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polar #8: Unterm Strich



EDITORIAL

 
Peter Siller, Bertram Keller
Editorial



PRÄMIE

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PHANTOM

 
Stefan Gosepath
Anstrengung und Markt
Der Widerspruch der Leistungsgerechtigkeit
 
Ist es links? >Leistungsgerechtigkeit<
 
Ralf Obermauer
Minderleister der Legitimation
Die rätselhafte Kraft der Leistungsrede in der politischen Arena
 
Walter Pfannkuche
Jenseits von Neid und Habgier
Wie wir uns überzeugen können, dass wir verdienen, was wir verdienen
 
Michael Miebach
Schwitzen und Denken
Die Notwendigkeit eines positiven Leistungsbegriffs fĂĽr die SPD
 
Christian Neuhäuser
Gestatten: Elite?
Eine Inspektion der Leistungsmisere
 
Patrick Bahners
Haltung muss sich wieder lohnen
Guttenberg im Wahlkampf
 
 

Interview Martin Lindner

»Das gehört tatsächlich alles dazu«


Leistung soll sich wieder lohnen, fordert die FDP. Dagegen kann keiner etwas haben. Nur was ist damit eigentlich gemeint: Ein Gespräch mit dem FDP-Bundestagsabgeordneten Martin Lindner über Leistung, deutsche Kunst in Amerika und den Platz, auf dem Ulrich Wickert sitzt.

polar: Was ist Leistung für Sie?

Martin Lindner: Die Bereitschaft, mehr zu tun, als zwingend notwendig ist. Das kann im Beruf der Fall sein, in der Zivilgesellschaft, beim Sport. 

polar: Mit welchem Ziel?

Lindner: Mit dem Ziel einer Gewinnmaximierung, mit dem Ziel des Sich-Einsetzens für eine gemeinnützige Sache, für Sport, für Kultur. Wichtig ist, dass Leis¬tung auch derjenige erbringt, der es tut, um beruflich voranzukommen, um Gewinn zu maximieren. 

polar: Ist Leistung für Sie ein qualitativer oder quantitativer Begriff?

Lindner: Sowohl als auch. Er bedeutet, etwas Herausragendes zu leisten, etwas, das über das Normalmaß hinausgeht. Das darf nicht qualitativ sein in dem Sinne, dass das nur der Chefarzt kann. Das gilt für die Nachtschwester gleichermaßen. 

polar: Leben wir in einer Leistungsgesellschaft?

Lindner: Wir stehen da an einer Klippe. Deutschland ist eine Leistungsgesellschaft, das ist unstrittig. Wenn Sie etwa in New York in die Museen gehen und merken, wie viel zeitgenössische deutsche Kunst dort präsent ist, dann sehen sie – und zwar über das Wirtschaftliche hinaus –, dass hier schon extrem viel Leistung erbracht wird. Aber wenn wir uns mit Asien vergleichen und betrachten, was da an Motivation, an Leistungsbereitschaft existiert, dann müssen wir erkennen, dass nichts für die Ewigkeit ist. 

polar: Wie kann man Leistung messen – etwa dass die in Asien höher ist?

Lindner: Das kann man zum Beispiel daran sehen, dass in derselben Zeit, in der wir es schaffen, eine vergammelte Abrissbude wie den ehemaligen Palast der Republik in Berlin abzutragen, in Shanghai sieben Wolkenkratzer entstehen. Wir müssen aufpassen, dass wir hier nicht ein Wirtschaftsmuseum werden.

polar: Ist das nicht eine Errungenschaft unseres Systems? Natürlich kann ein absolutistischer Herrscher wie der Turkmenbaschi viel schneller und willkürlicher bauen, als das in einem demokratischen Staat möglich ist.

Lindner
: Richtig. Es gibt in solchen Fragen ein Optimum, ein Minimum und ein Maximum. Und ich habe den Eindruck, dass wir uns in vielen Bereichen zwischen Maximum und Optimum befinden, dass wir die Optimalgrenze überschritten haben und uns jenseits von geordneten Verfahren mit der gebotenen demokratischen Partizipation befinden.

polar: Gibt es noch eine andere, abstraktere Möglichkeit, Leistung zu messen?

Lindner: Man kann da keine Generalmesslatte anlegen. Leistet ein Schüler das Notwendige, um das Klassenziel zu erreichen und irgendwie durchzukommen? Oder ist er bereit, sich einzusetzen, seinen Mitschülern zu helfen, Noten zu schreiben, die über dem Durchschnitt liegen – das ist für mich das Entscheidende.

polar: Das ist ein schönes Beispiel, denn in der Schule gibt’s zur Bemessung von Leistung Zensuren.

Lindner
: Das wäre mir aber zu eingeengt. In Deutschland wird, anders als im angelsächsischen Raum, zu wenig darauf geachtet, was ein Schüler, eine Schülerin über die Noten an gesellschaftlichen Fähigkeiten einbringt. In einer Gesellschaft, in der diese Leistung anerkannt wird, hat ein Schüler eine herausragende Stellung, die Mädchen finden ihn toll beziehungsweise die Jungs finden sie toll. Es gibt kaum etwas, was wertvoller ist, als anerkannt, beliebt zu sein. Bei uns hat man manchmal den Eindruck, so ein Mensch gilt dann noch als Idiot, Streber.

polar: Etwas, das wertvoller ist als beliebt zu sein? Da würde vielen Menschen Geld einfallen.

Lindner: Geld spielt auch eine wichtige Rolle. Das müssen wir beim Thema Verteilungsgerechtigkeit mitberücksichtigen. Eine Ifo-Studie hat belegt, dass das zweitoberste Zehntel der Verdiener vor Steuern etwa 22 Mal so viel hat wie das zweitunterste Zehntel. Nach der ganzen Umverteilung aber nur noch 2,6 Mal. Da muss man aufpassen, nicht so viel umzuverteilen, dass die Leute sich fragen, ob es nützlich ist, sich stärker einzusetzen. Bei den Lohnbeziehern im unteren Bereich fragt sich der eine oder andere Facharbeiter, ob es überhaupt sinnvoll ist, morgens aufzustehen, weil der Abstand zu einem Hartz IV-Empfänger eine Spur zu gering ist.

polar: Rührt dieser Eindruck – der Hartz IV-Empfänger, der sich ausruht – nicht von unserer überholten Vorstellung von Arbeit her? Dass immer so getan wird, als sei Vollbeschäftigung möglich und Arbeitslosigkeit nur etwas Vorübergehendes? Es ist doch illusionär zu glauben, dass es für jeden Menschen in Deutschland eine Arbeit geben könnte. Deshalb gibt es die Idee vom Bürgergeld, die FDP hat ja auch eine, damit ein ganz neuer Sinnzusammenhang entsteht.

Lindner: Das Bürgergeld würde ja nicht von der Leistungspflichtigkeit entbinden. Das Bürgergeld ist eine Zusammenfassung aller sozialen Leistungen. Anders ist das Bürgergeld nicht finanzierbar. Ich gehöre zu den Skeptikern in der FDP, weil ich glaube, dass viele Menschen damit überfordert wären.

polar: Würden Sie umgekehrt sagen: Wer viel bekommt, leistet viel?

Lindner: Es gibt eine gewisse Regelvermutung, aber sie können auch im Lotto gewinnen. Deswegen würde ich diese Formel nicht als absolute Größe betrachten. Es gibt auch umgekehrt Berufe, ich nannte vorhin die Krankenschwester, bei denen man von der Höhe des Salärs überhaupt nicht auf die Leistung schließen kann.

polar: Wieso kriegt die Krankenschwester dann nicht mehr?

Lindner
: Ich bin ja bei Hertha BSC im Wirtschaftsrat: Wenn Sie Fußballgehälter anschauen, liegt da eine messbare Leistung zugrunde?

polar: Das kann man sich, wenngleich es ein abgedroschenes Beispiel ist, bei Bankern auch fragen.

Lindner: Bei den Boni gibt es aus meiner Sicht das Problem, dass für die negativen Folgen nicht gleichermaßen gehaftet wird wie für positive Leistungen. Ich habe das schon mehrfach gefordert, dass im Insolvenzrecht, oder wenn staatliche Hilfe gewährt wird, die letzten drei bis fünf Jahre erfolgsabhängige Vergütungsbestandteile von organschaftlichen Vertretern zurückgezahlt werden müssen.

polar
: Ist Geld vielleicht das falsche Mittel zur Honorierung?

Lindner: Geld ist ein richtiges Mittel. Wenn ich die Verkäuferin nicht am Erfolg in ihrer Filiale beteilige, warum sollte sie sich um die Kunden kümmern, wenn sie immer dieselben Vergütung am Ende des Monats auf dem Konto hat…

polar: Sie hatten Beliebtheit genannt

Lindner: …oder ich als Anwalt. Wieso sollte ich meinen Hintern hoch kriegen, wenn ich immer dasselbe kriege?

polar: Ist viel Geld zur Honorierung von Leistung nicht deshalb gefährlich, weil den Leuten, die es bekommen, der Eindruck vermittelt wird, sie würden ungemein einzigartig sein und viel leisten? Ein Tagesthemenmoderator, der privat Veranstaltungen moderiert und dafür gut bezahlt wird, verdankt sein Ansehen doch zum Großteil seinem Arbeitsplatz im von der Allgemeinheit finanzierten Fernsehen.

Lindner: Das ist eine Sache, die Sender und Moderator untereinander ausmachen müssen. Im öffentlichen Sektor ist das nichts Unbekanntes: Ein Minister, der in einem Aufsichtsrat sitzt, kommt da nicht hin, weil er so ein Fachmann ist, sondern weil er eine bestimmte Position hat. Der muss seine Vergütung als Aufsichtsrat komplett an den Staat abführen.

polar: Wären Sie bei Moderatoren aus dem öffentlich-rechtlichen Fernsehen auch für so eine Regelung?

Lindner: Ja, klar. Muss man natürlich sehen, ob der überhaupt nichts kriegen soll. Wenn ich an einen guten Moderator denke, sagen wir mal, Ulrich Wickert, dann ist der nicht nur gut, weil er in die Sendung gesetzt wurde. Er ist gut, weil er das beherrscht, was er macht, dem Ganzen ein Gesicht gibt.

polar: Jedem von uns nicht. Aber, sagen wir mal, es gibt 500 Fernsehjournalisten, die so angefangen haben, wie Ulrich Wickert, der am Ende da sitzt. Könnte nicht auch einer von den anderen 499 da sitzen?

Lindner
: Theoretisch ja, aber tatsächlich nicht. Der eine kann’s, und der andere kann’s nicht. So ist das Leben.

polar: Jetzt ziehen Sie sich aufs Talent zurück. Dabei lautet das Versprechen der Leistung, dass sich jeder alles erarbeiten kann. Ist es nicht vielleicht auch so, dass es am Ende nicht nur um die reine Leistung als Nachrichtenmoderator geht?

Lindner: Klar.

polar: Das wäre dann aber doch die Bankrotterklärung der Leistungsgesellschaft: Dass Leistung nur eine Metapher ist dafür, am Ende auf höchsten, gut bezahlten Posten zu sitzen.

Lindner: Nein, am Ende zählt das Ergebnis. Das ist relevant. Ich kann der beste Schauspieler der Welt sein, aber wenn meine Rolle gerade nicht nachgefragt wird oder besetzt ist von jemand anderem, dann habe ich eben Pech gehabt.

polar: Aber was machen wir mit dem Angestellten, der vielleicht nicht besser ist, und trotzdem auf dem höheren Posten sitzt, weil er sich aufs Karrieremanagement versteht, mit den richtigen Leuten Essen geht, vor dem Chef buckelt?

Lindner
: Ein persönliches Beispiel: Ich habe meine ganze Energie drauf verwendet, die FDP in Berlin wieder zu positionieren. Die Partei hat sich stabilisiert. Als ich 2008 für den Landesvorsitz kandidierte, musste ich entdecken, dass gegen mich andere kandidierten, die mehr Aktivität auf die Parteiarbeit gelegt, mehr Delegierte um sich gesammelt haben, die, objektiv betrachtet, da man sie nicht kennt, die FDP nicht wahnsinnig voran gebracht hatten. Ich konnte nur die Konsequenz draus ziehen, dass ich vielleicht ein wenig mehr Gewicht auf die Vermittlung meiner Arbeit an die Parteibasis zu richten habe.

polar: Wenn alles zählt – wird der Leistungsbegriff dann nicht schwammig?

Lindner: Nein. Man muss geeignet sein für das, was man tut. Das Richtige den richtigen Leuten zu vermitteln: Das gehört tatsächlich alles dazu.

Interview: Matthias Dell




 
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