»Unternehmertum besteht nicht darin, nach einem freien Zehndollarschein zu greifen, den man bereits irgendwo entdeckt hat. Es besteht vielmehr darin, zu entdecken, daß es ihn gibt und daß er greifbar ist.« Israel M. Kirzners Definition unternehmerischen Handelns erhebt die »Findigkeit« (alertness) zur entscheidenden Eigenschaft eines Entrepreneurs. Findig im Wortsinn muss auch der Flaschensammler sein, der vom Pfandgeld lebt.
Kirzner, ein Nationalökonom der österreichischen Schule und Verfasser einflussreicher Studien zur Theorie unternehmerischen Handelns, definiert den Entrepreneur als denjenigen, der Gewinnmöglichkeiten ausnutzt. Wie sein Lehrer Ludwig von Mises betont er die spekulative Seite unternehmerischen Handelns. Der Unternehmergewinn ergibt sich, so seine These, »durch Entdeckung und Ausnutzung von Situationen, in denen er [der Unternehmer, UB] das, was er zu einem niedrigen Preis kaufen, zu einem hohen Preis verkaufen kann. [...] Er entsteht dadurch, daß er Verkäufer und Käufer einer Sache findet, für die die letzteren mehr zu zahlen bereit sind, als erstere verlangen. Die Entdeckung einer Gewinngelegenheit bedeutet, etwas zu entdecken, was ohne jede Gegenleistung erhältlich ist.« Kirzners Unternehmer ist also kein Produzent, sondern ein Spekulant, ein Wort, das im Deutschen meist pejorativ und häufig mit antisemitischem Unterton verwendet wird. Die Handlungsmaxime des Unternehmer-Spekulanten ist einfach: Buy low, sell high.
Zeichnet sich der Unternehmer im Allgemeinen dadurch aus, dass er weiß, das Geld liegt auf der Straße und man muss es nur aufheben, so gilt das im Besonderen für den Urban Entrepreneur. Wenn irgendwo Geld auf der Straße liegt, dann sicher nicht auf der Landstraße im Grünen, sondern in der Stadt, insbesondere in der Großstadt. Emblematisch verkörpert diesen Typus eine Gestalt, die mit dem vertrauten Bild des Unternehmers zunächst wenig gemein zu haben scheint: der Flaschensammler, der durch die Stadt streift und Mülleimer, Glascontainer und Parkanlagen nach Leergut durchsucht, um im Supermarkt dafür Flaschenpfand zu kassieren. Oft ist er mit einem Fahrrad unterwegs, an dem eine Vielzahl von Plastiktüten und Leinentaschen hängt, gelegentlich hat er eine lange, zurechtgebogene Drahtstange bei sich, um besser in den Recyclingcontainern fischen zu können. Die Gewinnmargen dieses Unternehmers liegen niedriger als die des Kirznerschen Entrepreneurs, statt Zehndollarscheinen greift er – um im Bild zu bleiben – nach 5- oder 10-Cent-Münzen und muss sich entsprechend oft bücken, um irgendwie über die Runden zu kommen. Weil er weiß, dass das Geld im Rinnstein, im Gebüsch hinter der Parkbank oder eben im Glascontainer liegt und »greifbar ist«, sofern nicht ein anderer schneller danach greift, wirkt er stets etwas abgehetzt. Dennoch sind seine Bewegungen keineswegs hektisch, sondern eher eigenartig verlangsamt; sein Blick ist meist gesenkt auf den Boden oder den Öffnungsschlitz des Abfallbehälters. Dort »entdeckt« er die Flaschen und Dosen, die ihn nichts kosten als die Mühsal des Herausklaubens. Get free, sell low. Blickkontakte vermeidet er, so als schäme er sich seines Tuns. Aber der Flaschensammler hat seine Umgebung stets im Auge, immer auf der Hut vor möglichen Konkurrenten oder ehrbaren Bürgern, die ihm mit Verachtung oder einer kaum minder verächtlichen Verlegenheit nachschauen. Er spürt genau: Auch diejenigen, die wohlmeinend ihre Pfandflaschen vor dem Container abstellen oder sie ihm gleich in die Hand drücken, statt sie selbst zum Supermarkt zu tragen, erniedrigen ihn. Kein Almosen ohne entrepreneurial education.
Nomaden der Großstadt Der Flaschensammler ist eine nomadische Großstadtgestalt, die sich von anderen emblematischen Großstadtnomaden unterscheidet, etwa dem von Walter Benjaminporträtierten Flaneur im Paris des 19. Jahrhunderts, der seine Distanziertheit zum städtischen Getriebe zur Schau stellte, indem er provokativ eine Schildkrötean der Leine spazieren führte, oder dem umherschweifenden Situationisten der fünfziger und sechziger Jahre, der in ziellosem, meist nächtlichem und oftmals betrunkenem Abdriften die Psychogeografie der Großstadt erkundete. Einen weiteren Ahnen besitzt der Flaschensammler im Sandwichmann, jenem flâneur salarié der Wirtschaftskrise von 1929, der sich als wandelndes Reklameplakat verdingte und vor den großen Kaufhäusern auf- und abging.
Sandwichmann wie Flaschensammler sind prekäre Existenzen, sie stehen am Rande der Gesellschaft, beide treibt die Not zum Umherwandern in der Stadt. War der Sandwichmann eine Prothese des Kapitalismus, so parasitiert der Flaschensammler an dessen Exkrementen. Die entscheidende Differenz zwischen den beiden, und diese Differenz ist zeitdiagnostisch höchst signifikant, liegt in ihrem ökonomischen Status: Der Sandwichmann war Tagelöhner, er stand in einem, wenn auch nur kurzfristigen und schlecht bezahlten Beschäftigungsverhältnis; der Flaschensammler dagegen arbeitet auf eigene Rechnung, er ist eine Ich-AG, ein Unternehmer in eigener Sache. Man könnte die gesamten sozialwissenschaftlichenund politischen Debatten über das Verschwinden des Lohnarbeiters, den Aufstieg des Arbeitskraftunternehmers und die damit einhergehende Entgrenzung von Arbeit, über die working poor und das Prekariat, den neuen Geist des Kapitalismus und die neuen Subjektivierungsformen, die dieser hervorbringt, an einer Gegenüberstellung von Sandwichmann und Flaschensammler durchdeklinieren.
Das gleichermaßen elende wie boomende Gewerbe des Pfandsuchens zeigt die Verheißung der Urban Entrepreneurship zur Kenntlichkeit entstellt: Die allgegenwärtige Anrufung des unternehmerischen Selbst macht auch vor jenen nicht Halt, in deren Ohren die Erfolgsverheißungen wie blanker Hohn klingen müssen, weil ihnen ihre Überflüssigkeit tagtäglich vor Augen geführt wird. Das Set von Werten, Handlungsregelnund Selbstpraktiken, wie es etwa in Trainingskursen für Langzeitarbeitslose oder sozialpädagogischen Maßnahmen für Jugendliche ohne Ausbildungsplatz vermittelt wird, unterscheidet sich in seiner grundsätzlichen Ausrichtung kaum von dem, was so genannten High Potentials auf exklusiven Coaching-Workshops oder Persönlichkeitsseminaren beigebracht wird: hier wie dort die gleiche Beschwörung von Selbstverantwortung, Flexibilität und Eigeninitiative, die gleiche Aktivierungsrhetorik, das gleiche Gebot kontinuierlicher Verbesserung und der gleiche nahezu unbeschränkte Glaube an die Macht des Glaubens an sich selbst.
Unter dem Diktat des Komparativs Unternehmerisch zu handeln, heißt handeln im Wettbewerb. Für den Markterfolg gilt die Maxime: Jeder könnte, aber nicht alle können. Es ist diese Kombination von allgemeiner Möglichkeit und ihrer stets nur selektiven Realisierung, welche jenen, die im täglichen survival of the fittest unterliegen, die alleinige Verantwortung für ihr Scheitern aufbürdet. Dass man in allen Lagen unternehmerisch agieren soll, die unternehmerischen Qualitäten aber immer nur relational zu jenen der Mitbewerber zu bestimmen sind, verleiht dem Handeln den Charakter eines sportlichen Wettkampfs. Diesem Wettkampf kann sich niemand entziehen, aber nicht alle spielen in der gleichen Liga. Mögen die Chancen noch so ungleich verteilt sein, jeder kann seine Position verbessern - sofern und solange er findiger ist als die anderen. Umgekehrt droht jedem der Abstieg, unter Umständen bis ins Bodenlose, wenn die Konkurrenz ihn überholt. Für spielerische Leichtigkeit und noble Fairness bleibt dabei wenig Raum; es herrscht das Diktat des Komparativs. Der giftige Blick des Flaschensammlers, wenn er vorm Glascontainer auf einen Kollegen trifft, lässt ahnen, wie hart umkämpft auch dieser Markt ist.
Das unternehmerische Selbst ist deshalb nicht nur Leitbild, sondern auch Schreckbild. Was alle werden sollen, ist zugleich das, was allen droht. In den Mega-Cities Afrikas, Südamerikas und Asiens, aber auch in den Metropolen des Westens existiert bereits ein Millionenheer virtuoser Alltags-Entrepreneure, die all ihre Kräfte darauf verwenden müssen, unternehmerisch zu handeln, um im strikten Sinne des Wortes zu überleben. Sucht man nach Personen, die dem Bild des urbanen Entrepreneurs nahekommen, dann tut man deshalb gut daran, nicht nur auf die Glücksritter der New Economy oder auf die digitalen Bohemiens in Berlin-Mitte zu starren, sondern sich auch den Windschutzscheiben putzenden Jungen auf der Kreuzung in Mexico City vorzustellen oder die Straßenhändlerin in Kalkutta. Oder, um in der Nähe zu bleiben, eben den Flaschensammler am Container um die Ecke.
Der Beitrag erschien in anderer Fassung in den Schweizer Monatsheften, Ausgabe 967, Februar 2009.
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