Zwei Filme hat Philippe Garrel, gerade 20 Jahre alt, im Mai 1968 gemacht: In Paris dreht er einige Einstellungen für den heute verschollenen Kollektivfilm »Actua I«, eine Reportage über die Straßenschlachten. Die Barrikaden selbst zu zeigen, sagt er später, wäre ihm obszön vorgekommen; er filmt stattdessen die Füße der Demonstranten, dann eine Fahrt entlang den Einsatzwagen auf einer Seine-Brücke. Gleich darauf verlässt er Paris. In der kargen Landschaft in der Nähe einer bayerischen Kaserne entsteht »Le Révelateur«: Vater, Mutter, Kind, auf der Flucht, in abstrakte Konstellationen aufgelöst. Die Familienzelle unter Druck. Das Beben vom Pariser Mai blieb bei Garrel seitdem ausgespart. Oder eher: ins Off verschoben. Was die Figuren in Garrels mittlerweile knapp 25 Filmen machten, um zu überleben, war oft nicht klar. Aber dass sie sich in diesem marginalisierten Leben treu sein wollten und keine Kompromisse eingehen würden, stand fest. Mit »Les Amants réguliers«, der in Venedig den silbernen Löwen bekam, ist Garrel zurückgekehrt zum Mai 1968. Er hat das Travelling entlang den Polizeibussen noch einmal drehen lassen, und auch der Stacheldraht aus »Le révelateur« ist in einer Traumsequenz wieder da. Die initiatorische Straßenschlacht zu Beginn, auf wenige Kamerabewegungen ausgedünnt und wie der gesamte Film in kontrastreichem Schwarz-Weiß, senkt sich ein in die Netzhaut und schimmert als Nachbild durch die folgenden drei Stunden hindurch. Dann: »Die hingerichteten Hoffnungen«. Ein junger Poet, eine Bildhauerin, ein Maler, ein politischer Aktivist und noch ein paar andere leben als lose Clique in einem geräumigen Haus zusammen. Der gleichaltrige Hausherr hat geerbt; er gibt das Opium und das Geld dazu. Im Widerspruch, auf dem dieses Lebensmodell basiert, haben die fünf, sechs Protagonisten sich eingerichtet. Es ist eine etwas dumpfe Utopie auf Probe, die nicht gut endet.
Als die Bildhauerin einmal in die Kamera fragt, ob man Bertoluccis »Prima della revoluzzione« (1964) kenne, ist Bertoluccis »The Dreamers« (2003) damit zugleich angesprochen und gnädig gelöscht. Ironischerweise wurde Garrels Film, in fast allem dessen Antithese, erst durch Bertoluccis Film möglich: nur dadurch, dass er Requisiten, Kostüme und Statisten übernahm, konnte der Film mit kleinem Budget produziert werden. Die Klarheit, die »Prima della revoluzzione« mit Garrels post-revolutionär ernüchtertem »Les Amants réguliers« verbindet, wischt Bertoluccis nostalgischen Blick auf Cinéphilie und Geschichte weg wie einen schlechten Traum.
»Les amants réguliers«, Frankreich 2005, 178 Min.; Regie: Philippe Garrel; Buch: Philippe Garrel, Arlette Langmann, Marc Cholodenko; Kamera:William Lubtchansky; Darsteller : Louis Garrel, Clotilde Hesme, Julien Lucas, Nicolas Bridet, Eric Rulliat, Marc Barbé, Rébecca Convenant