Die politische Philosophie steht vor einem Rätsel. Sie soll die Praxis erklären, die wir »politisch« nennen, doch ihr Gegenstand scheint zu zerfließen, sobald er näher betrachtet wird.
Für die einen ist Politik eine Praxis der Macht, antagonistischer Interessenskonflikte und strategischer Kämpfe, sowohl innerhalb als auch jenseits festgefügter Institutionen, mit dem Ziel, eben jene zu verändern oder aber Veränderungen zu verhindern. Für die anderen hingegen ist politische Praxis eine der rationalen Argumentation und Überlegung, der kooperativen Suche nach dem Gemeinwohl und dessen Verwirklichung.
Seit ihren Anfängen leidet die politische Philosophie darunter, dass ihr Objekt so unterschiedlich beschrieben werden kann. Das zeigt sich schon im Grundbuch dieser Disziplin, Platons Politeia. Dort platzt dem Thrasymachos der Kragen, als Sokrates das übliche Frage-und-Antwort-Spiel in Bezug auf die Gerechtigkeit betreibt und die Definition vorschlägt, Gerechtigkeit bedeute, »jedem das Seine« zu geben. Gerechtigkeit, so hält Thrasymachos dagegen, sei im Bereich des Politischen doch einfach nur das, was den Herrschenden nütze und diese folglich als gerecht festsetzten.
Das Wesen des Politischen kann nur verstehen, wer sieht, dass beide Recht haben. Denn es dauert nicht lange, bis Thrasymachos zugeben muss, dass seine These eine kritische ist: eine Kritik schlechter und ungerechter Herrscher, nicht der Gerechtigkeit selbst. Was Sokrates freilich schuldig bleibt – und was unsere Tradition der politischen Philosophie in Bewegung gesetzt hat -, ist nicht nur der Beweis dafür, dass das gerechte Leben auch das gute und wahrhaft vorzuziehende Leben ist. Er müsste auch zeigen, wie man die gerechte von der ungerechten Praxis dort unterscheidet, wo sie anzutreffen sind: nicht im Reich der unwandelbaren Ideen, sondern hier und jetzt.
Der Zwang zum besseren Argument
»Unpolitisch« ist jede Betrachtung der Politik, die eine dieser beiden Seiten übersieht. Man versteht diese Praxis nicht, wenn man nicht erkennt, dass sie aus Kämpfen, Konflikten und Antagonismen besteht – und man versteht sie auch nicht, wenn man vergisst, dass dies Kämpfe für normativ definierte politische Ziele sind: für »Freiheit«, »Gerechtigkeit«, »Demokratie«. Der politische Raum ist immer auch der Raum des Normativen; Prinzipien und Werte werden nicht von außen in ihn hineingetragen – sie sind das, worum es geht. Dabei treffen freilich verschiedene Verständnisse von Freiheit, Gerechtigkeit usw. aufeinander, und diese Ideale werden umso umstrittener, je konkreter sie werden. Das Politische ist der Raum des Normativen, das umkämpft ist. Aber für jeden, der dies im Sinne kritischer und nicht, mit Horkheimer zu reden, traditioneller Wissenschaft begreifen will, gibt es keine teilnahmslose Beschreibung des Ganzen. Distanzierte Teilnahme ist vielmehr gefragt.
Es hat daher stets etwas Merkwürdiges, wenn PhilosophInnen (etwa Hannah Arendt folgend) sagen, sie seien keine, und auch, wenn sie sagen, die Politik sei eine Praxis ohne arché, um gleich darauf hinzuzufügen, es gehe in ihr einzig und allein um x – um die Gleichheit, die Freiheit von Fremdbestimmung (also eigentlich »Selbstbestimmung«) oder eben um die Demokratie als das beständige Infragestellen politischer Grenzlinien. Das ist ein plausibler, radikaler Begriff von Demokratie, wie Rancière ihn vertritt, aber eben einer, dem von vornherein die Idee einer Praxis der Rechtfertigung unter Gleichen als Sinn und Zweck des Politischen normativ eingeschrieben ist. Und das ist auch gut so. Denn die politische ist eine besondere Praxis der Rechtfertigung: die Praxis des Infragestellens wie auch des Herstellens von Konsensen und Kompromissen. Die Demokratie, als besondere Form dieser Praxis, ist die Institutionalisierung nicht so sehr des Zwangs des besseren Arguments, sondern des Zwangs zum besseren Argument. Reflexiv gewendet ist die wichtigste politische Aufgabe folglich die Etablierung von Arenen und Foren, in denen Rechtfertigungen gefordert werden können und geliefert werden müssen.
Wenn ein Widerspruch trifft, zeigt er etwas an der Wirklichkeit
Die Logik des Politischen ist die Logik der Rechtfertigung: der Legitimation bestimmter Verhältnisse sowie ihrer Kritik, und zwar nicht nur institutioneller, sondern auch diskursiver Art – als Kritik dessen, was als vernünftig, plausibel, gerecht usw. gilt. Diese Logik ist eine zutiefst historische, die die Dynamik sozialer Konflikte erklärt, aber auch eine normative, die man für abstraktere Modelle der Normenrechtfertigung ebenso nutzen kann wie für die Rekonstruktion vergangener (und doch fortlebender) gesellschaftlicher Auseinandersetzungen (um Toleranz etwa oder die Trennung von Kirche und Staat). Der gängige Widerspruch zwischen einer »historischen« und einer »systematischen« Betrachtung des Politischen ist daher gar keiner; zumindest kein vernünftiger.
Politisierung heißt somit nichts anderes, als den konventionellen Raum politischer Gründe (und entsprechender Institutionen) aufzubrechen und Dinge auf neue Weise zu thematisieren – und zwar nicht allein in Vertretung von, sondern unter Beteiligung der Betroffenen. Foucault hat einmal zu Recht gesagt, dass es entwürdigend sei, für andere zu sprechen, und er meinte in erster Linie die, die sprechen. Ob der Widerspruch, der geäußert wird, dann als ein »immanenter« gekennzeichnet werden kann, ist eine weitere als wichtig angesehene, aber doch unwichtige Frage: Wenn ein Widerspruch trifft, zeigt er etwas an der Wirklichkeit, etwas Immanentes, und dies vielleicht mit Hilfe eines sehr abstrakten oder radikalen neuen Gedankens, etwa dem, dass soziale Ungleichheiten der Güterverteilung nur dann gerechtfertigt sind, wenn keine andere Verteilung denen, die dabei am schlechtesten abschneiden, mehr bringen könnte. Das ist nämlich der eigentliche Sinn des von Rawls vertretenen »Differenzprinzips«.
Die Grundfrage des Politischen ist die, wer wen aus welchen Gründen heraus regieren kann und darf. Und die Beantwortung dieser Frage ist eine Sache der Macht. Das Phänomen der Macht allerdings ist in erster Linie im »intelligiblen« Raum zu verorten: Macht heißt, den bestehenden Raum der Gründe aufbrechen oder versiegeln zu können, zu zersetzen und wieder zu besetzen. Rechtfertigungen sind die Vehikel dieses Strebens; Politisierungen können nur gelingen, wenn sie dies verstehen. Die meiste Kraft entfalten sie dann, wenn sie darauf ausgehen, Praktiken der Rechtfertigung dort zu etablieren, wo sie hingehören. Dies nennt man eine reflexive Form der Politik. 𐂄