Im September 1980 gab es in San Francisco 45 Kinos, gut 30 Jahre später sind es weniger als die Hälfte, wobei man fairer Weise sagen muss, dass an die Stelle von Häusern mit ein oder zwei Leinwänden im Zuge des Wandels mitunter Multiplexe getreten sind, die über sieben oder neun Leinwände verfügen. Dem Besucher aus der alten Welt kann die Monokulturisierung egal sein; er findet aufgrund der im Zeitalter von Globalisierung, Pirate Bay und DVD anachronistisch wirkenden Startterminkette, die ihren Auftakt immer in Amerika hat, ein paradiesisches, noch nicht einmal durch Trailer berührtes Filmprogramm vor. Für den Kinozuschauer ist die Fahrt nach Amerika eine Reise in die Zukunft: Dort sind, gerade im Dezember, also kurz vor Ende der Oscar-Saison, Filme zu sehen, die in Deutschland innerhalb des nächsten halben Jahres starten werden.
Wenn überhaupt: Ob der eigenwillige Dokumentarfilm Defamation, indem sich der israelische Filmemacher Yoav Shamir auf die Suche nach einem Antisemitismus macht, auf dessen Lokalisierung sich in den USA ganze Behörden wie die Anti Defamation League spezialisiert haben, je seinen Weg in deutsche Kinos finden wird, bleibt ob der spezifischen Brisanz des Themas hierzulande ungewiss.
Mit Verzögerung in Deutschland gestartet ist dagegen A serious Man, der jüngste Film von Joel und Ethan Coen, der in ironischer Ungerührtheit, ausstatterischer Perfektion und aberwitzigem Sinn für Abschweifungen (der Prolog!) vom verzweifelten Fall eines Mannes, Familienvaters und Hochschullehrers im jüdischen Milieu eines Suburbs im Minnesota der sechziger Jahre erzählt. Sowie Up in the Air, Jason Reitmans verführerischem Hybrid aus romantischer Komödie, Melodram und dokumentarisierendem Zeitkommentar, in dem George Clooney einen mobilen Personal-Entlasser spielt, dessen Lebenspraxis auf das reibungslose Bewegen durch Club-Karten-Welten von Airlines, Hotels und Mietwagen-Anbietern ausgerichtet ist.
In Paris gibt es, wenn wir uns nicht verzählt haben, 89 Kinos (ohne Vororte). Darunter Multiplexe mit 20 Sälen, Filmkunsthäuser und beschauliche Rive-Gauche-Kinos, die vom Staat gefördert schon mittags rare Fritz-Lang- oder Sam-Peckinpah-Filme zeigen. Allein des Publikums wegen lohnt der Besuch: ältere Menschen, die man in Deutschland in der Zahl nicht einmal mehr in eigens angesetzten Vorführungen von Zielgruppenfilmen sieht. Die Programmierung täuscht fast darüber hinweg, dass es bewegte Bilder mittlerweile auf jedem besseren Handy zu sehen gibt. Das Kino verströmt in Paris eine Normalität, die es eigentlich nicht mehr gibt: Fritz Langs Film noir Scarlett Street von 1945, in dem Edward G. Robinson irritierender Weise einen guten, ja treudoofen Amateurmaler spielt, der einer Frau verfällt, die sich gemeinsam mit ihrem äußerst unsympathischen Stand-by-Lover am Erfolg seiner Kunstwerke bereichert, ist hier nichts anderes als ein Film unter vielen, der im Prinzip unter den Bedingungen zu sehen ist, die auch zu seiner Erscheinungszeit herrschten – die Leute gehen ins Kino, ohne dass eine Filmkunsthaus mit einer umfassenden Fritz-Lang-Werkschau oder einem ausgewählten Edward-G.-Robinson-Portrait sie dazu bewegen müsste.
Erfurt verfügte in den achtziger Jahren über vier Kinos und einen Filmklub. Nach 1989 wurden daraus zeitweise zwei Multiplexe und ein Programmkino, seit einigen Jahren ist nur mehr das Programmkino und ein Multiplex übrig – absurder Weise dasjenige, das sich einen gesichtslosen Neubau mit Bowlingbahn, Parkhaus und Discounter teilt. Zu sehen ist dort, was überall läuft, also etwa Til Schweigers neuester Film Zweiohrküken. Der Film macht selbst das, was er nur machen will, nicht gut, die Handlung zieht sich, die Witze sind platt. Interessant ist Zweiohrküken trotzdem – unter anderem, weil Berlin dort aussieht, als läge es in Amerika.
Defamation. Israel/Dänemark/USA/Österreich 2009. 91 Min. Regie: Yoav Shamir
A Serious Man. USA/GB/Frankreich 2009. 105 Min. Regie: Ethan und Joel Coen
Up in the Air. USA 2009. 109 Min. Regie: Jason Reitman
Scarlett Street. USA 1945. 103 Min. Regie: Fritz Lang
Zweiohrküken. D 2009. 124 Min. Regie: Til Schweiger