





polar #8: Unterm Strich
EDITORIAL
PRÄMIE
Kai Dröge/Sighard Neckel Leistungsbilanzen Ein Deutungsmuster verflüchtigt sich – und bleibt umkämpft
| Ulrich Bröckling Der Flaschensammler Portrait eines Urban Entrepreneurs
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Jan Wulf-SchnabelGeschlechterkampf im DiscounterWas heißt lidlgerechte Leistung? | Eine lidlgerechte Leistung ist ist ein Leistungsniveau am unterm Ende der Skala, wofür sich ein Unternehmen trotzdem feiert. Leitragende dieser Haltung sind häufig Frauen. Der Fall Lidl zeigt, dass (Geschlechter-)Gerechtigkeit durch das Leistungsprinzip allein nicht zu erreichen ist.
Lidl hat jede Menge Grundsätze: Unternehmensgrundsätze, Führungsgrundsätze und jeweils eigene Verhaltensgrundsätze im Umgang mit geschäftlichen Partnerinnen und Partnern, mit KundInnen und mit MitarbeiterInnen. »Einer unser Grundsätze lautet: Jede Position wird mit dem/der am besten geeigneten MitarbeiterIn besetzt. Geschlecht, Herkunft, Religion sind dabei unerheblich. Deshalb arbeiten bei Lidl heute 45 Prozent Frauen in Führungspositionen.« Dieser angeblich geschlechtergerechte Leistungsgrundsatz existiert nur in der Werbung. Fern der schönen bunten Lidl-Werbewelt gibt es weder geschlechtergerechte Grundsätze, noch wurde ein bestimmter Führungsanteil von Frauen aufgrund einer bestimmten leistungsbezogenen Gleichstellungsstrategie erzeugt. Der Frauenanteil hat sich schlicht »aus sich selbst heraus realisiert«, wie Lidl auf Nachfrage einräumt. Die 45 Prozent suggerieren ja fast die Hälfte und bei zwei Geschlechtern klingt das toll und irgendwie gerecht. Jedoch ist zu bedenken, dass über 70 Prozent aller Erwerbstätigen im Einzelhandel weiblich sind. Ein geschlechtergerechter Führungsanteil von Frauen müsste also ähnlich hoch wie unter allen Beschäftigten sein. Eine Nachfrage zur »Kundeninformation« mit der Überschrift »Gleichberechtigung! Bei uns machen Frauen Karriere« beantwortete Lidl damit, dass »im Sinne des Datenschutzes und aus Fürsorgepflicht unseren MitarbeiterInnen gegenüber – keine weiteren Details zu Struktur und Zusammensetzung unseres Mitarbeiterstamms« genannt werden.
Eine Position nicht nur unabhängig von Geschlecht, Herkunft und Religion der Person zu besetzen, sondern auch unabhängig vom Alter, der sexuellen Identität und einer Behinderung, schreibt schon Paragraph 1 des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG) vor. Schön, wenn sich auch Lidl daran hält, aber ist das Einhalten von Gesetzen ein Grund zum (sich selbst) feiern? Noch weniger Anlass zum Selbstlob bietet die Bezahlung: »Auch bei der Bezahlung machen wir keine Unterschiede: Frauen und Männer bekommen bei uns für dieselbe Tätigkeit dasselbe Geld. Für Lidl ist das selbstverständlich.« Das, was für Lidl »selbstverständlich« ist, ist allgemein gültiges gesetzliches Minimum. Alles andere wäre direkte Diskriminierung und ist verboten. Das Problem liegt woanders: Bei den Lebensmitteldiscountern ist der hohe Frauenanteil mit einer hohen Teilzeitquote verbunden und damit, dass Frauen häufiger andere, schlecht bezahltere Tätigkeiten erledigen müssen als Männer. Eine von der Berliner Senatsverwaltung geförderte Studie zu den aktuellen Arbeitsbedingungen im Einzelhandel kommt zu folgendem Schluss: »Die Kombination aus niedrigen Stundenlöhnen und kurzer Arbeitszeit bedeutet für die mehrheitlich weiblich Beschäftigten marginalste Einkommen.« Demnach nehmen Frauen durchschnittlich 1.035 Euro Netto mit nach Hause, aber 42 Prozent der Frauen erzielen nicht einmal 900 Euro (Netto) monatlich. Demgegenüber liegt das durchschnittliche Nettoeinkommen bei Männern mit 1.401 Euro deutlich darüber. Dabei haben drei Viertel aller Niedriglohnbeschäftigten eine abgeschlossene Berufsausbildung oder sogar einen Hochschulabschluss. Sie werden nicht entsprechend ihres Leistungsvermögens beschäftigt. Im Ergebnis führt das dazu, dass Männer zwar mehr Entgelt als Frauen erzielen, aber weder Frauen noch Männer bekommen, was sie verdienen. Bei den Discountern ist ein gesetzlicher Mindestlohn unverzichtbar, denn Lidl macht nur das, wozu das Unternehmen gesetzlich verpflichtet ist.
Werbung statt Taten Statt an hervorragender Stelle mal selbst einen wegweisenden Beitrag für Geschlechtergerechtigkeit zu leisten, nutzt Lidl durch Werbung den Mainstream. Denn die Öffentlichkeit bewertet es mittlerweile als Skandal, dass Frauen im Erwerbsleben systematisch benachteiligt werden. Eine neue Auswertung des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Instituts (WSI) zeigt große Einkommensrückstände von Frauen und Männern gleich beim Berufseinstieg. Mit bis zu drei Jahren Berufserfahrungen bekommen Frauen im Mittel 18,7 Prozent weniger als ihre männlichen Kollegen. »Im Verlauf des Arbeitslebens wachsen die Unterschiede auf dem Gehaltszettel weiter: In der Beschäftigtengruppe mit vier bis zehn Jahren Berufserfahrung beläuft sich der Abstand bereits auf 21,8 Prozent«. Frauen werden auf schlechter bezahlte Berufe verwiesen und viele Unternehmen organisieren ihre Arbeitsbereiche weiterhin nach tradierten Rollenmustern. Aber auch innerhalb einer Genusgruppe kann es zu signifikanten Unterschieden kommen. So fand das WSI heraus, dass die Differenzen unter den Berufsneulingen im Westen der Republik größer als im Osten sind und sich im Osten sogar mit den Jahren verringert. Dort arbeiten Frauen häufiger, mit höherer Stundenzahl und mit weniger Unterbrechungen in der Erwerbsbiographie, unter anderem weil die Kinderbetreuungsstruktur dort besser ausgebaut ist. Allerdings ist in Ostdeutschland das Lohnniveau geringer und das Ausbildungs- und Arbeitsplatzangebot schlechter. Besonders in den ländlichen Regionen führt das zu schrägen Geschlechtsverhältnissen. Während überproportional viele junge Frauen im Alter zwischen 18 und 25 Jahren für polar 8 21 Geschlechterka mpf im Discounter eine Ausbildung abwandern, verbleiben viele junge Männer als Bildungsverlierer. Sie haben auf dem Arbeitsmarkt kaum eine Chance während ihre (westlichen) Geschlechtsgenossen weiterhin überproportional in Führungspositionen vertreten sind. Werden zur Dimension Geschlecht also noch weitere Regional- und Milieulagen betrachtet, zeigen sich vielfache Ungleichheiten. Mit Leistungsgerechtigkeit hat all das wenig zu tun, dafür aber viel mit der Sozialstruktur. Leistungen ohne Teilhabechancen und Partizipationslagen zu diskutieren macht wenig Sinn.
Versagen des Leistungsprinzips Freiwillig kommen geschlechtergerechte Leistungen nicht zustande. Zur Erinnerung: Statt einer gesetzlichen Regelung schlossen die Bundesregierung und die Spitzenverbände der deutschen Wirtschaft 2001 die freiwillige Vereinbarung »zur Förderung der Chancengleichheit von Frauen und Männern in der Privatwirtschaft « ab. Acht Jahre später zeigt der Führungskräfte-Monitor des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW): Das Versprechen zur Verbesserung der Chancengleichheit von Frauen und Männern wurde von der Privatwirtschaft nicht eingelöst. Genau genommen betreiben die Unternehmen nicht nur Wortbruch, sondern sie verstoßen gegen ihre eigene betriebswirtschaftliche Rationalität. Familienfreundliche Maßnahmen und Chancengleichheitsinstrumente rentieren sich und helfen den viel beklagten Führungs- und Fachkräftemangel zu beheben. Hier nichts zu unternehmen ist unwirtschaftlich, denn wie das Institut für Arbeitsmarktforschung (IAB) der Bundesagentur für Arbeit ausführt lohnt sich Gleichstellung: Die Beschäftigten sind kontinuierlicher und motivierter mit dem Betrieb verbunden, dadurch sinken Fehlzeiten und Fluktuationen. Wertvolles Wissen im Unternehmen wird gehalten, gesteigert und weiter entwickelt.
Gleichberechtigung lohnt sich Selbst für diese lohnende Seite der Gleichstellungsmedaille sind die (männlichen) Chefetagen leider blind. Laut DIW ist ein »verbindlicher Fahrplan mit festen Zielgrößen, klar zugeordneten Verantwortlichkeiten und Sanktionsmechanismen« erforderlich. Norwegen hat gute Erfahrungen mit gesetzlicher Geschlechtergerechtigkeit gemacht. Dabei war nicht Frauenförderung das Motiv, sondern ökonomisches Kalkül: Der konservative Industrieminister Ansgar Gabrielsen wollte mit verbindlichen Frauenanteilen bei Aufsichtsratsposten die Leistungsfähigkeit seines Landes steigern, um alle menschlichen Ressourcen der norwegischen Gesellschaft nutzbar zu machen – inklusive Frauen. Zunächst waren die Bedenken groß. Angeblich haben immer schon allein die Leistungen und nie das Geschlecht gezählt und bei einer Regelung wurden Wettbewerbsnachteile befürchtet. Tatsächlich sind zwei Jahre nach Einführung der Regelung viele froh. Darunter auch Unternehmen, die von einem Qualitätssprung berichten. Es zeigt sich, dass Leistung eine Befähigung zur Leistung und Chancengleichheit benötigt. Dieser Schritt steht in Deutschland nicht nur für Lidl noch an, dort aber besonders.
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