»Ich werde endlich doch bald ganz tot sein«;
Aber Samuel Beckett wird mich, mich Leser, am Leben halten, zumindest die Zeit lang, in der ich die zweihundert dichten Seiten von Malone stirbt lese, die diesem ersten, derart berauschenden Satz folgen. »Es kann sein, dass ich mich täusche und dass ich Johannis überlebe und sogar den 14. Juli, das Fest der Freiheit. Was sage ich, ich bin imstande, mich bis Christi Verklärung zu halten, wie ich mich kenne, oder bis Mariä Himmelfahrt. Aber ich glaube nicht, ich glaube mich nicht zu täuschen, wenn ich sage, dass diese Feste ohne mich stattfinden werden, dieses Jahr.« Womöglich klafft eben hier die Literatur auf: in diesem Ausbruch, dieser Atempause, diesen überlieferten Geschichten, die den Atem verschlagen, um den Henker zu zerstreuen, wie in den Märchen von Tausendundeiner Nacht, in denen Scheherazade nur solange am Leben bleibt, wie sie den Sultan, ihren Blutgemahl, unterhält. Nur wenige Geschichten bei Beckett, dafür kurze, halluzinative, urkomische Szenen wie in Molloy, Malone, oder, am Ende des Namenlosen, ein endloses Getrappel, das ebenso der Jubel des Lebens noch in seinem letzten Gestammel ist: »man muss weitermachen, ich werde also weitermachen, man muss Worte sagen, solange es welche gibt, man muss sie sagen, bis sie mich finden, bis sie mir sagen, seltsame Mühe, seltsame Sünde […] man muss weitermachen, ich werde weitermachen.« Die Bilanz, der Schlussstrich, ist der Tod, und der findet ohne uns statt. »Der letzte Akt ist blutig«, erinnert uns Pascal, »so schön die Komödie auch in allem übrigen gewesen sein mag: Letztlich wirft man uns Erde aufs Haupt, und zwar für immer.« In der Zwischenzeit findet Franz Biberkopf (den Döblin elegant zu einem harmlosen und abgestumpften Hilfsportier werden lässt, statt ihn vor unseren lesenden Augen umzubringen) die Zeit, in jeder Hinsicht von tausend Katastrophen erschüttert zu werden, zu morden und morden zu lassen, wie ein Irrsinniger zu lieben und alle denkbaren Widersprüche zu durchqueren, mitgerissen von einem dröhnenden »rummer di bummer di kieker di nell, rummer di bummer di kieker di nell, rummer di bummer.« Berlin Alexanderplatz wurde in Frankreich just wiederentdeckt, anlässlich der Neuübersetzung von Olivier Le Lay, anhand derer man sich zweifach auf das Buch stürzen kann: Döblins Meisterwerk auf Deutsch und die Großtat seines Übersetzers, der uns eine ganz neue Sprache, ein abwegiges, von Döblinschen Einsprengseln verformtes Französisch liefert, das mit Berliner Dialekt, Rotwelsch und Yiddisch gekreuzt wurde. Wenn auch mit ganz anderen Mitteln als denjenigen Becketts, beschreibt Döblin im Grunde doch dasselbe: einen unwiderstehlichen und überschäumenden Elan, Trieb, wo inmitten des allgemeinen Sturms alle Bilanzen nur provisorische und prekäre Aufrechnungen sind, wo entwurzelte Identitäten zum Besten und Schlimmsten aneinandergeraten und über wenige Paragraphen hinaus die größte Mühe haben »Ich« zu sagen. Biberkopf wird permanent von dem Platz, der ganzen Stadt, dem Vorüberfahren der Straßenbahnen, den Uhrzeiten und dem Wetter, von Abraham und Isaak, ebenso wie von Agamemnon und Klythämnestra durchkreuzt, wird alle diese Personen zugleich ohne aufzuhören, scheinbar, an der Oberfläche, er selbst zu sein: ein ehemaliger Zement- und Transportarbeiter, der, aus dem Gefängnis entlassen, trotz all seiner Anstrengungen ein anständiger Mensch zu werden, innerhalb einer knappen Woche wieder zum Dieb und Zuhälter wird. Niemals der kleinste Schnörkel, die geringste Erklärung, der Ansatz eines Urteils: Die Eindrücke werden so geschildert wie sie gesehen, gehört, aufgenommen wurden; die Schrift geht im Rhythmus der Straße. Und dann diese erstickende Schwärze, nachdem das Melodram im unvermeidlichen Desaster endete, kurz bevor es ganz endet: »Er geht durch die Stadt. Da sind viele Dinge, die einen gesund machen können, wenn nur das Herz gesund ist.«
Samuel Beckett, Molloy. Malone stirbt. Der Namenlose. Drei Romane, Frankfurt a. M. 2005.
Alfred Döblin, Berlin Alexanderplatz, Frankfurt a. M. 2008.
— Berlin Alexanderplatz: Histoire de Franz Biberkopf, übers. von Olivier Le Lay nach einem Text von Rainer Werner Fassbinder, Paris 2009.