Zuletzt interessierten sich gleich mehrere Ausstellungen für die Institutionen und Medien der politischen Öffentlichkeit. Dabei zeigte sich, dass die Kunst - abseits populistischer Erregungsstrategien - das Gemeinsame eines sozial Geteilten auf eine hilfreiche Weise kommentieren kann.Die Grundidee des ästhetischen Avantgardismus, dass die Kunst Schrittmacher und visionäre Vorhut politischer Umwälzungen sein kann, ist heute weniger ein verbindliches Modell für Kunstschaffende als ein beliebtes Studienobjekt für Ideen-, Kultur- und Sozialhistoriker. Auch die weit bescheidenere Vorstellung, die Kunst müsse ihrer Zeit nicht voraus, aber immer kritisch auf sie bezogen sein, hat die Zeit ihrer unangefochtenen Anerkennung lange hinter sich. Es ist nicht ganz leicht zu bestimmen, ob sich die gegenwärtigen Tendenzen eindeutig in den breiten Konjunkturzyklus mit seinem charakteristischen Wechsel zwischen »heißen« Phasen radikal-politisierter Kunstproduktion und »coolen« Phasen politisch-abstinenten, teils eher formal interessierten oder eher individualistischen Kunstschaffens einordnen lassen, der sich mit einiger Plausibilität für die letzten 40 Jahre (und darüber hinaus) behaupten lässt.
Einige Anzeichen sprechen dafür, dass die Tendenz wieder hin zum direkt politisch-erzieherischen oder gar revolutionären Register geht und sich künstlerische Praxis wieder eng an soziale Bewegungen und lokale Kritikfelder anschließt; dies war in jüngerer Zeit auf hohem Niveau beispielsweise in der Kölner Ausstellung ExArgentina oder in den zahlreichen Projekten der Zürcher Shed-Halle und der Berliner NGBK (zu Subkulturen, Urbanistik und Reproduktionstechnologien) zu erleben. Es gibt allerdings auch Fälle, die einer anderen und neueren Logik folgen. In ihnen ist der Ort der Kunst keiner, der von außen oder vom Rand her und mit dem Privileg des Beobachters das Feld der Politik thematisiert, kritisiert oder revolutioniert; sondern die politischen und sozialen Bedingungen der Kunstpraxis der Gegenwart, d.h. das institutionelle Gefüge westlich-liberal-demokratisch-kapitalistischer Gesellschaften selbst sind ihr Thema.
Der diskrete Charme der Ethnographie
Zwei ambitionierte Ausstellungen aus dem letzten Jahr liefern einige Belege für einen solchen Trend hin zu einer »neuen« politischen Kunst, wenn sie auch seine problematischen Potentiale nicht verbergen. Sowohl die Ausstellung Making Things Public: Atmosphären der Demokratie (20.3.–3.10.05, kuratiert von Bruno Latour und Peter Weibel) am Karlsruher Zentrum für Kunst und Medientechnologie wie das internationale und mehrteilige Populism-Ausstellungsprojekt, dessen deutsche Station im Frankfurter Kunstverein zu sehen war (»Populismus«, kuratiert von Lars Bang Larsen, Cristiana Ricupero und Nicolaus Schafhausen, 11.5.–4.9.05), sind Kunstausstellungen mit politischen Themen, aber keine Ausstellungen »politischer Kunst« im klassischen Sinn. Beide sind stark theoriegeleitet und waren von der inzwischen üblichen Diskursproduktion begleitet (Konferenzen, Vorträge, voluminöse Publikationen).
Die Ausstellungen nähern sich beide dem Verhältnis der Kunst zur zeitgenössischen Demokratie, allerdings von zwei unterschiedlichen Seiten, von genau entgegengesetzten Polen: Während Atmosphären der Demokratie vor allem untersucht, wie im Zeitalter der politischen Öffentlichkeiten explizit Sichtbarkeiten hergestellt, Argumente für die politische Debatte generiert und kollektive Entscheidungsfindung imaginiert wird, interessiert sich Populismus für die eher impliziten und nicht immer eingestandenen Mehrheitseffekte in Demokratien. Deshalb ist die Karlsruher Ausstellung dokumentarischer und rekrutiert Künstler als politische Ethnographen, die Wahlprozesse, Staatsbesuche und die Standardisierung der europäischen Pässe begleiten und festhalten; in ihrer Begleitpublikation lässt sie politische Philosophen, Wissenschaftshistorikerinnen und Ethnologen über Versammlungsarchitekturen und Verfassungen, Umweltpolitik und Börsengänge berichten.
Die Frankfurter Ausstellung ist analytischer und beleuchtet die Imaginarien und Ideologien von Reinheit und Sicherheit, die in Werbung und Unterhaltungsindustrie zirkulieren, und den glücksversprechenden Mythos einer unschuldigen Globalkultur. Im Begleitbuch werden die soziologischen und technologischen Bedingungen populistischer Politikformen untersucht. Während aus der einen Richtung die materielle Seite des Politischen in den Fokus der ästhetischen Beschreibung und Interpretation tritt, wird aus der anderen Richtung die affektive und psychologische Unterseite demokratischer Gesellschaften verhandelt.
Weder illustrativ noch privilegiert
Die Rolle der Kunst im Verhältnis zu politischer Analyse oder theoretischer Kritik ist in beiden Fällen weder nur rein illustrativ (und wiederholt die politischen Anliegen) noch ist sie privilegiert (und bietet exklusive Einsichten in politische Probleme). Stattdessen ist sie ein reiches Reservoir an Visualisierungen, Bildgebungsverfahren und Reflexionsmöglichkeiten. Diesen mittleren und nicht ganz autonomen Status hat die Kunst, weil sie im Zeitalter der Bilder- und Symbolpolitik mit zahlreichen nicht-ästhetischen visuellen Strategien konkurriert. Der hohe Anspruch von Ausstellungen wie Atmosphären der Demokratie und Populismus ist es, vor dieser Tatsache nicht zu kapitulieren, sondern von ihr aus weiterzuarbeiten. Die von Ernesto Laclau in seinem Beitrag zum Populismus-Reader vorgetragene These, dass demokratische Politik als solche populistisch ist und es nur auf unterschiedliche Weisen sein kann, wird erst durch eine Ergänzung sinnvoll, die Bruno Latour in seinem programmatischen Text für die Karlsruher Ausstellung und das Begleitbuch formuliert – nämlich dass die »Wesen des Verbergens« wie die des Sichtbarmachens von Dingen und Tatsachen zum Wesen des Politischen gehörten.
Daraus folgt erstens, dass die Rahmen- und Möglichkeitsbedingungen politischer Prozesse nicht nur auf institutionelle Interaktionsformen beschränkt sind, sondern auch die informellen Foren und längst nicht mehr bewussten Alltagspraktiken einbezieht, und dass zweitens demokratische Politik immer auch (mehr oder weniger ungesteuert) darauf abzielt, ein bestimmtes, hegemoniales Bild des demokratischen Lebens zu zeichnen und als das verbindliche zu behaupten. Zum Verständnis solcher Prozesse werden ästhetische Darstellungen relevant, weil sie immer schon bewusst und ohne es zu verbergen eine aktive »Teilung des Sichtbaren«, wie es Jacques Rancière nennt, vornehmen und so im engen Rahmen eines ästhetischen Werks das erzeugen, was jede politische Ordnung erzeugt: eine geteilte und teilbare soziale Welt. In diesem Sinn ist die Kunst politisch wie die Politik ästhetisch, denn die Kunst kann diese Gemeinsamkeit des aktiven Gestaltens und Fabrizierens eines sozial Geteilten auf eine hilfreiche Weise ausstellen und damit gleichzeitig darstellen und kommentieren.
Zum Erreichen dieses Ziels kann sie laute und leise Töne anschlagen. In der Frankfurter Ausstellung dokumentiert ein audio-visuelles Archiv die Welle politischer Empörung, die gegen Thomas Hirschhorns »Swiss-Swiss Democracy«-Projekt (Centre Culturel Suisse, Paris, 4.12.2004–31.1.2005) losbrach, als eine Boulevardzeitung einen Skandal aus der Tatsache machte, dass eine mit Steuergeldern finanzierte Performance den populistischen Schweizer Politiker Blocher in den »Schmutz« zog. Während Hirschhorns plakative Aktionen und Gegen-Spektakel selbst einer Logik der populistischen Erregungskunst folgen, macht ein kaum erkennbares, sich seiner Umgebung vollständig anpassendes Werk über der Eingangstür des Ausstellungsortes (»Number of Visitors«, von Jens Haaning und der dänischen Künstlergruppe Superflex) ohne weitere Ausrufezeichen klar, dass über Gedeih und Verderb im Zeitalter der Massenmedien und der Öffentlichkeitsdemokratie vor allem die großen Zahlen entscheiden. Ein digitaler Zähler misst die Zahl der Ausstellungsbesucher. Diese ästhetische Lektion in politischer Statistik ist unabweisbar: Im Parlament wie im Museum zählt nur, was zählbar ist.