Was bringt kluge Theorie, wenn keine gute Praxis daraus erwächst? Und wohin führt ein Aktivismus, der erkennbar falschen Ideen folgt? Politik und Philosophie brauchen einander.
Oft und sicher bestens nachvollziehbar wird gefordert: Die Philosophie – schon gar die sich selbst als politisch bezeichnende – solle endlich praktisch werden. Marx’ 11. Feuerbach-These – »Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es kömmt aber darauf an, sie zu verändern.« – ist das berühmteste Beispiel. Die Lockgesänge kommen immer von der Seite der Praxis, selten von jener der Theorie. Aus der politischen Praxis heraus wurde die theoretische Reflexion von jeher als bestenfalls unnütz, schlimmstenfalls gefährlich attackiert. Die Philosophie hingegen hat von Beginn an gegen die Vereinseitigung der Praxis protestiert. Dabei liegt das Argument für die Notwendigkeit der Reflexion der Praxis so klar auf der Hand, dass kaum verständlich ist, wie es übersehen oder gar bestritten werden kann.
Wenn wir handeln, dann oft mit unbewussten Absichten und Ideen im Kopf. Wir wollen unser Handeln, speziell das politische, aber als gezieltes und überlegtes Einwirken auf die Umwelt verstehen. Dazu bedarf es einer bewussten Orientierung im praktischen Handeln. Wir müssen uns über den Sinn und Zweck dessen klar sein, was wir tun wollen oder sollen. Erst die theoretische Reflexion, also der explizite und offene Austausch von Gründen und Argumenten, erlaubt hier ein kritisches oder affirmatives Verhalten. Wir bedürfen theoretischer Vernunft, um die konkrete Handlungssituation richtig zu analysieren, und praktischer Vernunft, um Kriterien an die Hand zu bekommen, die das eigene Handeln im unwegsamen Gelände der politischen Verhältnisse normativ orientieren können. Woher sollte man sonst wissen, was zu tun ist, wenn man es sich nicht einfach von Tradition, Religion und Ideologie vorgeben lassen will? Wir brauchen gute Theorien, um die falschen Ideen, die eine Praxis eventuell anleiten, auszutreiben und eigene Ideen zu entwickeln und anzuwenden. So einfach und so schlagend ist das Argument für die Theorie. Die Tat ist eben nicht alles.
Bei diesem Sieg nach Punkten könnte man es bewenden lassen, wenn die Sirenen auf einem höheren Reflexionsniveau nicht wieder ihre Stimme erheben würden: Natürlich baue richtige Praxis auf ethisch-politischer Reflexion auf, aber zur Praxis müsse es schon kommen. Gerade an dieser Aufgabe – Anleitung zur Praxis zu sein – scheiterten die meisten Ansätze der politischen Philosophie. Theorie ist damit zwar nicht unnötig, bleibt aber meist ohne Wirkung. Sinn der politischen Reflexion ist jedoch gerade die Anleitung zur Praxis. Auf die Tat kommt es an. Das ist zwar richtig, kann im Namen der Theorie geantwortet werden, aber ... die Theorie kann nicht unmittelbar praktisch werden. Zunächst: Politisches Handeln kann aus philosophischem Wissen nicht abgeleitet werden. Die ›Umsetzung‹ theoretischer Einsichten bedarf praktischer Urteilskraft, die abstrakte Ideale und Prinzipien der Situation anpasst – und das erfordert empirische Erkenntnisse. Außerdem kann man nicht alleine politisch handeln, sondern nur zusammen mit anderen, und die muss man erst einmal überzeugen. Die theoretischen Ideale werden so in den genuin politischen Prozess der Konsens- und Kompromissfindung einbezogen und darin verändert. Schließlich dürfen, wie schon Kant gegen Platon bemerkte, Politik und Philosophie auch gar nicht zusammenfallen, »weil der Besitz der Gewalt das freie Urteil der Vernunft unvermeidlich verdirbt«.
Politische Philosophie und politische Praxis sind wechselseitig aufeinander bezogen und doch getrennt. Die Philosophie soll und kann die Praxis nicht direkt verändern. Aber wenn die Theorie wegen dieser unvermeidlichen Kluft dazu neigt, die Praxis ganz zu meiden, verfehlt sie ihren Sinn, kritische Reflexion und Anleitung der Praxis zu sein. Es bedarf einer Arbeitsteilung zwischen politisch-philosophischer Kritik und politischer Machtausübung, die in der Sphäre der Öffentlichkeit demokratisch vermittelt wird. Erst in immer neuen Grenzgängen zwischen Theorie und Praxis lässt sich das jeweils angemessene Verhältnis herstellen.