Dass die Unterscheidung zwischen europäischer Kultur und amerikanischer Zivilisation, auf der Heerscharen abendländischer Geistesgrößen herumgeritten sind, so nicht ganz hinhaut, merkt man spätestens wenn man einen Blick in die aktuellen Autobiographien von Pornostars wirft. Während nämlich in Deutschland mit den Bekenntnissen von Dolly Buster, Gina Wild und Kelly Trump einfach nur die pornoindustrielle Verwertungskette verlängert wurde, sind mit »Pornstar« von Jenna Jameson und »Die Wahrheit über Deep Throat« von Linda Boreman (alias »Linda Lovelace«) zwei bemerkenswerte Aufklärungsbücher vorgelegt worden. Am Anfang beider Lebensgeschichten steht eine Jugend im Schatten der Psychosen einer weißen, verfallenden Mittelschicht. Jenna Jameson ziselliert die Mechanismen der Branche und deutet ihren Werdegang trotz aller Schrecken und Ungeheuerlichkeiten letztlich als Emanzipations-Geschichte. »Die Wahrheit über Deep Throat« bleibt ein einziges Martyrium. Bezeichnend, dass all das bei den Porno-Hipstern noch nicht einmal mitgedacht wird, gleich ob in der Dokumentation »Inside Deep Throat«, in Thomas Ruff's »Nudes« oder am Stammtisch in Berlin-Mitte. »Pornstar«, mitverfasst von Rolling Stone-Autor Neil Strauss, der bereits die Mötley Crüe-Story »The Dirt« zu einem Spektakel machte, bietet zugleich eine schrille Ethnographie der Westküste - voller Biker, Tätowierer, Drogen und Depressionen.In kultureller wie geographischer Hinsicht ist das nicht so weit entfernt von Hunter S. Thompson, dem genialen Vertreter des New Journalism. Thompson begann ursprünglich als Sportreporter und war dann als Südamerika-Korrespondent in Peru, Kolumbien und Brasilien unterwegs. Der Durchbruch kam 1967 mit der Reportage »Hell's Angels - A Strange and Terrible Saga«. Darin beschreibt Thompson als teilnehmender Beobachter die straff geführte Rockerorganisation - ihre Männlichkeitsrituale, ihr Aufschneidertum, die Trinkgelage - mit einer gewissen Sympathie, ohne sie jedoch in irgendeiner Weise zu mystifizieren. Ein Auftrag der Zeitschrift »Sports Illustrated« führte ihn 1971 nach Las Vegas, wo er über ein Motorradrennen berichten sollte. Ein paar zugedröhnte Tage in der Wüstenstadt verdichtete Thompson zu einer drogeninduzierten Halluzination über den amerikanischen Traum. Zwar lehnte »Sports Illustrated« den Artikel ab, aus den Notizen aber entstand der Gonzo- Klassiker »Fear and Loathing in Las Vegas« mitsamt der Anleitung für eine solide Sause: »Zwei Beutel Gras, 75 Kügelchen Meskalin, fünf Löschblattbögen extrastarkes Acid, ein Salzstreuer halbvoll Kokain, nen ganzes Spektrum vielfarbiger Uppers, Downers, Heuler, Lacher, zehn Liter Tequila, ne Flasche Rum, ne Kiste Bier, nen halben Liter Äther und zwei Dutzend Poppers.«
Weniger drastisch, dafür aber um das Verstehen von Drastik bemüht, ist dagegen der Briefessay »Die salzweißen Augen« von Dietmar Dath. Hier geht es um den ernsthaften Versuch, eine eigene »Theorie der Aufklärung« aus einer Apologie krasser Kunstgenres abzuleiten. Das ergibt erstens ein gut informiertes Kompendium über Schauerromane, Ekel- und Gedärmefilme, Pornohefte, Death Metal, Bret Easton Ellis, Lucio Fulci, Marquis de Sade und Kelly Stafford. Zweitens wird es zu einer Begründungsschrift dafür, dass die Drastik von Horror, Heavy Metal und ähnlichem nur auf höchstem zivilisatorischem Niveau der Darstellungstechnik zu realisieren sei, mehr noch, dass hier, beim akribischen Blick auf die »Schmutzränder der Gesellschaft«, der »ästhetische Rest der Aufklärung nach ihrer politischen Niederlage« liege. So plausibel diese steile These mit Blick auf bestimmte Kulturerzeugnisse erscheint, so absurd ist sie im Hinblick auf etwa die von Lovelace und Jameson geschilderte porno-Industrie. Irgendwie schimmert da ein obskurer wissenschaftlicher Objektivismus des Mathematikers Dath durch, der allerdings drittens aufs Schönste auf eine Love-Story trifft, in der das Sich-verstänlich-machen-wollen durch Drastik weitere Missverständnisse produziert. Die Schöne und der Nerd. Wer danach noch Muße hat, kann sich in den knapp 1.000 Seiten langen Weltrettungsepos »Für immer in Honig« werfen, in dem der ruinöse Abnutzungskampf gegen Zombiearmeen, Werwolfguerillas und turbokapitalistische Kriegsgewinnler immerhin 89 Protagonisten verschleißt.
Zu guter Letzt einige Arbeiten, die bei ihrem Versuch, aufklärerische Philosophietraditionen neu zu befeuern, nicht nur vom Feldherrenhügel hinab blicken, sondern sich auch ab und zu ins Tal politischer Praxis wagen. Grundlegend für die Sozialstaats-Debatte ist nach wie vor »The Three Worlds of Welfare Capitalism« des Dänen Gosta Esping-Andersen von 1992, der unter Rekurs auf das skandinavische Sozialstaatsmodell mit dem Mythos bricht, die Alternative zum kontinentaleuropäischen Status Quo sei eine Deregulierung nach anglo-amerikanischem Vorbild. Ein Update dazu findet sich in dem zehn Jahre später erschienenen »Why We Need a New Welfare State«. Wer es noch etwas zugespitzter haben will, dem sei »The Information Society and the Welfare State« des katalanischfinnischen Autorenteams Manuel Castells und Pekka Himanen empfohlen. Das finnische Modell wird hier als Blaupause gegen das kalifornische Silicon Valley und Singapur gehalten, die zwei andere, ungleich problematischere Wege der wohlfahrtsstaatlichen Orientierung markieren. Schließlich sei »The Myth of Ownership: Taxes and Justice« der beiden NYU-Philosophen Liam Murphy und Thomas Nagel allen ans Herz gelegt, die sich für eine gerechtigkeitstheoretische Durchdringung steuerpolitischer Fragen interessieren.
Jenna Jameson, Neil Strauss, Pornostar (Heyne Verlag 2005), 640 Seiten
Linda Lovelace, Die Wahrheit über Deep Throat (Heyne Verlag 2006), 284 Seiten
Hunter S.Thompson, Hells Angels (Heyne Verlag 2004)
Hunter S.Thompson, Angst und Schrecken in Las Vegas (Heyne Verlag 2005)
Dietmar Dath, Für immer in Honig (Implex Verag 2006), 976 Seiten
Dietmar Dath, Die salzweißen Augen (Suhrkamp 2005), 215 Seiten
Gøsta Esping-Andersen, Three Worlds of Welfare Capitalism (Princeton University Press 1992), 260 Seiten
Gøsta Esping-Andersen, Why We Need a New Welfare State (Oxford University Press 2002), 272 Seiten
Manuel Castells, Pekka Himanen, The Information Society and the Welfare State(Aberdeen University Press 2004),212 Seiten
Liam B. Murphy, Thomas Nagel, The Myth of Ownership(Oxford University Press 2004), 228 Seiten