Institutionen hegen Konflikte ein. Statt Utopien prozessieren sie technische Lösungen. Eine lebendige Demokratie ist deshalb auf eine permanente Neugründung angewiesen.»Alle reden über das Wetter, aber keiner tut etwas dagegen.« Schon Mark Twain und der SDS wussten: So sehr man unter einem langen, grauen Winter leiden mag, weder Demonstrationen noch Gesetzesinitiativen werden hier etwas ausrichten. Bestimmte Phänomene entziehen sich offensichtlich der politischen Gestaltung und können deshalb auch nicht politisiert, das heißt zu politischen Fragen gemacht werden. Natürlich ist es nicht immer völlig klar und unumstritten, für welche Phänomene das gilt. So ist etwa das Verhältnis zwischen den Geschlechtern lange Zeit als naturgegeben oder gottgewollt und damit als unveränderbar verstanden worden. Um zu der Einsicht zu kommen, dass die Verteilung von Erziehungs- und Hausarbeit, von beruflichen Chancen und Möglichkeiten des öffentlichen Auftretens nicht als Ausdruck einer natürlichen oder gar übernatürlichen Ordnung verstanden werden sollte, hat es immerhin der Frauenbewegungen des 20. Jahrhunderts bedurft.
Die Politisierung der »Frauenfrage« folgt dabei derselben Logik wie die Politisierung der »sozialen Frage« im 19. Jahrhundert: Etwas, das man als natürlich, gegeben und unverfügbar angesehen hat, wird plötzlich in den Bereich des Gestaltbaren erhoben, das Natürliche wird als von Menschen Gemachtes und deshalb auch Veränderbares dechiffriert. Auf einmal gibt es hier Erniedrigte und Beleidigte, Recht und Unrecht, Fortschritt und Rückschritt. Es wird sichtbar, dass es um handfeste Interessen geht und dass bestimmte Gruppen strukturell benachteiligt sind. So macht die Logik von Politisierungsprozessen deutlich, dass es sich beim Politischen um einen Bereich handelt, der durch menschliches Handeln konstituiert wird. Hier geht es um Entscheidungen – und diese sind immer umkämpft. Anders als beim Wetter ist das dann ja auch bei den meisten gesellschaftlichen Phänomenen der Fall.
Der Bereich des Politischen steht aber nicht nur im Gegensatz zu dem des Natürlichen, sondern auch zum Privaten. In diesem Sinne nennen wir ein Problem »politisch«, wenn es nicht nur um Persönliches geht. Nur wenn die Frage, wie ich meinen Mann und meine Kinder behandle und ob ich arbeitslos bin, nicht mehr nur als Privatangelegenheit verstanden wird, wird sie zur politischen Frage. Als solche betrifft sie potentiell alle. Politisierung bedeutet deshalb immer auch, dass (mit Hannah Arendt formuliert) das im Dunkel des Privaten Verschwindende ins Licht der Öffentlichkeit gestellt wird. Dass das Private politisch sei, ist in diesem Sinne eine sich selbst erfüllende Behauptung: Soziale Bewegungen machen Privates politisch, indem sie öffentlich darüber debattieren.
Sucht man nun nach paradigmatischen Fällen politischen Handelns, so ist man mit ganz verschiedenen Phänomenen konfrontiert: von der Französischen Revolution über die Frauenbewegung bis hin zur Bundestagswahl und lokalen Attac-Gruppe. Politische Praxis kann die unterschiedlichsten Formen annehmen, von extrem verflüssigten »heißen« Momenten euphorisch- kollektiven Handelns, in denen alles gleichzeitig veränderbar und möglich erscheint, bis zu zähflüssig-erstarrten Formen der in politische Gremien verwiesenen Entscheidungsfindung. »Revolution« und »Institution« lassen sich so als zwei einander entgegengesetzte Extreme innerhalb eines Kontinuums möglicher »Aggregatzustände« des Politischen verstehen. Als äußerste Form politischer Praxis führen Revolutionen zum Umsturz einer bestehenden Ordnung. In Institutionen hingegen werden politische Praktiken auf Dauer gestellt, sie werden zu mehr oder weniger routinisierten administrativen Abläufen und verlieren dadurch ihren Praxischarakter. Institutionen haben immer den Zweck, Revolutionen überflüssig zu machen und zu verhindern, indem sie die potentiell revolutionären Subjekte auf den »langen Marsch durch die Institutionen« schicken und konfliktträchtige Probleme in bearbeitbare Verwaltungsvorgänge zerlegen.
Dennoch: Wie das Bild von den Aggregatzuständen deutlich macht, handelt es sich hier um eine falsche Alternative. Wenn Institutionen – und gerade darin unterscheiden sie sich von Systemen – als »geronnene Praxis« verstanden werden können, so ändert der Umstand, dass es hier auf Dauer gestellte Abläufe gibt, die nicht jedes Mal neu erfunden werden müssen, nichts an der grundlegenden Tatsache, dass wir es mit Resultaten menschlichen Handelns zu tun haben, die auch von Menschen verändert werden können. Nicht also auf die permanente und totale Verflüssigung kommt es an, sondern auf die prinzipielle Möglichkeit, routinisierte Abläufe dort zu hinterfragen, wo sie Probleme generieren. Oder anders: Die entscheidende Frage ist, ob sich die Individuen mit den politischen Institutionen, in denen sie ihr Leben führen, identifizieren können. Und das hängt unter demokratischen Bedingungen davon ab, ob sie sich in ihnen als potentiell Gestaltende und Teilhabende erfahren können. Die immer mitlaufende Reflexion über den Charakter der Institution ist selber Teil ihres politischen Charakters. Wo sie prinzipiell versperrrt ist, droht Entpolitisierung – als Erstarrung und Verknöcherung. Instanzen der Entpolitisierung sind Institutionen dann nicht, weil sie Institutionen sind, sondern weil der Zustand mancher demokratischer Institutionen so ist, wie er ist: potentiell entmündigend, undurchdringlich, dem Einzelnen als fremde Macht gegenüberstehend.
Macht wandert aus, Markt schreitet ein
Entpolitisierung als Verdrängung des Politischen ist auch das Ergebnis eines Diskurses, der sich sowohl als Ansatz in der Politischen Philosophie wie als Ideologie im Bereich der politischen Praxis entwickelt hat. Für den Liberalismus ist nicht unbedingt die Legitimation durch den Input entscheidend – also etwa die gleichberechtigte Partizipation aller Bürgerinnen und Bürger –, sondern der Output: die effektive Sicherung individueller Rechte und wirtschaftlichen Wohlstands. Das deutet schon an, dass die eigentliche Legitimationsquelle der Politik anderswo liegen muss: nämlich in der Gesellschaft freier und wesentlich privater Individuen, deren Interessen durch die Politik geschützt und befördert werden sollen. Für den Liberalismus stellt sich das Gemeinwohl als »Addition von Privatinteressen« (Arendt) dar. Der Politik kommt damit im Verhältnis zur Gesellschaft eine sekundäre Stellung zu. Dem entspricht die Verdrängung des politischen Denkens durch die Sozialwissenschaften, für die Politik ein gesellschaftliches System unter anderen ist. Von hier aus ist es nur noch ein kleiner Schritt zu der These, dass es die Eigenlogik insbesondere des kapitalistischen Wirtschaftsystems unmöglich macht, den Gestaltungsanspruch der Politik einzulösen. Aus dieser Perspektive muss die Auswanderung politischer Entscheidungsmacht aus demokratischen Gremien in Verhandlungsnetzwerke, in denen Bürokraten, Experten und Interessenvertreter zusammenkommen, um sachzwangangemessen zu entscheiden, nicht als Entpolitisierung erscheinen.
Das liberale Modell wird damit aber nicht nur zum Ausdruck realer Entpolitisierungstendenzen, sondern selbst zum Agenten der Entpolitisierung. Es blendet das Politische – als Streit um das Gemeinsame – aus und reduziert Politik auf die technische Lösung sozialer Koordinationsprobleme, die man im nächsten Schritt dann guten Gewissens an den Markt delegieren kann, der dazu ohnehin besser geeignet ist.
Liegt die Notwendigkeit von Politik einerseits vor allem in der unaufhebbaren Konflikthaftigkeit unserer gesellschaftlichen Situation begründet, so hat die Moderne andererseits immer auch von der Aufhebung dieser Situation und der Überwindung der Politik geträumt, mit den bekannten fatalen Folgen – sowohl auf der Rechten wie auf der Linken. So steht die Idee der revolutionären Praxis stets in Gefahr, sich der Illusion einer Überwindung des Politischen in einer Gemeinschaft ohne Konflikte hinzugeben. Für die Wirkmächtigkeit dieser Utopie ließen sich viele Beispiele aus der Vergangenheit anführen. Gerade der Marxismus schwankte zwischen totaler Politisierung der Gesellschaft und einer Aufhebung des Politischen ins Soziale – beides führt zum Verschwinden der Politik. Spiegelbildlich findet sich diese Hoffnung auf Versöhnung auch auf der Rechten, hier allerdings in doppelter Gestalt. Für eine traditionell-konservative Vorstellung soll eine der Politik voraus- und zugrundeliegende Substanz (Tradition, Abstammung, Leitkultur) eine grundlegende Harmonie verbürgen, die dann natürlich gegen innere und äußere Feinde verteidigt werden muss. Hingegen baut die neoliberale Hoffnung darauf, dass die Koordinationsleistungen des Markts oder des Rechts zum Absterben der politischen Praxis führen könnten.
Für einen linken Republikanismus
Gegen diese Tendenzen stellt der Republikanismus die Partizipation der Bürgerinnen und Bürger in Prozessen der kollektiven Selbstbestimmung. Innerhalb des republikanischen Lagers lässt sich dabei eine konservativ-nostalgische Variante von einer radikalen unterscheiden. Erstere trauert auf teilweise recht pathetische Weise Bürgertugenden und zivilgesellschaftlichem Ethos hinterher – und feiert im Gegenzug die Dresdner Frauenkirche, die Hamburger Elbphilharmonie und das ersehnte Berliner Stadtschloss mit einer Penetranz als Wahrzeichen einer neuen Bürgerlichkeit, die nur als symbolischer Politikersatz verstanden werden kann. Im Gegenzug stellt für die radikale Variante des Republikanismus – nennen wir sie Linksrepublikanismus – die partizipatorische Praxis kollektiver Selbstbestimmung, also die Selbstregierung der politischen Gemeinschaft das politische Handeln par excellence dar. Ihre realpolitische Entsprechung findet diese Form des linksrepublikanischen Denkens vielleicht am ehesten in solchen politischen Bewegungen, die ein agonales Politikverständnis nicht gleich institutionell einzuhegen versuchen, sondern die politische Austragung von Konflikten im Rahmen der gemeinsamen Gestaltung der Lebensbedingungen gerade forcieren wollen.
Gegen den rechten und linken Traum von der Überwindung der Politik gilt es also die Unausweichlichkeit von Konflikten und damit von politischer Praxis, den unhintergehbar politischen Charakter aller gesellschaftlichen Problemlagen herauszustellen. Der Linksrepublikanismus darf jedoch nicht als Plädoyer für eine nur »aktivistische« Politik missverstanden werden, deren einziger Ort die Straße wäre. Daran würde er gerade in komplexen Gesellschaften scheitern. Und er würde darüber hinaus die Rolle von Institutionen für die nicht gewaltförmige Austragung von Konflikten unterschätzen. Institutionen sind nicht als solche das Problem – solange sie die Tatsache nicht ausblenden, dass sie auf ihre permanente Neugründung im Vollzug der politischen Praxis angewiesen sind und damit deren Konflikten weiter ausgesetzt bleiben. Institutionen können sich aber verselbständigen und die politische Praxis verdrängen. Und wenn insbesondere Markt, Recht und Bürokratie heute als von der Praxis abgekoppelte Systeme erscheinen und damit – durch eine zum Teil gezielte Politik der Entpolitisierung – Politik ersetzen, muss der Linksrepublikanismus die (Re-)Politisierung von Markt, Recht und Verwaltung betreiben. Politisierung heißt dann in erster Linie Demokratisierung und erfordert die Abschaffung von Bedingungen, die kollektive Autonomie und damit Politik als Projekt der gemeinschaftlichen Gestaltung der Lebensbedingungen systematisch blockieren. Und Demokratie kann es dann nur als radikale Demokratie geben – als radikaldemokratische politische Praxis, die in einem »repräsentativen« Herrschaftssystem, in dem eine ökonomisch- administrative Elite politische Konflikte möglichst kostenneutral unter Kontrolle zu halten versucht, vor allem eine neue Form der Tyrannei erblickt.