Das Online-Magazin zur Zeitschrift | HALBJAHRESMAGAZIN polar






polar #8: Unterm Strich



EDITORIAL

 
Peter Siller, Bertram Keller
Editorial



PRÄMIE

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PHANTOM

 
Stefan Gosepath
Anstrengung und Markt
Der Widerspruch der Leistungsgerechtigkeit
 
Ist es links? >Leistungsgerechtigkeit<
 
Ralf Obermauer
Minderleister der Legitimation
Die rätselhafte Kraft der Leistungsrede in der politischen Arena
 
Walter Pfannkuche
Jenseits von Neid und Habgier
Wie wir uns überzeugen können, dass wir verdienen, was wir verdienen
 
Michael Miebach
Schwitzen und Denken
Die Notwendigkeit eines positiven Leistungsbegriffs fĂĽr die SPD
 
Christian Neuhäuser
Gestatten: Elite?
Eine Inspektion der Leistungsmisere
 
Patrick Bahners
Haltung muss sich wieder lohnen
Guttenberg im Wahlkampf
 
Interview Martin Lindner
»Das gehört tatsächlich alles dazu«
 
 

Claus-Martin Gaul

Die Linke und die Leistungsträger

Oppositionspolitik in der Umverteilungsfalle


Ob man die Besserverdienenden mag oder nicht – von ihrer wirtschaftlichen Leistung profitiert im Kapitalismus immer auch die Gesellschaft als ganze. Wer umverteilen will, darf diesen Zusammenhang nicht ignorieren. Wie aber findet man ein geeignetes Maß zwischen Leistungs- und Verteilungsgerechtigkeit?

Im September 2009 musste beim Fahrradfahren durch den Berliner Stadtteil Prenzlauer Berg niemandem langweilig werden, da an jeder Straßenecke eine große Auswahl an Plakaten zur Bundestagswahl zu bewundern war. So konnte es einem passieren, dass man gleich neben den zufriedenen Currywurst-Essern bei Konopkes Imbiss die Botschaft »Reichtum für alle!« lesen konnte. Kaum hatte sich allerdings das wohlige Gefühl, das von dieser Forderung beim Weiterradeln auf der Schönhauser Allee erzeugt wurde, so richtig in der Bauchgegend ausgebreitet, wurde beim Abbiegen 100 Meter weiter in den Farben der gleichen Partei gefordert: »Reichtum besteuern!«. Wie gewonnen, so zerronnen. Nicht nur beim Satiremagazin Titanic führte diese Verwirrung zur spontanen Reaktion »dann doch lieber arm« zu bleiben.

Das ambivalente Verhältnis der Linkspartei, deren Kandidat das Direktmandat im durchradelten Wahlkreis im Übrigen gewonnen hat, zum Begriff »Reichtum« steht exemplarisch für das Ringen der politischen Linken um schlüssige Konzepte in der Wirtschafts- und Sozialpolitik. Reichtum scheint demnach einerseits etwas Wünschenswertes zu sein, andererseits offenbart das Plakatedoppel aber auch ein tiefes Misstrauen gegenüber Reichtum und denjenigen, die reich sind. Ein geübter Wahlkämpfer vor dem Tapeziertisch der Linkspartei auf dem Kollwitzplatz hätte diesen scheinbaren Widerspruch leicht wegdiskutieren können: Natürlich wäre es schön, wenn wir alle reich wären. Und dieses Ziel zu erreichen, wäre auch keinesfalls utopisch. Man müsste nur diejenigen, die übermäßig reich sind, dazu bringen, mehr an die Allgemeinheit abzugeben. Aus dieser Perspektive stellen die zwei unfreiwillig komischen Plakate Ziel und Lösung dar: Reichtum für alle durch Umverteilung von übermäßigem Reichtum.

Dieser Gedanke stellte im Wahlkampf 2009 ein Kernelement der sozial- und wirtschaftspolitischen Konzeptionen aller drei jetzigen Oppositionsparteien dar: Reichtumspolitik wurde zuallererst als Umverteilungspolitik beschrieben. Ob Spitzensteuersatz, Vermögensteuer, Mindestlohn oder Hartz-IV-Sätze: Der Überbietungswettbewerb, wer für wen von den »Reichen« im Falle eines Wahlsiegs das meiste umverteilen würde, nahm teilweise bizarre Züge an. Ohne mit der Wimper zu zucken, konnte die Linkspartei allen Vorschlägen der SPD und der GRÜNEN ein entspanntes »wir wollen mehr« entgegen halten und nicht zuletzt aus diesem Grund den gefühlten Wahlsieg unter den linken Parteien für sich verbuchen. Trotzdem wird Deutschland durch die größte Nachkriegskrise des kapitalistischen Wirtschaftssystems von einer Parlamentsmehrheit rechts der Mitte geführt.

Die Linke und die Leistungsgerechtigkeit
Rückblende: Herbst 2008, nur wenige Wochen nach dem Kollaps der Bank Lehman Brothers. In der Kneipe Eka am Helmholtzplatz in Berlin Prenzlauer Berg sitzen zwei Gestalten beim letzten Bier. Beide sind Stammwähler der GRÜNEN. »Die Krise«, doziert der eine und wischt sich den Bierschaum aus dem Mundwinkel, »wenn sie denn kommt, ist die Chance für eine linke Mehrheit. Die sozialen Spannungen werden zunehmen und die Menschen werden sich die Ungerechtigkeiten nicht mehr gefallen lassen.« »Vielleicht«, entgegnet der andere am Tisch und blickt durch seine dicken Brillengläser. »Vielleicht wählen die Leute aber genau dann Parteien, von denen sie denken, dass sie etwas von Wirtschaft verstehen, um die Folgen der Krise einzudämmen.« Überrascht blickt der Erste auf.

Die sozialen Folgen der Wirtschafts- und Finanzkrise in Deutschland blieben bis zur Bundestagswahl im September 2009 begrenzt. Trotzdem war die Furcht vor dem erwarteten Anstieg der Arbeitslosigkeit im Jahr 2010 ein wichtiges Thema der öffentlichen Debatte im Wahlkampf. Für eine linke Mehrheit hat es nicht gereicht. Nicht einmal zur Verhinderung einer schwarz-gelben Koalition. Wie konnte das sein. Hatte der Kapitalismus doch sein hässliches Gesicht so deutlich gezeigt wie lange nicht mehr. Hier soll folgende These vertreten werden: Die Reduzierung von Wirtschaftspolitik auf die Verteilungsfrage vermittelt den Eindruck, deren komplementäre Seite zu vernachlässigen – die Entstehung von Reichtum. Damit wird die Kernkompetenz der politischen Linken, nämlich die Herstellung von Verteilungsgerechtigkeit, beschädigt, weil eine Gerechtigkeitslücke anderer Art entsteht, nämlich die unzureichende Berücksichtigung der so genannten Leistungsgerechtigkeit.

Der Anreiz der Kuchenbäcker
Das beschriebene Plakatedoppel der Linkspartei aus dem Bundestagswahlkampf 2009 ist so glaubwürdig wie der Bericht des Baron von Münchhausen, sich an den eigenen Haaren aus dem Sumpf gezogen zu haben. Reichtum als Bestand von Vermögen und als Strom von Einkommen lässt sich durch Umverteilung nicht vermehren. Wenn ein Kuchen auf dem Tisch steht, kann man ihn möglichst gerecht unter den Gästen der Kaffeetafel verteilen. Wenn anschließend jeder sein Stück gegessen hat, ist der Kuchen verschwunden. Die Frage ist nun, wie ein neuer Kuchen auf den Tisch kommt und wie groß er sein wird. Wirtschaftspolitik muss sich mit beiden Aspekten beschäftigen: mit der Entstehung von Reichtum und mit seiner Verteilung. Die Entstehung von Reichtum ist Gegenstand der Wachstums- und Allokationspolitik. Eine gute Wachstums- und Allokationspolitik führt dazu, dass der Kuchen, den es anschließend zu verteilen gilt, möglichst groß wird. Wachstums- und Allokationspolitik einerseits und Verteilungspolitik andererseits stehen in einem Spannungsverhältnis. Idealerweise müsste man Wirtschaftspolitik so ausgestalten, dass der zu backende Kuchen möglichst groß ausfällt und ihn dann anschließend gerecht verteilen. Da aber diejenigen, die den Kuchen backen, zumeist wissen, wie er anschließend verteilt wird, hat die Ausgestaltung der Umverteilungspolitik Rückwirkungen auf die Optimalität der Wachstums- und Allokationsbedingungen. In der Regel haben die Rückwirkungen ein negatives Vorzeichen: Je mehr umverteilt wird, desto weniger Anreiz haben die Kuchenbäcker, den Kuchen zu vergrößern. Verteilungsgerechtigkeit steht in einem natürlichen Konfliktverhältnis zur so genannten Leistungsgerechtigkeit. Während Verteilungsgerechtigkeit an der Bedürftigkeit der Mitglieder einer Gesellschaft orientiert ist, besteht Leistungsgerechtigkeit in der Möglichkeit, die Früchte der eigenen Arbeit selbst zu verbrauchen. Gute Wirtschaftspolitik in einer Marktwirtschaft zeichnet sich demzufolge dadurch aus, dass sie das Maß an Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums gerade so hoch wählt, dass der gesellschaftliche Nutzenzuwachs durch die Umverteilung noch genau so hoch ausfällt wie der gesellschaftliche Nutzenverlust durch die ausgelöste Verkleinerung des Kuchens in Folge der Verletzung der Leistungsgerechtigkeit. Natürlich werden linke und rechte Parteien sich in ihren Vorstellungen über die gesellschaftlichen Nutzenzuwächse und Nutzenverluste unterscheiden. Trotzdem kommen beide politischen Lager an einer Optimierung dieses »Trade-offs« nicht vorbei.

Doppelte Defensivposition
Wenn sich die politische Linke allein auf die Zielsetzung der Verteilungsgerechtigkeit beschränkt und den Aspekt der Leistungsgerechtigkeit vernachlässigt, gerät sie in eine doppelte Defensivposition. Einerseits wird sie natürlicherweise gegen die Interessen desjenigen Teils der Bevölkerung handeln, der sich aus den Nettoverlierern der angestrebten Umverteilungsmaßnahmen zusammensetzt. Dagegen steht die Unterstützung der Bevölkerungsgruppen, die von den vorgeschlagenen Umverteilungsmaßnahmen profitieren würden. Andererseits tritt darüber hinaus aber noch ein zweiter Effekt ein: Diejenigen, die Angst haben, von den negativen Wachstumswirkungen einer verstärkten Umverteilungspolitik betroffen zu sein, werden Umverteilungsplänen der politischen Linken ihre Unterstützung ebenfalls versagen. Der ehemalige PIN-Angestellte, der durch den Mindestlohn im Postbereich arbeitslos geworden ist, der Angehörige eines Betriebs, der von der Verlagerung ins Ausland im Falle einer verschärften Erbschaftsbesteuerung bedroht ist, die Minijobberin, die beim möglichen Wegfall dieses Instruments ihre Stelle verliert oder der Arbeiter eines Automobilzulieferers, dessen Unternehmen bei zu geringer Eigenkapitalrendite von der Konkurrenz geschluckt wird: Eine Reihe von Wählern, die eigentlich zu den Begünstigten linker Umverteilungspolitik zählen sollten, fühlen ihre Interessen durch sie nicht angemessen vertreten. Deshalb geht es bei der Berücksichtigung von Leistungsgerechtigkeit in progressiven Politikkonzepten um mehr als den Ausgleich zwischen »arm« und »reich«, nämlich um wirtschafts- und sozialpolitische Glaubwürdigkeit insgesamt.

Minimales Gesamtopfer
Im Umgang mit der Forderung nach Leistungsgerechtigkeit kann man zwei Kardinalfehler begehen. Der erste wäre, das Spannungsverhältnis zwischen Verteilungs- und Leistungsgerechtigkeit schlichtweg zu ignorieren oder seine Existenz zu leugnen. Eine solche Politik wird langfristig immer an einem Glaubwürdigkeitsproblem leiden. Der zweite Fehler wäre, die Vorstellungen einer gesellschaftlichen Nutzenfunktion und eines optimalen Ausgleichs zwischen der Verwirklichung von Verteilungs- und Leistungsgerechtigkeit quasi extern aufgrund politischer Theorien oder Ideen zu entwickeln. Der emeritierte Berliner Finanzwissenschaftler Werner Steden legte im Jahr 2006 das Ergebnis seiner langjährigen Forschung auf dem Gebiet der Verteilungstheorie vor. Darin zeigt er, dass Verteilungskompromisse in einer Marktwirtschaft theoretisch aus den Präferenzen der Bürger selbst abgeleitet werden können. Die Mitglieder einer Gesellschaft ziehen nicht nur Nutzen aus ihrem eigenen materiellen Wohlergehen, sondern sind auch vom Reichtum bzw. der Armut anderer Menschen betroffen. Nimmt man die Präferenzen der Bevölkerung ernst, wird dadurch eine Menge optimaler Verteilungssituationen abgesteckt. Ein »Sozialer Planer«, der einen Kompromiss über die Köpfe der Bevölkerung hinweg vorgibt, ist in diesem Konzept kontraproduktiv. Steden schlägt als Leitlinie staatlicher Politik vor, diejenige Verteilungssituation anzustreben, bei der das Gesamtopfer der Gesellschaft, das durch die Abweichung von den individuellen Verteilungsoptima ihrer Mitglieder verursacht wird, minimal ist.

Damit ist ein Rahmen für Umverteilungspolitik abgesteckt, außerhalb dessen schwerlich politische Mehrheiten gewonnen werden können: Erstens muss der Konflikt zwischen Verteilungs- und Leistungsgerechtigkeit offensiv thematisiert werden, und zweitens muss sich jeder Kompromissvorschlag aus den Präferenzen der Wähler ableiten lassen. Progressive Wirtschafts- und Sozialpolitik darf sich vor diesem Hintergrund in der öffentlichen Wahrnehmung nicht auf die Realisierung maximaler Umverteilung reduzieren lassen. You can’t have the cake and eat it. 




 
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