Zu den Gewissheiten des modernen demokratischen Rechtsstaates gehört, dass die »Freiheit des freien Fuchses im freien Hühnerstall« (Roger Garaudy) kaum als Leitbild einer Gesellschaft taugt, die das Versprechen gleicher Freiheit für alle vor sich herträgt. Die Arbeiterbewegung hat im 19. Jahrhundert die soziale Klassengesellschaft in mühevollen Kämpfen herausgefordert und schließlich die Ideologie des scheinbar neutralen Staates in die Knie gezwungen. Seit dieser Zeit ist die soziale Gleichheit integraler Bestandteil des demokratischen Rechtsstaatsmodells und die ebenfalls aus dem 19. Jahrhundert stammende Dichotomie von Staat hier und Gesellschaft dort auf dem Ablageplatz der Geschichte gelandet. Erstaunlicher weise feiert sie aber inden Debatten über das hochumstrittene Antidiskriminierungsgesetz eine späte Renaissance. Es sind vor allem zwei Einwände, die gegen eine offensive Umsetzung der europäischen Antidiskriminierungsrichtlinien vorgebracht werden: zum einen die Befürchtung, dass ein umfassendes Antidiskriminierungsrecht zu immensen Schadensersatzklagen führen könnte. Wobei allzu großzügige Regelungen auch einem Missbrauch Vorschub leisten würden, worunter dann die Wettbewerbsfähigkeit leiden würde. Auf einer grundsätzlicheren Ebene wird zweitens davor gewarnt, dass die Freiheit insgesamt in Gefahr ist, weil die Befürworter des Gesetzes angeblich eine Tugendrepublik errichten wollen, die an den jakobinischen Terreur erinnert: Anstatt zwischen Staat und Gesellschaft, Recht und Moral sauber zu trennen, so der Vorwurf, soll jetzt auch jeder Bürger zum korrekten, moralisch untadeligen Handeln erzogen werden.
Der erste Einwurf ist recht leicht zu entkräften: Großbritannien und die USA besitzen schon seit den 60er (USA) bzw. 70er Jahren (GB) Gesetze, die insbesondere Diskriminierungen wegen der Hautfarbe oder ethnischen Herkunft im Berufsleben, auf dem Arbeitsmarkt und in allen möglichen Bereichen des täglichen Lebens als Rechtsbruch ansehen, für den im Zweifel Schadensersatz zu zahlen ist. Erkenntnisse darüber, dass dies zu nennenswerten Einschränkungen der Wettbewerbsfähigkeit geführt hätte, liegen nicht vor, im Gegenteil: Immer häufiger wird die Vielfalt (»diversity«) als ein ökonomischer Aktivposten angesehen.
Schwerer wiegt dagegen der Einwand, Tugendideologen wollten unsere bürgerliche Freiheit zerstören. Als Paradebeispiel muss hier immer wieder die alte Dame herhalten, die ihre Einliegerwohnung nicht an dunkelhäutige Muslime vermieten will, nach dem geplanten Gesetz aber angeblich dazu gezwungen (was freilich nicht stimmt) und damit ihrer bürgerlichen Handlungsfreiheit beraubt wird. Der Staatsrechtler Gerhard Roellecke hat einstmals diese Freiheit als »Grundrecht auf Diskriminierung« bezeichnet: Während die öffentliche Gewalt farbenblind sein muss, dürfen die Bürger sich untereinander nicht nur nicht mögen, sondern auch unterschiedlich behandeln. Was hier so harmlos klingt, hat natürlich handfeste gesellschaftliche und soziale Folgen: Strukturell unterschiedliche Chancen auf dem Wohnungs-, Ausbildungs- und Arbeitsmarkt bewirken massive Hierarchisierungen und fördern die Desintegration der bundesdeutschen Gesellschaft. Jeder neue Bericht der Migrationsbeauftragten des Bundes spricht Bände und verdeutlicht die ungleiche Verteilung der Zugangschancen zu Bildung und Ausbildung. Die sozialen Disparitäten rechtfertigen also allemal einen Eingriff des Gesetzgebers, auch in das Ausbildungs- und Arbeitsmarktgeschehen. Nur so werden die Bedingungen der Möglichkeit von individueller Freiheit gewährleistet.
Dies ist jedoch noch nicht einmal der Kern der Problematik. Denn ein Antidiskriminierungsgesetz wäre auch dann gerechtfertigt, wenn es keine klaren Kausalitäten zwischen Diskriminierung und sozialer Exklusion von gesellschaftlichen Gruppen gäbe. Geschlecht, Hautfarbe und ethnische Herkunft sind keine miteinander konkurrierenden »Lebensweisen«, wie uns Stefan Husters Intervention suggerieren möchte, sondern in erster Linie gesellschaftlich zugeschriebene und determinierte Merkmale. Nicht konkrete, in ihrer Individualität betroffene Personen werden daher diskriminiert, sondern Angehörige von sozial imaginierten Gruppen. Das beste Beispiel hierfür hat der SPD-Abgeordnete Sebastian Edathy in der Bundestags-Debatte über das geplante Antidiskriminierungsgesetz geliefert: Als er nach seiner Wahl in Berlin eine Wohnung suchte, fragte ihn ein potenzieller Vermieter telefonisch, ob er Ausländer sei. Auf die Antwort, dass nur deutsche Staatsangehörige Mitglieder des Bundestages werden könnten, dass allerdings der Vater von Edathy Inder sei, sagte der Vermieter: »Wenn er Vater Inder ist, kocht der Sohn doch bestimmt mit ganz scharfen Gewürzen. Den Gestank bekomme ich nicht mehr aus der Wohnung, vermutlich muss ich den Putz abklopfen.« Aus der Vermietung wurde natürlich nichts.
Für Angehörige imaginierter Gruppen gibt es in solchen Situationen kein Entrinnen, und mit einem »Wettbewerb der Lebensformen« hat das alles nichts zu tun. Der Schutz gegen Diskriminierungen soll also nicht nur soziale Schieflagen verhindern oder abmildern, sondern auch und vor allem die Bürgerrechte und die gleiche Handlungsfreiheit für alle sichern. Und darüber müssten klassische Liberale sich eigentlich freuen.