Seit einiger Zeit wird beklagt, dass sich Arbeit für viele Lohnabhängige immer weniger lohne, da die Lohnschere fortschreitend auseinander geht. Während auf der einen Seite die Zahl der sogenannten Working Poor auch in europäischen Ländern unübersehbar zugenommen hat, brechen auf der anderen Seite die Einkommen von Topmanagern alle Rekorde. Vielen scheinen damit die Grundsätze der Lohngerechtigkeit nicht mehr gewahrt. Vor allem die inzwischen fast berüchtigten Boni als leistungsabhängige Bestandeile von Managergehältern haben die öffentliche Diskussion in den letzten Jahren angeheizt, weil man zunehmend bezweifelt, dass sie durch objektive Leistungen noch gerechtfertigt sind.
Nun waren Managergehälter ursprünglich aus rein ökonomischen Gründen an den Erfolg der jeweiligen Unternehmen gekoppelt worden. Es handelte sich um eine Maßnahme zur Steigerung der Motivation und hatte deshalb mit Vorstellungen von Lohngerechtigkeit scheinbar nichts zu tun – scheinbar, weil inzwischen auch die Volkswirtschaftslehre die Bedeutung von Gerechtigkeitsvorstellungen für die Motivation erkannt und untersucht hat. Seitdem sind diese beiden Aspekte nicht mehr so leicht zu trennen: Ein Lohn motiviert eben nicht zuletzt dadurch, dass er als gerecht empfunden wird, denn Mitarbeiter sind keine Automaten, die durch beliebige Anreize zielgenau gesteuert werden können, um das zu tun, was von ihnen erwartet wird. Sie müssen vielmehr die Gründe dafür einsehen können, warum sie einen bestimmten Lohn erhalten, andernfalls kann er sie nicht hinreichend motivieren.
Untersuchungen der empirischen Gerechtigkeitsforschung zeigen regelmäßig, dass vor allem Leistung als guter Grund für die Höhe des Lohns akzeptiert wird. Das liegt wohl an der verbreiteten Überzeugung, dass jeder selbst entscheidet, wie viel Leistung er bringen will, so dass ihm diese als persönliches Verdienst zugerechnet werden darf. Das scheint insbesondere bei Topmanagern spätestens dann nicht mehr gegeben zu sein, wenn sie Spitzeneinkommen beziehen, obwohl sich ihr Unternehmen auf Talfahrt befindet, der Aktienkurs abstürzt und Massenentlassungen bevorstehen. Werden sie dann noch mit Abfindungen in zweistelliger Millionenhöhe entlassen, liegt das Urteil nahe, dass sie das nicht verdient haben
Leistung als Gerechtigkeitskriterium Nun kann man sich allerdings fragen, warum man das Leistungsprinzip und das dahinterstehende moralische Verdienstprinzip tatsächlich als Gerechtigkeitskriterien akzeptieren sollte. Ausgehend von John Rawls’ Theorie der Gerechtigkeit hat die neuere politische Theorie das Verdienstprinzip in der Tat zunächst verworfen, mit dem Argument, dass höhere Leistungen nur durch höhere Leistungsfähigkeit und Leistungsbereitschaft zustande kommen, diese aber nicht als individuelle Verdienste zugerechnet werden können, da sie entweder genetisch bedingt oder anerzogen seien. Das klingt nicht völlig unplausibel, leuchtet aber zumindest in der radikalen Version dennoch kaum jemandem ein. Die damit implizierte Auffassung, wonach wir für gar keine unserer Leistungen verantwortlich sein sollten, verleugnet allzu deutlich unsere individuelle Handlungsfähigkeit und die damit eben doch verbundene Verantwortung. Selbst wenn die Verwerfung des Verdienstprinzips aus philosophischen Gründen gerechtfertigt wäre, für unsere normative Praxis kommen wir ohne ein Prinzip individueller Verantwortungszuschreibung nicht aus, und dazu gehört nun einmal das Verdienstprinzip, das sich in ökonomischen Kontexten als Leistungsprinzip darstellt.
Auch Rawls mochte deshalb nicht ganz darauf verzichten. Nach seiner Ansicht sollte eine Gesellschaft ihre leistungsfähigeren Mitglieder durchaus mit höheren Einkommen motivieren, solange dies zu größerer Produktivität führt, die dann wiederum den Menschen am unteren Ende der Einkommensskala zugute käme. Zwar hätten die Leistungsfähigeren ihr höheres Einkommen streng genommen nicht verdient, aber gerade die weniger Leistungsfähigen seien gut beraten, ihnen diese dennoch zu gönnen, da die damit angetriebenen Spitzenleistungen auch ihnen zugute kämen, und das sei dann eben doch gerecht. Diese eigentümliche Konstruktion hat außerhalb philosophischer Diskurse kaum jemanden überzeugt, und auch die Gerechtigkeitstheorie hat das Verdienstprinzip später rehabilitiert und damit den Weg frei gemacht für realistischere Konzeptionen, die sowohl an unsere Alltagsüberzeugungen als auch an die für Verteilungsfragen besonders relevanten Diskurse der Wirtschaftswissenschaft anschließen konnten.
Die Unterbestimmtheit des Leistungsbegriffs Nun ging es Rawls und seinen Nachfolgern um soziale Gerechtigkeit, das heißt um Gerechtigkeit auf der Ebene der ganzen Gesellschaft, während sie sich für Lohngerechtigkeit in einzelnen Unternehmen nicht interessierten. Hier spielt aber für viele eigentlich die Musik. Schließlich wird in Unternehmen über die Lohnhöhe entschieden; und hier war das Leistungsprinzip nicht nur niemals verschwunden, sondern hat vor einigen Jahren geradezu eine Renaissance erlebt. Den meisten Wirtschaftswissenschaftlern scheint es geradezu selbstverständlich, dass Lohngerechtigkeit als Leistungsgerechtigkeit verstanden werden muss – sofern sie nicht wie Hayek die Vorstellung von Gerechtigkeit in ökonomischen Kontexten gleich ganz als Relikt überholter Moralvorstellungen verwerfen. Die gerechtigkeitsskeptische Einstellung kann sich allerdings vor allem die Betriebswirtschaftslehre kaum leisten. Sie steht schließlich vor der Aufgabe, die unternehmensinterne Lohnpolitik auszuarbeiten und kommt deshalb an der faktisch wirksamen Idee der Gerechtigkeit nicht vorbei. In der Betriebswirtschaftslehre war deshalb, anders als in der Volkswirtschaftslehre, die Frage der Lohngerechtigkeit schon immer ein Thema. Sie musste konkrete Vorschläge erarbeiten, wie Leistung definiert, gemessen und in Lohndifferentiale zu übersetzen sei. Das beginnt mit der Analyse konkreter Arbeitsprozesse und alternativer Methoden ihrer Bewertung und endet bei der Ausarbeitung verschiedener Lohnmodelle, die den einzelnen Tätigkeiten und ihren Anforderungen, aber auch den von ihnen vorausgesetzten Qualifikationen und den Ergebnissen ihrer Ausführung möglichst angemessen sind.
Auf die Details kann hier nicht eingegangen werden, aber ein allgemeines Ergebnis scheint mir doch erwähnenswert: Betriebswirtschaftliche Analysen haben in aller Klarheit gezeigt, dass Leistung im strengen Sinne gar nicht objektiv messbar ist, weil bereits in die Definition des Leistungsbegriffs subjektive Bewertungen einfließen; dazu kommt, dass selbst bei einem Konsens über das, was als Leistung gelten soll, die einzelnen Leistungsbeiträge nur selten eindeutig abgrenzbar sind. Allerdings kann sich die Betriebswirtschaftslehre mit diesem rein negativen Ergebnis nicht zufrieden geben. Da Leistung ein zentrales Gerechtigkeitskriterium ist, muss man das, was nicht eindeutig zu bestimmen ist, pragmatisch in den Griff bekommen. Man könnte das als Ideologie abtun wollen, wenn gezeigt worden wäre, dass Leistungsunterschiede rein willkürliche Konstruktionen sind. So einfach ist die Sache aber auch wieder nicht: Wenn zwei einen Kuchen backen und ein Dritter tatenlos daneben steht, ist offensichtlich, dass der Dritte nichts beigetragen hat. Es gibt also zumindest in Grenzfällen durchaus objektive Leistungsunterschiede. Die Schwierigkeiten beginnen da, wo die Beiträge der anderen beiden Bäcker bestimmt werden sollen. Hier gibt es in der Tat eine Spanne an Zurechnungsmöglichkeiten, was man wissenschaftsphilosophisch als Unterbestimmtheit des Leistungsbegriffs bezeichnen kann. Unterbestimmtheit ist aber nicht spezifisch für den Leistungsbegriff, sondern sie hat mit dem logischen Verhältnis von Begriffsund Theoriebildung zu konkreten empirischen Anwendungen zu tun.
Leistung und gerechter Lohn Ein zusätzliches Problem für die Lohnpolitik entsteht dadurch, dass selbst aus objektiv gemessenen Leistungsbeiträgen keine eindeutige Lohnpolitik folgen würde. Nehmen wir um des Arguments willen an, es wäre möglich, Leistungsbeiträge eindeutig und beliebig genau zu messen. Dann bedürfte es noch immer der Entscheidung, wie diese Unterschiede in Lohndifferentiale zu übersetzen sind. Das ist erneut eine normative Frage. Denn wo steht es geschrieben, dass jemand, der zum Beispiel doppelt soviel leistet wie ein anderer, genau doppelt so hoch dafür entlohnt werden muss? Diese Lösung mag nahe liegen, impliziert aber dennoch ein Werturteil, das bestimmte Lohnansprüche wie Eigentumsansprüche behandelt und akzeptiert. Eigentumsansprüche sind aber etwas anderes als Leistungsansprüche.
Ein verwandtes Argument hat der deutsche Nationalökonom Erich Preiser bereits vor mehr als einem halben Jahrhundert vorgetragen, als er die neoklassische Grenzproduktivitätstheorie der Verteilung einer Prüfung unterzog. Laut Preiser wäre, selbst wenn man die produktiven Beiträge von Kapital und Arbeit dem Gesamtprodukt analytisch eindeutig zurechnen könnte, damit noch nicht gezeigt, dass die – im Falle des Kapitals historisch zufälligen – Eigentümer dieser Produktionsfaktoren einen Anspruch auf das Äquivalent dieser Leistungsbeiträge hätten. Selbst in einer sozialistischen Planwirtschaft wäre Kapital noch als produktiv auszuweisen, um eine rationale Investitionspolitik zu gewährleisten, nur gäbe es dort niemanden, der den äquivalenten Kapitalgewinn als Einkommen erhielte.
Dasselbe Argument gilt innerhalb der Lohndifferentiale. Man kann sich durchaus eine Lohnpolitik vorstellen, die weniger produktive Mitarbeiter auf Kosten der produktiveren Mitarbeiter mit mehr als ihrem Grenzprodukt entlohnt. Es scheint empirischen Untersuchungen zufolge nicht unplausibel, dass die produktiveren Mitarbeiter aus Solidarität mit einer solchen Umverteilung ihres »Eigentums« am Gesamtprodukt einverstanden wären, sofern sie diese überhaupt bemerken würden, denn dazu müssten sie ja ihr individuelles Grenzprodukt kennen, was nach den obigen Überlegungen mehr als fraglich ist.
Wenn also der Leistungsbegriff nur begrenzt objektivierbar ist und damit auch der mit ihm verbundene Begriff der Lohngerechtigkeit, dann ist die Lösung dennoch nicht, beide Begriffe pauschal zu verwerfen. Sie besteht vielmehr darin, sich im vollen Bewusstsein ihrer begrenzten Leistungsfähigkeit auf konstruktive Lösungen zu verständigen, die von allen Beteiligten akzeptiert werden können. Nach Rawls fällt bereits die Entscheidung für allgemeine Gerechtigkeitsgrundsätze nicht durch die Erkenntnis einer metaphysisch bestimmten Gerechtigkeit, sondern sie erfolgt konstruktiv durch die rationale Verständigung auf eine bestimmte Gerechtigkeitskonzeption unter Bedingungen der Fairness und Unparteilichkeit. Warum sollte das, was für den Begriff der sozialen Gerechtigkeit gilt, nicht auch für den Begriff der Lohngerechtigkeit und den nur scheinbar rein deskriptiven Begriff der Leistung gelten? Da schon der Leistungsbegriff unvermeidlich eine normative Komponente enthält, sollte man ihn auch so behandeln. Das bedeutet, den Betroffenen selbst das letzte Wort darüber zu geben, was sie mit guten Gründen für eine leistungsgerechte Entlohnung halten. Das hieße nicht, dass die Mitarbeiter die Lohnpolitik bestimmen, es hieße aber, dass auf ihre begründeten Urteile nicht verzichtet werden kann, wenn es um die Bestimmung gerechter Löhne geht. Objektiver als auf diese Art wird Lohngerechtigkeit nicht. Managergehälter in zweistelliger Millionenhöhe jedenfalls würden einer kritischen Überprüfung durch diese Instanz wohl schon unternehmensintern kaum standhalten.
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