Liebe Leserin, Lieber Leser,»Leistung muss sich wieder lohnen« – mit diesem Slogan gewinnt man heutzutage Wahlen. Effizienz und Leistungssteigerung sind Diktum unserer Zeit und längst nicht mehr nur in wirtschaftlichen Zusammenhängen gültig. Dabei bleibt allerdings völlig unklar, was mit »Leistung« eigentlich gemeint sein könnte. Geld gibt es im Casino-Kapitalismus nicht für Anstrengung, sondern für Gewinne. Und vielen Menschen, die gerne etwas einbringen würden, ist der Weg in Arbeit und Einkommen versperrt. Leistung steht überdies immer in Relation zu den Ausgangsbedingungen. Herkunft, Talente und Handicaps spielen eine größere Rolle, als der uniforme Leistungsgedanke uns weismachen will. polar nimmt den Leistungsbegriff unter die Lupe: Welche Vorstellungen von Leistung gibt es? Welche Kriterien? Welche Kritik? Wer verdient was? Ein Heft über Anstrengung und Erfolg, Reichtum und Rendite, soziale Blockaden und nicht zuletzt über den Mythos von der Leistungsgesellschaft.
Doppelbödig und unbeständig erweist sich der Leistungsbegriff im Verständnis der Gesellschaft: Kai Dröge und Sighard Neckel geben einen Aufriss. Selbst als Maßstab innerhalb der Ökonomie erweist sich die Leistungsdefinition als Phantom, und im Portrait des Flaschensammlers finden wir die unternehmerische Leistung längst auf der Straße angekommen. Ob jeder bekommt, was er verdient, ob die Waagschale zugunsten von Aufwand oder Resultat ausschlägt, und ob Leistung ein Kriterium für Lohngerechtigkeit sein kann, hinterfragen der Wirtschaftsphilosoph Carsten Köllmann, der Moralphilosoph Walter Pfannkuche und der Gerechtigkeitstheoretiker Stefan Gosepath aus ihrer jeweiligen disziplinären Sicht. Bertram Keller stellt eine Stufe konkreter zehn Thesen für ein leistungsgerechtes Erbrecht auf.
Das Maß zwischen Leistungs- und Verteilungsgerechtigkeit nicht zu verkennen, sondern neu zu justieren fordert Claus-Martin Gaul. Was hingegen die Sprecher des Leistungscredos meinen, versucht polar im Gespräch mit dem FDP-Politiker Martin Linder zu ermitteln. Wer sind in der politischen Arena überhaupt die Adressaten der Leistungsreden? Franziska Stoltze, Lucas Guttenberg und Sebastian Kraus geben einen Einblick in die Leistungserwartungen der europäischen Hochschullandschaft. Ein Blick auf die Vereinigten Staaten zeigt, dass das dortige metonymische Verhältnis von Leistungsprinzip und Selbstverständnis nach wie vor auf einem ungerechten Zugang zur Leistungserbringung beruht. Talent oder Herkunft? Patrick Bahners gestattet Karl Freiherr von und zu Guttenberg einen Auftritt und mit ihm einer Haltung, die mit Knigge und ererbter Noblesse zu überzeugen versucht. Mit Blick auf Strategien der Leistungssteigerung stellen sich zudem Fragen nach dem sozialen Umgang mit cognitive enhancement, nach der Geburt der Leistung aus der Dopingmoral im Sport, aber auch nach der Religion als probates Mittel.
Leistung jenseits von höher, schneller, weiter wird in poptheoretischen Anmerkungen von Jens Balzer gedacht. Die Verlangsamung aufnehmend finden wir im Gespräch mit der Künstlerin Alice Creischer Gedanken zur Nicht-Effizienz der Kunst.
Die künsterlische Positionen beleuchten das Thema der Leistung aus ganz unterschiedlichen Perspektiven. Olaf Nicolai beobachtet in seiner Serie den Fußballer Ballack. Isa Genzkens Rollstühle kontrastieren diesen sportlichen Zugang. Tobias Zielony zeichnet ein farbiges Portrait eines ganz speziellen jugendlichen Milieus. Isac Torres veranschaulicht, was Menschen alles für Geld bereit sind, zu tun. In Form einer künstlerischen Reportage betrachten Judith Raum und Gürsoy Dogtas die Kunstzszene selber.
Denken? Schwitzen? Oder alles absagen?
Für die Redaktion
Peter Siller, Bertram Keller