Mit der Leistung im Popgeschäft ist es ein Kreuz, denn die Antwort auf die Frage, worin eine gute Leistung besteht, hängt von vielem ab, nur wahrscheinlich nicht von der Musik selbst. Leistet etwa Paul Kalkbrenner mehr beim vierstündigen Plattenauflegen als Pink beim Bauch-Beine-Po-Programm während ihrer gut eineinhalbstündigen Show? Hat Sting gegenüber Peter Maffay einen Leistungsrückstand von 6.000–8.000 Minuten, weil er nur circa 25 statt 31 Studioalben in seiner Karriere aufgenommen hat? Musikalische Leistungen mit Hilfe stabiler Variablen zu vergleichen, ist nicht nur schwierig, sondern ziemlicher Humbug. Aber die Bewertung von Leistung nur in die subjektivistische Schublade zu stecken ist irgendwie auch langweilig, deshalb hier also ein Vorschlag, wie herausragende Musik doch als solche gekennzeichnet werden kann; über den physikalischen Begriff der Leistung, kurz: Energie pro Zeit.
Ein hübsches Beispiel etwa ist die Anzahl der Konzerte des wunderbaren Multi-Instrumentaristen-Duos AU aus Portland im vergangenen Jahr 2009: Knapp 160 Konzerte spielten Luke Wyland und Dana Valatka in 12 Monaten, was eine zumindest bestaunenswerte Leistung ist. Ganz und gar besonders ist sie insofern nicht, als jungen Bands, die nicht allein durch ihre Internet-Präsenz irre bekannt werden, nichts anderes übrig bleibt als quasi ewiges Touren. Aber über ein Jahr im Durchschnitt fast alle zwei Tage für eine bis eineinhalb Stunden auf die Bühne zu gehen und dazwischen ein bis zwei Tage unterwegs in die nächste Stadt zu sein, erfordert mindestens Respekt. Umso mehr, als AUs wunderliche Experimental-Stücke so luftig über die Bühne wabern, dass es beiden Protagonisten vollen Körpereinsatz zwischen Gitarre, Schlagzeug, Keyboard und Melophon abverlangt, um die Songs unter Kontrolle zu halten.
Noch anschaulicher wird Energie/Zeit beim Le Chevalier de Rinchy, einem Solo-Projekt des Club des Chats-Schlagzeugers Guillaume Berinchy. Er hat vor einigen Jahren »Mes plus belles chansons d’amour« aufgenommen und dabei satte 77 Songs auf eine 7“-Platte gebracht. Es sind herrlich anarchische und minimalistische Lieder, die natürlich vor allem durch eines bestechen: Ihre Kürze. Kürze allein wäre langweilig, der Chevalier aber schafft es, innerhalb von 10 Sekunden – länger ist das Stück nicht – das Startproblem jeder Liebesbeziehung auf den Punkt zu bringen: »Pourquoi m’a t-elle laissé son numéro de téléphone?« heißt etwa eines der Chansons. Aber auch für andere Stationen des Lebens hat der Chevalier die passenden Worte in höchstens 20 Sekunden Länge parat, wie zum Beispiel in »Ah tiens nous habitons le même quartier!«, oder in »Elle avait raté le dernier métro«. Wenn es keine besondere Leistung ist, sich in solcher Kürze so deutlich auszudrücken, was dann?
Auch Girl Talk alias Gregg Gillis aus Pittsburgh glänzt mit Kürze, jedoch im Gegensatz zum Chevalier in einer für das vergangene Jahrzehnt typischen Art und Weise, und zwar dem Zusammenmixen von knapp drei Dutzend Hits aller Genres in Songs von jeweils 3–5 Minuten Länge. Dank digitalisierter Musiktracks ist so etwas zumindest technisch kein Problem mehr, aber Girl Talk ist mehr als nur das Bedienen von anständiger Musiksoftware. Denn die Art und Weise, wie hier erfrischend respektlos und Ehrfurcht einflößend mit Musikgeschichte umgegangen wird, ist schlicht irre. Respektlos, weil alle Hits gnadenlos zerschnitten und tempomäßig angepasst werden; Ehrfurcht einflößend, weil die Schnipsel so perfekt zusammen passen, dass selbst Twisted Sister und Huey Lewis and the News ohne Schaudern aneinander gereiht werden können.
Energie pro Zeit ist natürlich nur dann eine nutzbare Definition von musikalischer Leistung, wenn sie auch ein bisschen irre erscheint. Und was könnte bekloppter und gleichzeitig kreativer sein, als die eigene musikalische Energie so herrlich zu verschwenden wie in den drei Fallbeispielen? Denn nur dann wird Leistung mit dem belohnt, was sie verdient: mit fassungsloser Begeisterung.
AU – Verbs (2008, Aagoo)
Le Chevalier de Rinchy – Mes Plus Belles Chansons D’Amour – (2006, Le Vilain Chien)
Girl Talk – Feed The Animals (2008, Illegal Art)