Das Online-Magazin zur Zeitschrift | HALBJAHRESMAGAZIN polar






polar #1: Politisierung



EDITORIAL

 
Peter Siller, Bertram Keller
Editorial



AUFKLÄRUNG

 
Peter Siller / Arnd Pollmann
Anstiftung zum Uncoolsein
Warum Politisierung Not tut
 
Barbara Gärtner
Das Gehirn ist nur ein Platzhalter
Die Bürgerkonferenz ''Meeting of Minds''
 
Der wahre Text: 'Strategen Reden'
Neue Berliner Sprachkritik
 
Rudolf Speth
Miese Expertise
Von Think Tanks, Consultants und anderen Ãœbeln
 
Bertram Keller
''Ich bin ein großer Fan des Staates''
Interview mit Martti Koskenniemi
 
Raul Zelik
Aufbegehren, Krieg, Staatlichkeit
Zwei Exempel aus Lateinamerika
 
Klaas Glenewinkel / Anja Wollenberg
Die Wanderung des UKW-Dialers
Zur Mediensituation im Irak
 
Robert Misik
Jetzt sauf ma uns an
Kultur als Standort- und Störfaktor
 
Simon Rothöhler
Keine Heimat an den Rändern
Vom Standortvorteil des Films an der Peripherie
 
Michael Eggers / Sebastian Richter
Reality bites
Die neue Dokumentarkunst
 
Aram Lintzel
Sinncontainer: 'Integration'



ANSTIFTUNG

Diese Seite steht zur Zeit nicht zur Verfügung.



LEIDENSCHAFT

 
Ralph Obermauer
Leidenschaft und Gremienterror
Vom Nutzen und Nachteil ''der Politik'' für ''das Leben''
 
Jan Engelmann
Rudis Stimme, Edes Gang
Eine Erregung
 
Felix Klopotek
Das kommt wieder
Vom Gitarrenklimpern zur Aufregungsmaschinerie
 
Julia Roth
Sie wollen uns erzählen
Ãœber Texte, die gerne ''wir'' sagen
 
Ina Kerner
Leben im Kapitalismus: Raus aus dem Tulpenfeld
 
 

Jan Engelmann / Michael Eggers

''Bloß machen darf man nichts''

Interview mit Dietmar Dath


Was bringt Pop? Wann ist Genuss legitim? Und wie definiert sich ein Nerd? Eine E-Mail-Konversation mit Dietmar Dath.

polar: Wichtig ist ja immer, wie alles anfängt. Wie würdest Du Deine eigene politische Sozialisation beschreiben?

Dath: Ich bin über häusliche und schulische Minikonflikte (Neubausiedlung, so genannte kaputte Familie, Schlüsselkind, Schwererziehbarkeit, Herumlungern, Autos kaputtmachen) und Antifa- Baby-Steps von spontihaften Kleinstadtgeschichten über Kontakte in die etwas größere Universitätsstadt langsam zum Ernsthaften gelangt. Dort bin ich in Berührung mit klassisch marxistischen Lebenszusammenhängen und Organisationen gekommen, habe aber jede politische Arbeit im engeren Sinn gleichzeitig mit dem Studium abgebrochen. Danach habe ich eine Weile freie Publizistik betrieben und in verschiedenen Redaktionen gearbeitet. Generelle Unzufriedenheit mit einer symbolischen Politik, die auf Inneneinrichtung und Radical Chic hinausläuft, führen mich zurzeit wieder mit Leuten zusammen, die an anderen Orten anderes gelernt haben. Der Austausch ist schwierig, aber lohnend.

polar: Nicht wenige aus »unserer« – will sagen: um 1970 geborenen – Generation beschreiben ja ihre Politisierung gerne über Erweckungserlebnisse oder rauschhafte Gruppenerfahrungen. Oft spielt in diesen Narrativen Popmusik eine herausragende Rolle. Stellt diese Sphäre deiner Meinung nach immer noch ein wichtiges Reservoir bereit, aus dem sich ein politisches Imaginäres speisen kann?

Dath: Redet bitte nicht mehr von Generationen. Redet lieber mal von Klassen. Ich bin nicht 1970, ich bin nicht Deutschland, ich bin Lohnabhängiger – und meine Eltern waren das auch. »Wir«, das heißt die linke Bohème, sind häufig Söhne und Töchter aus leidlich behüteten Milieus, die gerade absinken und lernen, was es heißt, dem Geld nachrennen zu müssen. Pop-Musik, dabei vor allem Heavy Metal, hat in meinem politischen Leben dieselbe Rolle gespielt wie Schnaps und Pizza – Man braucht es für die Laune und den Energiehaushalt, aber mit der programmatischen Seite der Sache hat es nichts zu tun. Das »politische Imaginäre«, also das sozialistische Ziel, entsteht in politischen Auseinandersetzungen oder gar nicht.

polar: Uns interessiert die lebenspraktische Relevanz von Poperzeugnissen.
Warum bedarf es eigentlich solcher Medien, um die eigenen Passionen durchzuprozessieren? Anders gefragt: Warum dieser Rückzug ins Nerdhafte statt beispielsweise eine Partei oder einen Freistaat zu gründen?

Dath: Nähme ich die Frage wörtlich, müsste ich antworten: Ein Freistaat ist eine mittelalterliche, ständische, bestenfalls zünftlerische oder syndikalistische Idee, seit der industriellen Revolution mithin reaktionär und etwas, auf das der Begriff »Rückzug« viel besser passt als auf die Beschäftigung mit Künsten wie Science Fiction und Splatter. Erstens stiften schon die Genres, da massenproduziert, einen überindividuellen, nicht-subjektiven, nicht rückzugshaften Zusammenhang und zweitens bin ich ja keine Stubenfliege, sondern Kritiker und Literat, sonst würden wir diese Unterhaltung ja nicht führen. Auch die so genannten »echten«, also nicht für ihre Kenntnisse und deren Verbesserung und Verbreitung bezahlten Nerds erleben ihre Kunst indes keineswegs solitärhaft, sondern in Freundes- und Fankreisen, schon weil kein normaler Mensch das Geld hat, ohne Leih- und Empfehlungsverkehr an Riesenkulturen wie Horror oder Science Fiction teilzunehmen.

Ich nehme die Frage aber nicht wörtlich und sage stattdessen: Der Begriff »Nerd« ist nicht halb so unschuldig, wie er aussieht, sondern inzwischen meist eine Kampfparole der laut- und auflagenstarken Fraktion nivellierungsgeiler Pop-Propagandisten aus gutem Hause. Sobald diese nämlich jemanden einen »Nerd« nennen, wollen sie damit in 99 Prozent der Fälle sagen, jene(r) stünde nicht mitten im Leben – hat keine(n) Freund(in), wohnt bei Mama, geht alles vom Kopf her an, ist isoliert – kurz: all das, was die Nazis »intellektuell« genannt hätten, »unfähig zur Kraft durch Freude«. Wer Minderheiten gleich welcher Art Eskapismus vorwirft, will immer auf Gleichschaltung hinaus und brüllt: Hör auf, dich abzusondern. Das kann mich am Arsch lecken. So viel zur Genre- und Nerdfrage als soziologischem Entmündigungsversuch, zuletzt noch etwas zum sachlichen Gehalt des Problems: Wieso prozessiert man seine Leidenschaften via Kunst? Antwort: Weil das den Unterschied zwischen Mensch und Tier ausmacht – spezifisch menschliche Freuden sind eben nicht nur solche des Fressens, Vögelns und Schlafens, sondern auch die der Reflexion, des Was-wäre-wenn, das Experimentieren mit dem eigenen Affekthaushalt, das Verändern des eigenen Bewusstseins via Drogen nehmen, Tanzen, Sich-gruseln. Die »lebenspraktische Relevanz« ist die Chance, nicht völlig im Funktionieren für die Apparate aufzugehen.

polar: Vielleicht können wir uns darauf einigen, dass die meisten Leute sich so eine Art Refugium bauen, wo sie sich austoben können. Das wäre so eine anthropologische Idee von Entlastung durch Pop bzw. Katharsis.

Dath: Nein. Können wir nicht. Austoben – das ist, wenn ich jemanden in die Fresse haue, der mich zur Weißglut bringt, oder meine Bude verwüste, bis ich mich abrege. Kunsterfahrungen des Drastischen sind etwas anderes. Also was? Katharsis vielleicht? Das soll wohl heißen: Man lässt Dampf ab im Symbolischen. Ich glaube jedoch, Kunsterleben im Drastischen ist nicht nur Affekt (Dampf), sondern immer auch schon Reflexion hinsichtlich eines aktivierten Möglichkeitssinns: Was wäre, wenn ich jemanden in die Fresse hauen würde – das kann ich auf einmal klarer denken, wenn ich sehe, wie jemand jemanden im Film in die Fresse haut.

polar: In deinem Buch »Die salzweißen Augen« bestehst du darauf, dass drastische Kunstgenres der Vernunft zuarbeiten. Das ist erstmal überraschend, weil es dem gängigen Verdikt, der ganze Schmuddelkram stumpfe nur ab, so radikal widerspricht. Schon früh gab es das Deutungsschema, wonach das Aufkommen von Zombiefilmen mit den nicht geführten Diskursen über reale Gewalt, etwa in Kriegen, zu erklären sei. Siehst du einen solchen Zusammenhang überhaupt?

Dath: Zombiefilme hängen nicht mit »nicht geführten Diskursen«, sondern mit erlebtem Leben zusammen.Wenn ich dauernd Angst habe (wegen Entlassung, Ölkrise, Miete, Sex, Status), aber vor lauter Angst nicht mehr vernünftig über die Gegenstände der Angst nachdenken kann, also nicht mehr weiß oder wissen will, wovor ich eigentlich Angst habe, dann genieße ich es, wenn mir ein Film etwas zeigt, wovor ich Angst habe. Dieser Genuss ist legitim, weil er der erste Schritt aus der Lähmung sein kann und weil alles legitim ist, was Genuss bereitet und keine anderen Menschen schädigt. Kunst ist, wenn man etwas Abstraktes (die Diagnose der pathologischen Angstgesellschaft) als etwas Konkretes (Zombie) erleben kann. Dadurch wird es anschaubar, diskutierbar, greifbar. Das ist vernünftig, nicht bloß kathartisch. Das Phänomen der Abstumpfung gibt es natürlich auch manchmal, aber warum soll das zwangsläufig schlecht sein? Eine Chirurgin sollte stumpf genug werden, damit sie ohne Bibbern Blut sehen kann. Im übrigen hasse ich solche Begriffe (wie eben »Abstumpfung«), die deskriptiv-objektiv tun, aber moralisch gemeint sind.

polar: Viele Leute haben mittlerweile den Eindruck, das alte Popgefühl, selbstbestimmt und ungehemmt am Hier und Jetzt teilzunehmen, sei schal geworden. Ist das Feld nicht längst eine Domäne der selbsternannten Geschmackspäpste und ihrer Meinungsmacht?

Dath: Jenes »Popgefühl«, von dem ihr sprecht, ist mir wie Patriotismus und Nekrophilie nur aus Erzählungen bekannt. Meistens reden heute davon Angestellte der Werbewirtschaft, Mitarbeiter der krebserzeugenden Industrie und Leute, die politischen oder sozialen Ballast abwerfen wollen (»Ey, keinen Bock auf Gewerkschaft, mach mal lauter die Platte«). Mich interessiert ganz im Gegenteil zu so einem ominösen Gefühl sowohl an populärer wie an unpopulärer Kunst (Shakespeare, Splatterfilm, Broodthaers) immer nur das Gefühl, fremdbestimmt – nämlich den jeweiligen KünstlerInnen brav folgend – dem Hier und Jetzt zu entkommen, mich also wenigstens mal für kurze Zeit affektiv und intellektuell auf etwas einzulassen, was sein könnte, müsste, dürfte oder bitte nie sollte, aber jedenfalls nicht ist. Die historische Veränderung im Zusammenhang mit Pop – was immer »Pop« genau noch sein mag, wenn inklusive Rilke und Albert Speer allmählich alles darunter fällt – sehe ich woanders als im Novitätenzirkus: Früher hieß es im Feuilleton und an anderen pikenbewehrten Fronten des Bildungsbürgertums, Pop sei nicht kompliziert, also Scheiße. Heute heißt es an diesen stark aufgeweichten Fronten, Pop sei nicht kompliziert, also Klasse. Der falsche Befund bleibt, lediglich die Wertung wird umgedreht.

Das Programm ist nicht mehr der Kampf um die Hackordnung, sondern die Nivellierung der Auseinandersetzung über Kunst zu lauter reinen Servicediskursen und Kaufempfehlungen. Viereinhalb Sternchen statt informierter (lobender oder geißelnder) Kritik. Wäre Popzwang hauptsächlich ein Zwang zum Weiterhecheln und Wegwerfen, wie die Frage suggeriert, dann fände ich ihn ehrlich gesagt gut, und ich glaube, man hätte auch Leute wie Majakowski oder Breton dafür gewinnen können. Denn nichts ist herrischer, terroristischer und anti-moderner als das Beharren auf Werken von Dauer. Wenn mein Leben sich ständig ändert, warum soll es nicht auch die Kunst tun, die mich interessiert? Ginge es bei der pauschalen Pop-Begeisterung und dem In-Stellung-Bringen von Popgeschützen gegen angeblich zu schleifende Festungen der hierarchischen Kultur primär ums Wegwerfen, Überwinden und Beschleunigen, dann wäre ich dabei. Es geht aber nicht ums Wegwerfen, sondern ums Kaufen. Ich finde es herzlich egal, wenn mir jemand vorschreiben will, worüber ich reden soll, solange er oder sie keine sonstige Macht hat als die, zu nerven. Die Popindustrie und die Meinungsfabrikanten – ich arbeite bekanntlich bei so einem und weiß, wovon ich rede – haben aber eine viel fiesere Macht: Sie bestimmen, was überhaupt angeboten wird, und ob man es vervielfältigen und nutzen darf.

polar: Nun bist du ja selbst ein tolles Beispiel dafür, dass man den Kulturbetrieb auch für die eigene Agenda nutzen kann. Die FAZ als trojanisches Pferd, sozusagen. Hältst du es daher für empfehlenswert, auf bestehende Institutionen zu setzen anstatt mit eigenen Gründungen – Kleinverlag, Winzigstlabel – in der Nische vor sich hinzuknödeln?

Dath: Die FAZ ist kein Pferd, sondern eine Zeitung. Und sie erlaubt ihren Leuten gern, so ziemlich alles, auch eben Linksradikales, von sich zu geben, solange bestimmte Qualitätsstandards erfüllt werden. Das Quasseln war im Westen nie recht verboten und wird immer erlaubter, bloß machen darf man nichts. Folgen darf es keine haben, alles ist nur »Wortbeitrag«. Einiges von dem, was ich schreibe, hätte ich nicht in einer großen überregionalen deutschen Tageszeitung schreiben können, als die Bourgeoisie noch Grund zur Furcht vor real existierenden linken Bedrohungen (Ostblock, Gewerkschaften, Studenten, Terroristen) hatte. Die haben inzwischen alle klein beigegeben. Deshalb ist die Narrenfreiheit gewachsen. Wer etwas Kleines und Unabhängiges machen und bezahlen kann, hat meine Hochachtung. Da ich aber im Moment hauptsächlich Bücher schreiben will, muss ich das mit irgendeinem entfremdeten Job finanzieren. Der bei der Zeitung scheint mir zurzeit der am wenigsten obszöne, ich muss nichts schreiben, was ich für Dreck halte, und darf mich sogar innerund außerhalb der Redaktion mit ein paar Rechten anlegen. Das ist kurzweilig, nicht immer unriskant und jedenfalls gutes Training. See you on the barricades.

Das Gespräch führten Jan Engelmann und Michael Eggers.

Literatur

Dietmar Dath, Die salzweißen Augen. Vierzehn Briefe über Drastik, Suhrkamp 2005.
Für immer in Honig, Implex Verlag 2005
Höhenrausch. Die Mathematik des 20. Jahrhunderts in zwanzig Gehirnen, Rowohlt 2005.
Phonon – oder Staat ohne Namen, Verbrecher Verlag 2004.
Skye Boat Song, Verbrecher Verlag 2000.
Am Blinden Ufer. Roman, Verbrecher Verlag 2000.
Cordula killt Dich oder wir sind doch nicht die Nemesis von jedem Pfeifenhein. Roman der Auferstehung,
Verbrecher Verlag 1995.




SCHÖNHEITEN

Diese Seite steht zur Zeit nicht zur Verfügung.


nach oben