Nach einem Wort Herbert Spencers ist die Zeit das, was der Mensch immer zu töten versucht hat, das am Ende aber ihn tötet. In diesem - letztlich ungleichen - Kampf liefert das Kino dem Menschen die Illusion, über schweres Geschütz zu verfügen. Grob gesagt dient Kino zu nichts anderem, als Zeit totzuschlagen. Dementsprechend wird der Kinobesuch um so ärgerlicher, je weniger das gelingt. Man könnte daraus ein Qualitätskriterium für Filme ableiten, das Persönlichkeitspsychologen das »optimale Erregungsniveau« nennen: jenen kritischen Punkt in unserem Bewusstsein, an dem Dauer vom Geschenk zum Problem wird. Homer Simpson pflegt in diesem Moment des Kippens »Laangweilig« zu rufen. Ich gehöre zu den Menschen, die das Ordnung Stiftende einer klar vorgegebenen Struktur zu schätzen wissen. Wenn ich ein Buch lese, schlage ich zuerst die letzte Seite auf, um zu wissen, wie viele ich jetzt lesen werde. Vor dem Kinobesuch interessiert mich bei Kritiken nur jener kleine Absatz am Ende, der Titel, Regisseur, Schauspieler und vor allem die Länge auflistet. Zu meinem Schrecken habe ich festgestellt, dass der überschaubare Neunzigminüter seit einiger Zeit aus der Mode gekommen ist. Selbst Filme, die nicht dem Geist der Eventisierung unterworfen sind und schon durch ihre Überlänge, meist noch im Rahmen einer Trilogie, nie gesehene Größe suggerieren müssen, haben in den letzten Jahren das Maß des wunderbar Gewöhnlichen überschritten. Nicht immer zu ihrem Vorteil.In »King Kong« (176 Min.) bin ich, man ahnt es, mit einiger Skepsis gegangen. Drei Stunden sind eine lange Zeit. Zu meiner großen Überraschung habe ich davon nicht viel mitbekommen. Betrachtet man Peter Jacksons Remake mit Blick auf das »optimale Erregungsniveau«, müsste man ihm einen der vordersten Plätze in der Bestenliste der Kinogeschichte zuweisen. Meine Euphorie nach »King Kong« und die Verwunderung darüber, dass der Film nicht zu dem Kassenerfolg wurde, als der er prognostiziert war, verdanken sich meiner unerfüllt gebliebenen Erwartungshaltung spürbarer Länge. Die Geduld für eine relativ lange Einführung ins New York der Depressionszeit erkauft sich Jackson bei Zuschauer per Kredit auf sein episches Unterfangen, den er umstandslos zurückzahlt in dem Moment, als das Schiff der Abenteurer an der sagenhaften Insel eintrifft. King Kong betritt die Szene, ehe man sich fragen kann, ob der Filmemacher einer Logik der permanenten Überbietung folgend und abweichend vom Original sich den Riesenaffen nicht noch eine Weile aufsparen will als größtes Geheimnis in seinem Kuriositätenkabinett. Anders als Regisseure, die bloß mit den Pfunden der digitalen Machbarkeit wuchern, wuchert Jackson rhythmisch und nicht ohne Ironie. Peter Jackson übertreibt maßlos, aber das tut er bei vollem Bewusstsein. Die Brontosaurus-Stampede und der Angriff im Tal der Killerinsekten hätten jede für sich als Höhepunkt eines Neunzigminüters getaugt. In »King Kong« sind sie Pausenunterhaltung für jenen endlosen Ringkampf zwischen Kong und den Tyrannosauri Reges um die schöne Frau, bei dem sich Jackson jede Runde mit dem treuherzig-unwiderstehlichen Blick eines Kindes erbettelt, das weiß, wann Schluss sein müsste und trotzdem weiterspielen will. Es macht doch soviel Spaß. Erschöpft lehnt sich die Frau an einen Felsen, der nach einer kurzen Kamerabewegung als neuer Kombattant erwacht. Selbst die tiefste Schlucht verweigert sich der Saurierentsorgung, indem sie ein rettendes Netz aus Lianen spannt. So geht es munter weiter, am Ende aber alles ganz schnell, und zwischendurch atmen wir erschöpft durch mit dem melancholischen Affen und seinem Sinn für die Schönheit des Sonnenuntergangs.
Zu den qualvollen Erinnerungen gehört Dominik Grafs Mauerbauliebesfilm »Der rote Kakadu« (128 Min.). Alles dauert hier zu lange, woran vor allem der immer wieder eingeblendete Countdown zum 13. August 1961 erinnert, der wohl so etwas wie Spannung erzeugen soll. Gefühlte zwei Stunden zieht sich das Getändel einer vermeintlichen Menage à trois zwischen Siggi, dem schmuggelnden Theatermaler, Luise, der einfühlsame Dichterin und Wolle, dem Haudrauf, ehe man drauf kommt, dass die Menage à trois nie eine sein wird, weil Luise, die einfühlsame Dichterin, Wolle, den Haudrauf, nie verlassen wird. Dekors werden vorgezeigt, Personen eingeführt, Nebenhandlungen ausgebreitet. Weil der Film aber nicht vier Stunden dauern kann, macht er am Ende kurzen Prozess: Siggis Clique kommt vor Gericht, Wolle, der Haudrauf, wird bei einem Fluchtversuch ebenda angeschossen, als liefe er über den Todesstreifen, Siggi macht rüber, Luise bleibt, und der Stasi-Verräter ist plötzlich ein Industriellensohn, der sich unverdächtig gemacht hat durch die Tatsache, dass er bis zu seiner Enttarnung eigentlich nicht in Erscheinung getreten ist.
Unendlich ist die Geschichte der »Kinder von Golzow «, der »längsten Langzeitbeobachtung des internationalen Films«, wie es bürokratisch-stolz in jedem Vorspann heißt, ein Echo der Sehnsucht nach »Weltniveau«, nach dem die kleine DDR immer gestrebt hat. Seit 1961 begleiten Winfried und Barbara Junge damalige Schulkinder aus dem Oderbruch durch ihr Leben, und allen Beteuerungen zum Trotz wird die Geschichte wohl erst ein Ende haben, wenn die Junges tot sind. »Und wenn sie nicht gestorben
sind...« soll angeblich der Anfang vom Ende sein, der mit 278 Minuten recht kapital ausfällt. Fünf Lebenswege werden erzählt, vier kürzer, einer ausführlicher, und auch wenn tiefe Gefühle und wahre Überzeugungen hier naturgemäß keinen Platz haben, sich die Beschreibungsversuche der Protagonisten in Floskeln erschöpfen und Junges pädagogischer Kommentar mitunter anstrengt: Ich saß und staunte und war gerührt, den Menschen dabei zuschauen zu dürfen, wie sie versuchen mit dem Leben fertig zu werden,
auf das keine Schule vorbereitet. Fast fünf Stunden blickte ich in eine Vergangenheit, die für die Gegenwart lange verloren ist - rauchende Schornsteine über verfallenen Fabriken, absurde Parteileitungssitzungen -, und wollte doch, dass das alles nie aufhört.
King Kong, USA/NZ 2005,
Regie: Peter Jackson, Darsteller: u.a. Jack Black, Adrien Brody, Naomi Watts,Thomas Kretschmann, Evan Parke, Colin Hanks,
Jamie Bell; Buch: Peter Jackson, Fran Walsh, Philippa Boyens, Kamera: Andrew Lesnie, Länge: 188 Minuten
Der Rote Kakadu, Deutschland 2005,
Regie: Dominik Graf; Darsteller: Ronald Zehrfeld, Tanja Schleiff, Jessica Schwarz, Max Riemelt, Heiko Senst,
Devid Striesow, Klaus Manchen, Ingeborg Westphal, Kathrin Angerer, Peter Schneider; Buch: Günter Schütter,
Michael Klier, Karin Aström, Länge: 128 Minuten
Und wenn sie nicht gestorben sind... Die Kinder von Golzow, Deutschland, 2006,
Regie:Winfried Junge, Barbara Junge; Produzent: Klaus-Dieter Schmutzer; Drehbuch:Winfried Junge, Barbara Junge; Kamera: Hans-Eberhard Leupold, Harald Klix, Länge: 278 Minuten