Als Mädchen hab ich mit einem roten Schultheiss Teufel trainiert. Der war schon in der Grundschule in meiner Klasse. Während der Saison brachte er montags die Schleifen, Kränze und Pokale mit, die er am Wochenende gewonnenen hatte. Der Lehrer zeigte sie dann allen vor und Andi, der schon als Kind sehr sprintstark war, lächelte. Später wurde er Profi, fuhr jahrelang erfolgreich Straßen- und Bahnrennen und fing sich in der Berichterstattung der Berliner Sixdays irgendwann den Spitznamen »roter Schultheiss Teufel« ein. Was ihm vermutlich egal ist. Vor ein paar Jahren stand auf seiner Homepage in der Rubrik »Warum Radsport«: »Weil es die härteste Sportart ist.« Und bei »Motto«: »Was immer du tust, mach’ es zu 100 Prozent.« Mit so einer Einstellung kommt man weit als Rennfahrer, wenn dazu noch die physische Konstitution stimmt. Die allerdings fällt selten vom Himmel, genauso wenig wie beißen zu können. Auch die talentierteste Leistungssportlerin muss trainieren: Und zwar nicht nur den Körper, sondern auch den Geist.
Wenn man mal was von »Disziplinarmacht« gehört hat, weiß man, dass beides zusammenhängt. Wobei sich die Kinder und Jugendlichen im Sport meist selbst disziplinieren – es sei denn, sie haben ehrgeizige Eltern. So wie Thomas, ein anderer der vielen Jungs in meinem Radsportverein. Von dem hieß es, sein Vater schlage ihn mit der Luftpumpe, wenn er schlecht gefahren sei. Thomas hörte allerdings mit 16 oder 17 auf und genoss ab da ein normales Schülerleben – am Wochenende ging er auf Feten und besoff sich. Das war, als Andi, der schon immer mit vollem Einsatz fuhr, zum Kaderfahrer geworden war und über eine Profilizenz nachdachte.
In diesen Jahren hatten wir im Sommer dreimal die Woche Training, im Winter vier bis fünf. Jeder gefahrene Kilometer kam ins Trainingsbuch. Eine ehemalige Siebenkämpferin hat mir erzählt, in ihren eigenen Trainingsheften habe sie neben den absolvierten Trainingseinheiten auch ihr Gewicht und ihren Pulsschlag notiert – und daraus dann Tabellen und Diagramme gemacht. Damals war sie zwölf und ihr Trainer nahm die talentierteren seiner Zöglinge regelmäßig beiseite und befragte sie nach ihren Lebenszielen. Freundschaft und Erfolg, habe er gesagt, sei nicht drin – da müsse man sich entscheiden.
So schlimm war es bei uns dann auch wieder nicht. Vielleicht, weil wir den Job selbst erledigten. Ich zumindest hab als Mädchen neben dem Trainingsbuch auch ein Tagebuch geführt. Darin stehen seitenlange Beschwörungen zur Selbstdisziplin. Mehr trainieren, schneller fahren, weniger essen, Schüchternheit überwinden. Dass sich die Selbstführung, die man als Leistungssportlerin einübt, auf alle Bereiche des Lebens erstreckt, hatte ich offenbar schon als Jugendliche begriffen. Und da zählte der Einsatz fast mehr als das Ergebnis – 100 Prozent kämpfen war wichtiger als siegen. (Wir haben übrigens nicht gedopt – wenn man von ein paar inhalierten Tropfen Minzöl kurz vor dem Rennen absieht. Unser Trainer empfahl ein Steak vor dem Start… man fuhr damals aber auch noch in Trikots aus Wolle, flickte plattgefahrene Schlauchreifen und hatte echte Sitzleder in der Radhose.) Die frühere Siebenkämpferin spricht in dem Zusammenhang gern von der olympischen Idee – wobei es allerdings immer darauf ankam, dass man nicht nur dabei war, sondern beim Dabeisein auch alles gab.
Bei meinem allerersten Straßenrennen, Körper und Geist waren noch relativ untrainiert, hab ich dieses Gebot verletzt. Beim Start kam ich nicht in die Pedalhaken, das Feld fuhr davon, und ich dachte: Naja gut, das war’s. Bin dann mit hohem Lenker – im Rennen fasst man den unten! – in mir angenehmem Tempo weitergefahren… und verstand nicht, warum mich ein paar meinem Verein verbundene Funktionäre mehr anschrien als anfeuerten, so ginge das nicht. Ehrlich gesagt war das Widerstand wider Willen. Aber er zeigte, dass bummeln subversiv sein kann. Und das gilt wohl im Leistungssport genauso wie in den anderen Sphären des Kapitalismus.