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polar #13: Aufstand




EDITORIAL

 

Editorial

Peter Siller, Bertram Keller


Liebe Leserin, Lieber Leser,

in vielen Regionen der Welt nehmen die Jungen das Heft in die Hand, um Diktaturen zu stürzen oder Reformen zu erzwingen. Im »arabischen Frühling« wurden Regime mit Mut, Leidenschaft und Kreativität zu Fall gebracht. Aber auch in anderen Regionen und Ländern – Tel Aviv, Athen, Madrid, Santiago de Chile, ja: sogar Stuttgart – stehen die Menschen auf. Eine neues globales 68?

Auch in den wohlhabenden Gesellschaften des Westens wächst unter dem Druck der Wirtschafts- und Finanzkrise der Widerstand – mit Blick auf die soziale Frage, aber auch mit Blick auf demokratische Beteiligung. Doch inwieweit lassen sich diese verschiedenen Phänomene auf einen gemeinsamen Nenner bringen? Wo lassen sich Verbindungen erkennen, wo Gegensätze, wo Missverständnisse? Spätestens beim zweiten Draufsehen werden die Trennlinien in Kontext und Zielsetzungen deutlich: Die einen kämpfen für parlamentarische Demokratie und Parteiensystem, andere stellen eben jenes in Frage; die einen wollen Veränderung, andere stellen sich dagegen.

polar fragt in der aktuellen Ausgabe auch danach, was aus den Aufständen geworden ist. Erzählt werden Geschichten nach der ersten Euphorie. Was wurde bewirkt? Was ist aus den Akteuren geworden? Vorher-Nachher-Bilder.

Das Heft wirft einen Blick auf die Rolle der Intellektuellen, auf die Stichwortgeber mit Blick auf Krise und Protest. Welche Zeitdiagnosen werden hier zu Grunde gelegt? Welche Ziele und Ideale treiben die jeweilige Gesellschaftskritik an? In der Universitäts- wie in der Kunstszene konnten neue Stichwortgeber teils anonym teil namentlich – Badiou, Žižek, Agamben oder Negri – einen großen Appeal entwickeln, bis hin zum Traum vom »grundlegenden Systemwechsel«, vom »kommenden Aufstand«. Doch wie genießbar sind diese Interventionen? Welches Politik- und vor allem welches Demokratieverständnis liegen dem zu Grunde? Und was besagt der Theorie-Clash über die kleinen und großen Unterschiede in der Kritik?

Der erste Teil des Heftes fragt nach den möglichen Zielen und Formen von Protest – und befragt damit zugleich die aktuelle politische Theorie nach ihrer Relevanz für die Prozesse gesellschaftlicher Veränderung. Sebastian Dörfler erinnert in seinem Opener nochmals an den Aufstieg von Melvilles Bartleby zur problematischen Referenzfigur von Gesellschaftskritik in den 00er Jahren (S. 9). Micha Brumlik befasst sich im Anschluss kritisch mit der Gegenüberstellung »der Politik« und »des Politischen« durch eine Strömung der politischen Philosophie (S. 13). Die Möglichkeiten der öffentlichen Intervention von Wissenschaftlern in politischen Auseinandersetzungen erörtern Thomas Biebricher und Marina Martinez Mateo am Beispiel von Jürgen Habermas (S. 23). Thomas Biebricher und Robin Celikates befragen die US-amerikanische Politische Theoretikerin Jodi Dean im Interview zu ihren Thesen zum Verhältnis von Kapitalismus und Demokratie (S. 28). Julian Bank berichtet aus der Praxis sozialer Bewegungen vom Zusammenhang von Spontaneität und Professionalität (S. 37). Die Ökonominnen Petra Hauffe und Judith Karcher gehen in ihrem Beitrag der Seltsamkeit der lethargischen Haltung nach, die wir gegenüber den ökonomischen Entwicklungen einnehmen (S. 45). Tobias Peter denkt über die Schwierigkeit des Widerstands in einer Konstellation nach, in der Abweichungen sich lohnen, Kritik in Feedback umgewandelt wird und Alternativen nicht nur geduldet, sondern eingefordert werden (S. 51).

Der zweite Teil des Heftes wirft einen Blick auf andere Orte unserer Welt, an denen in jüngerer Zeit massive Proteste bis hin zum Aufstand stattgefunden haben. An der Gesamtheit dieser Schlaglichter lässt sich überprüfen, in wie weit die verschiedenen globalen Protestphänomene einer gemeinsamen Leitmelodie folgen und in wie weit sie auf völlig unterschiedlichen, sogar entgegengesetzten Antrieben beruhen. Auch geht es uns hier darum, die Dynamiken von Aufstand und Protest klarer zu erkennen. Wir stellen die Vorher-Nachher-Bilder schärfer. Was ist aus den Protesten eigentlich geworden? Was aus den Protestierenden? Wie steht es um das Verhältnis von Engagement und Enttäuschung? Wie viel Umbruch folgte aus den Aufständen? Und welche Art von Umbruch?

Der griechische Journalist Tasos Telloglou zeichnet in seinem Beitrag zur Situation in Griechenland ein düsteres Bild von den Chancen auf einen neuen sozialen Ausgleich (S. 73). Stephan Rosiny beschreibt in seinem Überblicksbeitrag zum »Arabischen Frühling« die tiefgreifende Entfremdung zwischen den autoritären Herrschern und den von ihnen Regierten in der Region (S. 77). Der ägyptische Journalist und  Dokumentarfilmer Hany Darwish und der tunesische Journalist Naji al-Baghuri – beide Protagonisten der jeweiligen Aufstände – erzählen aus Kairo (S. 83) und Tunis (S. 89) von den Erfolgen aber auch den Enttäuschungen der Revolution. Hier wird deutlich, wie notwendig der Kampf für Demokratie und Bürgerrechte weiterhin ist. Michael Lidauer berichtet in seinem Beitrag aus Myanmar von einem Reformkurs, der eher »von oben« verordnet wird, als dass er auf öffentlichen Protesten beruht (S. 93). Mit Blick auf die Protestphänomene in den USA kommt Felix Lutz zu dem Ergebnis, dass sich »Tea Party Movement« und »Occupy Wall Street« in ihrer negatorischen Haltung stark gleichen. (S. 96). Obamas Aufbruch sucht derweil händeringend Unterstützer und droht am System zu scheitern. Edie Hartmann zeigt mit Blick auf die brennenden französischen Vorstädte im Jahre 2005 und die Gewaltausbrüche in britischen Städten im vergangenen Jahr, dass es sich bei beiden Fällen um sehr unterschiedliche Mechanismen der Gruppenbildung handelte, die auf deutliche Unterschiede in beiden Gesellschaften verweisen (S. 103). Mit der kommunikativen Funktion von Aufständen setzt sich Maja Bächler auseinander (S. 111), und Kai van Eikles spürt der Lust an der politischen Einmischung nach (S. 117).Markus Dressel erinnert schließlich nochmals an die Großdemonstration am 4. November 1989 in Ost-Berlin, bei der eine halbe Millionen DDR-Bürger für demokratische Reformen auf die Straße gingen (S.122).

Im dritten Teil des Heftes setzt sich Diedrich Diederichsen kritisch mit einem Imperativ auseinander, der auch als politische Haltung eingefordert wird: dem Imperativ des Authentischen (S. 145). Dabei kombiniert sich heute die Echtheitserwartung mit Flexibiltätsdruck: »Erfinde Dich halt- und bodenlos neu und verkörpere das so, als wäre das immer schon Deine Natur gewesen!« – so lautet die paradoxe Anforderung, die uns ständig begegnet. In der Authentizitätsfalle sieht Nicklas Baschek auch die deutsche Übertragung der von n+1 angestoßenen Hipster-Debatte (S. 157). Der Auftstand geprobt wird in Kunst und Theater: Während Anna-Catharina Gebbers sich mit einigen Kunstwerken auseinandersetzt, die Aufstände auslösten (S. 163), wirft Nikolaus Müller-Schöll einen Blick auf das Gegenwartstheater und schildert anhand der unterschiedlichen Variationen zu Brechts Stückentwurf »Fatzer« von René Pollesch, Tore Vagn Lid und der Gruppe »LIGNA«, wie die Tragödie der gescheiterten Revolution als Farce wiederkehrt (S. 169).

Wie in der Kunst der Aufstand geprobt wird, zeigen uns die Kunstbeiträge dieser Nummer. Die erste Farbstrecke sollte Pussy Riot aus Moskau gehören. Aufgrund deren besorgniserregender Situation brach jedoch der Kontakt mit den Künstlerinnen in letzter Sekunde ab. Dafür stehen nun zwei Beiträge von Marina Naprushkina aus Weißrussland, wo die politische Lage nicht weniger repressiv ist. Neben der ersten Farbstrecke »Mein Papa ist Polizist« (S. 64) laufen über den dritten Heftteil Zeichnungen aus ihrem politischen Magazin »Belarusian self-governing« (S. 44). Darüber hinaus dokumentieren die Bilder von Tarek Hefny die leeren Werbetafeln an ägyptischen Überlandstraßen, dem Ursprungsland des arabischen Frühlings. Braucht mindestens bei uns im Westen aber die Kunst selbst einen Aufstand? In der Kunstaktion »Draftsmen’s congress« im Rahmen der 7. Berlin Biennale ging es um die Integration von Anteilslosen in den Kunstbetrieb. Ergebnisse präsentieren wir in der zweiten Farbstrecke (S. 136).

Vorhang auf für polar 13. Ein Heft über den neuen Protest, seine Gründe und seine Ziele, über Aufstände und Zwergenaufstände, Engagement und Enttäuschung, Parteien und Parteinahme, über Negation, Alternativen und die Zukunft unserer Demokratie.

And never forget: Free Pussy Riot!
(denen wir diese Ausgabe widmen)

Für die Redaktion

Peter Siller, Bertram Keller




AUSGEBLIEBEN

 
Sebastian Dörfler
An die Arbeit
Warum sich Bartleby selbst abschaffen müsste
 
Micha Brumlik
Aufstand nach Nirgendwo
Vom Missverständnis des Politischen
 
Thomas Biebricher/Marina Martinez Mateo
Die Paradoxie des Intellektuellen
Wissenschaft und öffentliche Intervention
 
Interview Jodi Dean
»Endlich wieder ›wir‹ sagen«
 
Julian Bank
Goliath stolpert, David schläft
Aufstand, soziale Bewegungen und Zeitlichkeit
 
Petra Hauffe/Judith Karcher
Der ausbleibende Aufstand
Von der selbstverschuldeten Unmündigkeit in der Finanzkrise
 
Tobias Peter
Nutzlos, sich zu erheben?
Über parasitären Widerstand
 
Arnd Pollmann/Thomas Biebricher/Stefan Huster/Peter Siller
Ist es links? >Negation<
 
Ina Kerner
Leben im Kapitalismus: >Terror, Chillen, Herrenschneider<



AUSGELÖST

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GEPROBT

 
Diedrich Diederichsen
Der Imperativ des Authentischen
»Erfinde Dich halt- und bodenlos neu und verkörpere das so, als wäre das immer schon Deine Natur gewesen!«
 
Nicklas Baschek
Lieber peinlich als authentisch
Occupy und der gemeine Hipster
 
Nikolaus Müller-Schöll
Der geprobte Aufstand
Farce, Spaziergang, Hunger-Show
 
Martin Saar
Bildpolitik: >Ein Nein aus fünf Fingern<



SCHÖNHEITEN

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