffiniertesten Dreh der Verleugnung von Politik wird ihr kurzerhand das Politische abgesprochen. Verwalter bestimmten, wo’s lang geht, reale Alternativen kämen gar nicht mehr vor. Hier herrscht dann eine hochanspruchsvolle Vorstellung derjenigen »Alternativen«, die das Prädikat »politisch« verdienten: Abschaffung der Parteien und flächendeckende Einführung von Räten! Sofortiger Stopp der Verbrennung von fossilen Brennstoffen! Abschaffung des Geldes und Begrenzung der Tauschwirtschaft auf Kleinregionen! Alter, das wär’ Politik! Die Karikatur sollte nicht davon ablenken, was hier alles nicht für Politik gehalten wird: Die Höhe von Zöllen im Handel zwischen armen und reichen Ländern, die Abwehr von Migration in EU-Länder, die Gesundheitsprüfung chemischer Substanzen, die Entscheidungshoheit über Militäraktionen der UNO, die Fragen, ob ein ungarischer Klempner in Belgien arbeiten darf, ob Arbeiter Eigentümer ihrer Betriebe sein sollten, ob wir bei hochproduktiver Wirtschaft Überflüssige dazu zwingen dürfen, unsere Wohnungen zu putzen. Leider hat sich oft das Falsche durchgesetzt, was aber eher an politischen Kräfteverhältnissen als an der Entpolitisierung der Politik liegt.
Natürlich erschwert die allgemeine ideologische Konfusion die Mobilisierung des Willens, den prozeduralen Quark durchzustehen. Alles so wirr heute. Nach zwei Jahrzehnten neoliberalen Dauerfeuers nun plötzlich dieser hohle Konsens in der »Kapitalismuskritik«, ganze Bundespräsidentenämter übernehmen die Floskeln gegen die Ökonomisierung des Lebens, konservative Kommunalpolitiker beschimpfen die Profitgier erfolgreicher Unternehmen, Kardinäle haken sich unter. Fast mag (?) von Bord springen und an der Börse anheuern. Bildung, Bildung, Bildung, irgend jemand was dagegen? Staatlich finanzierte Kinderbetreuung, alle gleich sozialistisch heute! Gibt es nach dem Zusammenschluss katholischer und kommunitärlinker Kapitalismuskritik zur neuen Partei der sinnstiftenden Gemeinschaftsfreunde vielleicht nur noch zwei weltanschauliche Lager, nämlich dieses und die globalistischen Marktfetischisten? I prefer not to. Und kaum hat sich ein ganzes (post-linkes) Milieu in einer gegen Spießigkeit und formierte Gesellschaft erkämpften Lebensform als »selbstbestimmt« und »kreativ« eingerichtet, wird es von den eigenen Leuten zum Nebenprodukt kapitalistischer Modernisierung erklärt, »gouvernemental« selbstunterworfen und moralisch bankrott.
Leitfaden zur Abgrenzung: Links ist gleiche Freiheit für alle. Freiheit ist Hedonismus, aufgeklärte Subjektivität, Vielfalt der Lebensentwürfe. Humaner Fortschritt heißt dem Reich der Notwendigkeit Räume für das Reich der Freiheit abzutrotzen, auch gegen diejenigen, welche die Grenze dieser Entwicklung in der Realisierung ihrer eigenen, bürgerlich-privilegierten Freiheit erreicht sehen. Gerecht ist eine Gesellschaft ohne Klassen. Alles regulative Ideen, anhand derer sich relativ schnell erklären lässt, warum die Freiheit nicht Köhler, Di Fabio oder Poschardt gehört.
Viele leben heute länger, besser, selbstbestimmter als früher, viele auch in relativ geschützter Unabhängigkeit von »Markt« und »Profit« in den Sphären von Kultur, Wissenschaft und Sozialsystemen. Viele andere nicht. Das Erreichte wurde zum großen Teil in den politischen Institutionen erkämpft, es steht dort unter Druck und muss dort verteidigt werden. Wie immer indirekt und vermittelt, jeder kleine Schritt in diesen Institutionen trägt irgendeine Beziehung zu dem, was in Philosophie und Kunst als das »richtige Leben« thematisiert wird. Keine entdifferenzierte Versöhnungsphantasie entlastet von der Aufgabe, ständig den Schritt im institutionellen Räderwerk zu finden, der nach derzeitigem Stand der Dinge uns oder die wirklich Unglücklichen dem emanzipierten Leben näher bringt. Der Kampf in den Institutionen um die Kanalisierung des vermutlich unsterblichen Kapitals zum Zwecke der Freiheit für alle ist allerdings heute vor allem durch aufgeklärtes Interesse und durch Moral motiviert. Auf die politromantisch libidinöse Transformation aller Beteiligten in dampfende Dauerredner ist heute weder innerhalb noch außerhalb der Institutionen zu hoffen. Der Job ist mühsam. Er muss getan werden.