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polar #8: Unterm Strich



EDITORIAL

 
Peter Siller, Bertram Keller
Editorial



PRÄMIE

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PHANTOM

 
Stefan Gosepath
Anstrengung und Markt
Der Widerspruch der Leistungsgerechtigkeit
 
Ist es links? >Leistungsgerechtigkeit<
 
Ralf Obermauer
Minderleister der Legitimation
Die rätselhafte Kraft der Leistungsrede in der politischen Arena
 
Walter Pfannkuche
Jenseits von Neid und Habgier
Wie wir uns überzeugen können, dass wir verdienen, was wir verdienen
 
Michael Miebach
Schwitzen und Denken
Die Notwendigkeit eines positiven Leistungsbegriffs fĂĽr die SPD
 
Christian Neuhäuser
Gestatten: Elite?
Eine Inspektion der Leistungsmisere
 
Patrick Bahners
Haltung muss sich wieder lohnen
Guttenberg im Wahlkampf
 
Interview Martin Lindner
»Das gehört tatsächlich alles dazu«
 
Claus-Martin Gaul
Die Linke und die Leistungsträger
Oppositionspolitik in der Umverteilungsfalle
 
Hannes Grassegger/Lukas RĂĽhli
Leistung oder Marktwert?
Wir jagen ein Phantom
 
Michael Hartmann
Die Auserwählten
Auswahlverfahren an amerikanischen Elite-Universitäten
 
Franziska Stoltze/Lucas Guttenberg/Sebastian Kraus
Am Rande des Wahnsinns
Vom Leistungsbegriff an sogenannten Elite-Hochschulen
 
Christoph Raiser
Mein halbes Jahr: >Musik<
Le Chevalier de Rinchy – AU – Girl Talk
 
Matthias Dell
Mein halbes Jahr: >Film<
Defamation – A serious Man – Up in the Air – Scarlett Street – Zweiohrküken
 
Alban Lefranc
Mein halbes Jahr: >Literatur<
Samuel Beckett – Alfred Döblin – Olivier Le Lay



PILLE

 
Thomas Biebricher
Mit Gott kann ich alles erreichen
Religion als Technik der Leistungssteigerung
 
 

Michael Gamper

Agenten des Unauffälligen

Zur Genealogie der Dopingmoral


Im Sport wird unbestreitbar Leistung erbracht. Blut, Schweiß und Tränen weisen nach, dass es im Sport um Erprobung der Kräfte und gegenseitige Überbietung dies- und jenseits des körperlich Möglichen geht. Dabei ist in einer Gesellschaft, die bei sportlicher Leistung auf Authentizität pocht, der Gebrauch von Hilfsmitteln der regelmäßige Skandalfall. Aber war das denn schon immer so?

Schon als im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts das Fahrrad zum Sportgerät wurde und in Frankreich und England erste Wettkämpfe ausgetragen wurden, war der Radrennsport darauf ausgerichtet, den menschlichen Körper an der und jenseits der Grenze seiner Belastbarkeit zu zeigen. Frühe Rekordfahrten führten etwa über 1.400 Kilometer von Cornwall nach Nordschottland, in den frühen Sechstagerennen fuhren die Zweier-Teams wirklich sechs Tage rund um die Uhr, und die erste Tour de France führte in sechs Etappen über 2.428 Kilometer. Die erste Teilstrecke schickte am 1. Juli 1903 die Teilnehmer auf eine Fahrt von Paris nach Lyon über 467 km, und der Sieger, Maurice Garin, brauchte dafür 17 Stunden, 45 Minuten und 44 Sekunden, der Zehntklassierte, der Franzose Beaugendre, bereits 19 Stunden, 53 Minuten und 40 Sekunden. Als dann nach einigen Jahren die Länge der Teilstrecken keine Sensation mehr war, führten die Organisatoren neue Attraktionen ein. 1910 integrierten sie die Pyrenäen in ihren Parcours: Am 19. und 21. Juli bewältigten die Fahrer auf Bergpfaden und Wirtschaftsstraßen Peyresourde, Aspin, Tourmalet und Aubisque. Die Strapazen waren enorm, die Fahrer an den Rand des Leistbaren gelangt. Selbst der Sieger der Etappe von Luchon nach Bayonne über 326 km, Octave Lapize, rief den Journalisten zu: »Ihr seid Kriminelle. Man verlangt von Menschen keine solche Kraftanstrengungen!« Nicht zu unrecht fühlten sich viele Fahrer als Versuchskaninchen: Denn nachdem im Verlauf des 19. Jahrhunderts mittels Erkenntnissen aus Chemie, Mechanik und Thermodynamik die Physiologie als Wissenschaft von den körperlichen Belastungsgrenzen etabliert worden war, war der frühe professionelle Radsport eines der Testfelder, auf dem die neuen Erkenntnisse praktisch und für alle anschaulich überprüft wurden. 

Leistungserbringung im Profi-Sport war so schon immer auf Liminalität ausgerichtet. Dies bedeutete dann auch, dass Leistungsgrenzen nicht nur durch hartes Training, Verbesserung von Technik und Innovationen im Bereich der Geräte, sondern auch durch die Zufuhr leistungssteigernder Mittel erweitert wurden. Kokain, Strychnin, Alkohol, Amphetamine, Anabolika, Kortison, Epo und Wachstumshormone waren und sind die gängigen Substanzen, mit denen die Profiradsportler ihren Körper noch geeigneter für die anstehenden Aufgaben machen und die Leistungsmöglichkeiten optimieren. Doping war und ist damit die in die letzte Konsequenz getriebene Grundidee des Sports: die Konzentration darauf, besser zu sein als die anderen.

Professionelle Körperpraktik und die »Erziehung der Weltjugend«
»Citius, altius, fortius« lautet auch das Motto der Olympischen Spiele. Vorgeschlagen wurde es 1894 von Pierre de Coubertin auf der Schlusssitzung des Gründungskongresses des Internationalen Olympischen Kommitees nach einer Idee des französischen Dominikanerpaters Henri Didon, der diese Formulierung zuerst auf einem Schulsportfest in Arcueil verwendete, bei dem Coubertin als Wettkampfleiter anwesend war. Offiziell wurde diese Devise dann zum ersten Mal während der Olympischen Sommerspiele 1924 in Paris zitiert, in einer IOK-Satzung war sie erstmals 1949 zu lesen. Damit verschrieb sich auch der olympische Sport dem Leistungs-Ideal der auf Unabschließbarkeit angelegten Verbesserung des Bestehenden. Allerdings trat nun neben den risikobereiten und liminalisierten Profi-Sport ein anderes Konzept von körperlicher Auseinandersetzung, das im Zeichen von Natürlichkeit, Amateurismus und Gesundheit stand. Sportarten proletarischen Ursprungs wie Radfahren, Boxen und Fussball, die auf Schaustellung von Körper und Leistung ausgerichtet waren und ihren Protagonisten Geld einbringen sollten, wurden mit einer Auffassung von sportlichem Wettkampf konfrontiert, die gleichermaßen pragmatische und ethische Ziele verfolgte. Aus dem Gentleman-Milieu übernommenes faires Benehmen ging dort Hand in Hand mit der Ausbildung des bürgerlich-kapitalistischen Individuums und der Stärkung des nationalen Zusammenhalts; propagiert wurden Siegeswille und Durchsetzungskraft in Verbindung mit amateurhafter Fairness sowie interesselosem Wohlgefallen an der eigenen Leistung und derjenigen des anderen. Aus der Perspektive olympischer Sportethik musste deshalb alle nicht durch Trainingsarbeit am eigenen Körper erbrachte Leistung als Betrug erscheinen – eine Sichtweise, die dem auf publikumswirksame Sensationen und damit lukrative Wettkämpfe ausgerichteten professionellen Sport grundsätzlich fremd war.

Mit der Durchsetzung der Olympischen Spiele als kommerziell einträglichster Sportveranstaltung und der Etablierung des IOK als mächtigster Sportorganisation nach dem Zweiten Weltkrieg geriet der Profisport, dabei vor allem der Radsport, aber auch das Boxen und der Fußball, unter massiven Druck, die auf den »gesunden« Körper zielende olympische Sportethik zu adaptieren, ohne dass die alten Traditionen und Praktiken der Wettkampf-Präparierung aufgegeben wurden. Olympischer Sport jedoch konnte nur kommerziell erfolgreich sein, wenn er glaubhaft die verantwortungsvolle »Erziehung der Weltjugend« für sich reklamierte – weshalb Doping als Körperpraktik der Professionals seit den späten 1960er Jahren, zumindest offiziell, bekämpft werden musste.

Einige Tote und »Dynamit«
Dieser innere Widerspruch von leistungszähmender Sportethik und professionalisiertem, auf Gewinnmaximierung für optimierte Leistung orientierten Profisport ließ sich lange gut aushalten – solange nämlich, wie eine Diskurs-Ökonomie funktionierte, die von einem fairen, leistungsgerechten Sport berichtete, in dem Doping bloß als Ausnahmefall vorkam. Verkoppelt war diese Rede mit einem Dopingbekämpfungssystem, das auf Prävention, Kontrolle und Sanktion setzte, das aber mit einer Intensität betrieben wurde, die zwar hin und wieder einen »Fall« erzeugte, aber nicht auf die Aufdeckung der tatsächlichen Praxis ausgerichtet war. Weil diese Praxis eine professionalisierte war, in der ebenso verbissen an der optimalen, also zugleich wirkungsstarken und nicht aufdeckbaren Doping-Technologie gearbeitet wurde wie an der Verbesserung der Sitzposition auf dem Rad oder des Ausgleichs von Schnellkraft und Ausdauer, und weil zwar bei Politikern, Funktionären, Journalisten, Trainern und Sportlern Interesse am Bild des »gesunden« und »moralischen« Sports, nicht unbedingt aber an dessen Ausübung bestand, waren die Doping-Kontrolleure stets den berühmten »einen Schritt« im Rückstand – ohne dass sich daran ernsthaft jemand gestört hätte.

Erschüttert wurde diese Ökonomie des gezähmten Leistungssports durch Skandale, mit welchen die Geschichte des Sports reich bestückt ist. Wenn man beim Beispiel des Radsports bleiben will, lassen sich folgende Ereignisse nennen: etwa der Vorfall, als 1886 der Fahrer Linton bei der Ausdauerprüfung Bordeaux-Paris tot vom Rad fiel, vollgepumpt mit Aufputschmitteln; oder die Affäre, als 1924 die Brüder Henri und Francis Pélissier im Café de la Gare in Coutances ihre Trikottaschen leerten, Chloroform, Kokain und eine Pille unbekannten Inhalts mit Namen »Dynamit« auf den Wirtshaustisch legten und der Journalist Albert Londres daraufhin seinen berühmten Artikel »Les Forçats de la Route« (»Die Zwangsarbeiter der Straße«) schrieb; oder das Geschehen, als am 13. Juli 1967 der Engländer Tom Simpson, ein ehemaliger Weltmeister, im oberen Teil des Aufstiegs zum Mont Ventoux an den steinigen Wegrand sank und Stunden später im Krankenhaus von Avignon starb, mit einer Mischung von Alkohol und Amphetaminen im Blut; oder die Begebenheit, als 1998 Willy Voet, Masseur des Festina-Teams, bei der Einreise nach Frankreich während der Tour de France mit einem Wagen voller Medikamente verhaftet wurde und Geständnisse verschiedener Fahrer Doping als die gängige Praxis auswiesen.

Sportwelt der Blutprofile
Ins Wanken geriet das alte System aber erst, als nach 1998 neue Akteure auf den Plan traten. Ehrgeizige Staatsanwälte, profilierungsinteressierte Politiker und beförderungsorientierte Polizeipräfekte griffen nun mit den investigativen Mitteln der Staatsmacht in die bewährte Ökonomie ein und brachten das fragile Gleichgewicht aus dem Lot. Ohne den mit einer mächtigen Lobby versehenen Fußball ernsthaft ins Visier zu nehmen, wurden im Radsport, später in Leichathletik, Skilanglauf und Eisschnellauf Exempel statuiert – und es wurde zunehmend ein neues System installiert, das auch in Bezug auf den Faktor »Leistung« im Sport einen Paradigmenwechsel herbeiführte. Denn war der Körper der Sportler durch die supplementierenden Verfahren zum Gegenstand eines kybernetischen Selbstexperiments geworden, das eine Optimierung der Wirkungen über Rückkoppelung praktisch austestete, so wurde er nun durch die neuesten Bemühungen der Dopingfahnder zunehmend zum physiologisch definierten gläsernen Menschen. Da der Nachweis von Dopingsubstanzen durch Einzeltests in Wettkämpfen, aber auch durch stichprobenartige Trainingstests kaum mehr zu erbringen ist, werden seit einigen Jahren von Sportlern Blutprofile erstellt, die eine kontinuierliche Überwachung zumindest einzelner Körperfunktionen erlauben und Manipulationen durch Abweichungen von Normalverläufen feststellen sollen. Das Verfahren zielt darauf, Anormalitäten als Dopingnachweis verwenden zu können; die Statistik der messbaren Blutparameter muss deshalb allgemeingültig und protonormalistisch soweit verbindlich gemacht werden, dass Sperren ausgesprochen werden können, die auch juristischer Nachprüfung standhalten. Damit ist der Sportler in der physiologischen Beobachtung zum Normalmenschen geworden, zu einem in den Kurvenlandschaften der Normalwerte und -abweichungen navigierenden Agenten des Unauffälligen.

Dies freilich hat gravierende Konsequenzen für die Wahrnehmung von Leistung im Spitzensport. Waren es früher die spektakulären Leistungssprünge, die unerwarteten Exploits und die nicht für möglich gehaltenen Ergebnisse, welche die Faszination des Sports, seine durch keinen anderen gesellschaftlichen Sektor erbringbaren Attraktionen ausmachten, so sind die selben Vorkommnisse heute Indizien des Verdachts. Usain Bolts Wetlrekordsprints werden ebenso wie Alberto Contadors Rundfahrtenerfolge als Hinweise darauf verstanden, dass hier etwas nicht mit rechten Dingen zugeht. Denn gut ist in der Sportwelt der Bluprofile nur, was innerhalb der Normalwerte bleibt – dies gilt für die Blutparameter ebenso wie für die verabreichten Dopingrationen und die gemessenen Leistungen. 




 
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