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Peter Siller

Infrastructures matter!


Für einen neuen Anlauf in der Gerechtigkeitsdebatte
Es wird höchste Zeit den ritualisierten und weitgehend wirkungslosen politischen Diskurs um die soziale Spaltung unserer Gesellschaft aufzubrechen. Es ist Zeit für einen neuen Anlauf in der Gerechtigkeitsdebatte, der den Weg bereitet für die tatsächliche Teilhabe aller. Dafür braucht es eine andere »Philosophie«, eine andere Strategie und andere Schlüsselprojekte, als wir sie in den letzten Jahrzehnten vorgeführt bekommen haben. Die Reduzierung der Debatte auf Steuersätze und Sozialtransferleistungen dringt zu der entscheidenden Frage gar nicht mehr vor: Wie stellt sich gesellschaftliche Teilhabe überhaupt her? Erst so kommt man auf die zentrale Bedeutung inklusiver Infrastrukturen im Sinne öffentlicher Räume und Netze. Das ist der Stoff für eine überzeugende Gerechtigkeitserzählung, die sich an ihrer tatsächlichen Wirksamkeit für mehr Teilhabe der Ausgeschlossenen, Prekären und Verunsicherten messen lassen kann.
 
Gleiche Freiheit
Eine politische Strategie, die sich auf Gerechtigkeit beruft, kommt nicht umhin, über die Annahmen ihres Gerechtigkeitsbegriffs Rechenschaft abzulegen. Die Bezugnahme auf diesen Begriff ist im linken Spektrum öfter anzutreffen als anderswo. Dennoch handelt es sich bei Gerechtigkeit um einen oft unbestimmten Begriff, der sehr vieles heißen oder behaupten kann. Gerade deshalb ist es so wichtig, zwei elementare Grundannahmen zu betonen, die das weitere Nachdenken und Handeln orientieren: Gerechtigkeit ist eine relative Kategorie der Beziehung zwischen Menschen und sie zielt im Kern auf die Gleichverteilung von realen Freiheitsmöglichkeiten.
 
Gerechtigkeit erschöpft sich nicht in absoluten Standards unabhängig davon, wie es den anderen geht. Gerechtigkeit beinhaltet eine soziale Relation, die davon ausgeht, dass sich aus unserer Gleichheit als Freie die Anforderung ableitet, dass unsere Freiheitsansprüche, die Verwirklichung unserer Bedürfnisse, Wünsche und Träume, gleichermaßen Unterstützung finden. Diese relative Gerechtigkeitsanforderung gegen unverdiente Privilegien und die Lotterie der sozialen Herkunft ist auch deshalb eine entscheidende Annahme, weil erst so deutlich wird, warum Gesellschaften auch dann ein fundamentales Gerechtigkeitsproblem haben, wenn sich zwar das absolute Niveau am unteren Ende der Skala verbessert, aber die relative Schere dramatisch auseinandergeht. Gerechtigkeit steht zweitens sinnvoll verstanden nicht gegen Freiheit, sondern Gerechtigkeit ist eine Antwort darauf, wie wir uns als Freie zueinander verhalten, in welchem Verhältnis die Freiheitssphären zueinander stehen.
Gerechtigkeit zielt auf gleiche Freiheit im Sinne eines regulativen Ideals, das sich nie vollständig verwirklichen lässt, das aber die Orientierung vorgibt, indem es mit Freiheit das zentrale Gut und mit Gleichheit den zentralen Maßstab von Gerechtigkeit beschreibt. Dieses Verständnis von Gerechtigkeit als gleiche Freiheit ist einfach – und zugleich in vielerlei Hinsicht vielschichtig und anspruchsvoll. Nicht nur deshalb, weil die schwierigen Fragen der Leistungsgerechtigkeit, der allgemein vorteilhaften Ungleichheit oder der Berücksichtigung von teuren Vor­lieben zu berücksichtigen sind, sondern auch, weil der Großbegriff der Freiheit selbst wiederum voraussetzungsvoll ist. Freiheit hat zum einen vielfältige Konstitutionsbedingungen, die den Individuen überhaupt einen Denk- und Erfahrungshorizont unterschiedlicher Handlungsoptionen eröffnen. Freiheit hat zum anderen vielfältige Verwirklichungsbedingungen, an denen sich dann entscheidet, ob eine Handlungsoption mit Blick auf Fähigkeiten und Ressourcen tatsächlich ergriffen werden kann. Beide Freiheitsdimensionen – Autonomisierung und Autonomiegebrauch – verweisen auf die Notwendigkeit eines unverkürzten Gerechtigkeitsbegriffs, der weder Gerechtigkeit auf Autonomisierung noch auf Autonomiegebrauch reduziert. Und sie verweisen auf ein potenzielles Spannungsverhältnis zwischen beiden Dimensionen, das spätestens im Erwachsenenalter grundsätzlich durch die Individuen selbst zu beantworten ist. Gerechtigkeit nach diesem Verständnis schließt einen politischen Paternalismus aus, der für die Menschen beantwortet, worin ein »gutes Leben« besteht und was ihnen deshalb zusteht. Gerechtigkeit als gleiche Freiheit maßt sich deshalb auch nicht das Versprechen gleichen Glücks an – entgegen dem momentanen Trend der Psychologisierung von Politik. Sie verspricht auch nicht gleichen Erfolg bei der Realisierung eigener Lebenspläne. Was sie ins Auge nimmt, ist vielmehr die gleiche Gewährleistung der Ermöglichungsbedingungen für die Ausbildung und die Verwirklichung von Freiheit.
 
Die Teilhabeschere der Gesellschaft
Aus dieser normativen Ausrichtung des Gerechtigkeitsanspruchs folgt die Möglichkeit einer spezifischen Beschreibung der Gerechtigkeitsdefizite in unserer Gesellschaft, die die Teilhabeschere in den Blick nimmt, also die Ausschlüsse von und Barrieren zu öffentlichen Gütern eines gleichberechtigt selbstbestimmten Lebens. Das Auseinanderfallen von Teilhabe hat viele Indikatoren: Der Zugang zu Bildung, Arbeit, Mobilität, Digitalem, Gesundheit oder Kultur zählen ebenso dazu wie die Teilhabe an Einkommen oder Vermögen. Nur so lässt sich Ungleichheit mit Blick auf die entscheidende Gerechtigkeitsfrage gleicher Teilhabe im Sinne von gleicher Freiheit mehrdimensional, unter Berücksichtigung verschiedener Ein­- flussfaktoren beschreiben und lassen sich Zielsetzungen sowie deren Erreichung für gesellschaftliche Entwicklungen darstellen. Viele Untersuchungen mit Fokus auf Einkommens- und Vermögensungleichverteilung kranken daran, dass sie die Teilhabeausschlüsse und -barrieren für bestimmte sozioökonomische Gruppen und Milieus nicht scharf genug in den Blick bekommen. Doch die bekannten Daten zeigen, dass sich in der Bundesrepublik nach einer Phase der Verringerung der Teilhabeschere trotz prosperierender Wirtschaft bereits seit geraumer Zeit wieder ein wachsendes Auseinanderfallen von Teilhabemöglichkeiten, in anderen Bereichen zumindest eine Stagnation feststellen lässt. Die alte Zuversicht auf sozialen Fortschritt für alle scheint gelähmt, einem Pessimismus gewichen. Wie also muss eine politische Strategie aussehen, die reale Fortschritte für mehr Teilhabe bewirkt. 
 
»Produktionsbedingungen« und Zugänglichmachung öffentlicher Güter
Auf dem Weg zu einer Strategie der gleichberechtigten Teilhabe an den entscheidenden Gütern für die Konstitution und die Verwirklichung eines Lebens in Freiheit liegt der springende Punkt weniger in dem Hinweis auf die Bedeutung öffentlicher Güter. Vielmehr sollte sich die politische wie auch intellektuelle Aufmerksamkeit darauf richten, unter welchen »Produktionsbedingungen« eigentlich öffentliche Güter tatsächlich in einer entsprechenden Qualität allgemein zugänglich gemacht werden können. Gefragt ist nicht weniger als eine neue Zündstufe, in der aus der abstrakten Beschwörung öffentlicher Güter eine konkrete Strategie folgt, die durch die Stärkung und Erneuerung öffentlicher Institutionen, Räume und Netze einen tatsächlichen Fortschritt der allgemeinen Teilhabe bewirkt.
 
Im Zuge einer Gesamtschau der Kategorisierung öffentlicher Güter ist es wichtig festzuhalten, dass es sich zum einen dabei neben materiellen Gütern auch um Fähigkeiten und Möglichkeiten handelt, die zwar immer auch auf materiellen Grundlagen beruhen, sich aber darin nicht erschöpfen – von der Bildung bis zur kulturellen Teilhabe. Zum anderen handelt es sich dabei nicht nur um individualistische Fähigkeiten und Möglichkeiten, die allein realisierbar sind, sondern auch und ganz entscheidend um Fähigkeiten und Möglichkeiten, die sich nur  intersubjektiv, also in einer sozialen Praxis mit anderen verwirklichen lassen. Für die gesellschaftlichen Herstellungsbedingungen dieser Güter gilt das sowieso fast immer.
 
Welche »Produktionsbedingungen« und welche Form der Zugänglichmachung müssen wir forcieren, um das Versprechen öffentlicher Güter auch tatsächlich einzulösen? Grundsätzlich lassen sich in diesem Zusammenhang zwei Philosophien unterscheiden: eine individualistische und eine kooperative.
 
Individualistische Perspektiven fokussieren die Frage der Teilhabe auf die monetären Spielräume von Individuen, die sich dann mit ihrem Geld schon von allein Grundfähigkeiten und Grundgüter organisieren. Tägliche Praxis dieser Fokussierung ist die Engführung der Gerechtigkeitsforderung auf die Höhe und Länge von individuellen Sozialtransfers.Sie ist weit verbreitet und durchaus populär, da sie zum einen das konservative Vertrauen in das Geld im eigenen Geldbeutel bedient und zum anderen auf klar definierte Interessengruppen zielt, die mit starken Wählergruppen korrelieren. Seine ideologische Zuspitzung findet der individualistische Ansatz im Ruf nach einem bedingungslosen Grundeinkommen für alle, der sich mit dem starken Glauben verbindet, dass sich im Zuge dessen dann auch die anderen Teilhabeprobleme lösen werden.
 
Kooperative Perspektiven verweisen hingegen darauf, dass die allgemeine Herstellung und Zugänglichmachung öffentlicher Güter in vielen Fällen von vornherein auf eine öffentlich-gesellschaftliche Koproduktion angewiesen ist, deren Bedingungen daher auch in gemeinsamer öffentlicher Verantwortung liegen. Die öffentlichen Infrastrukturen und Institutionen, Räume und Netze, müssen dabei nicht notwendigerweise in staatlicher Hand liegen, sondern können auch entlang definierter Kriterien an gemeinnützige private Hände übertragen werden oder in bestimmten Fällen ganz auf das marktförmige Geschehen privater Akteure. In jedem Fall obliegt aber die Gewährleistung dieser öffentlichen Institutionen und Infrastrukturen der demokratischen Allgemeinheit und damit neben der Legislative auch den staatlichen Institutionen ihrer Durchführung und Aufsicht. Mit dem Ansatz der kooperativen Befähigung und Ermöglichung verbindet sich auch die Erwartung, dass sich die allgemeinen Voraussetzungen verbessern, über selbstbewusste Arbeitsmarktteilnehmer zu einer gerechteren Primärverteilung von Einkommen und Vermögen zu kommen, die dann durchaus wiederum individualistisch für weitere auch öffentliche Kooperationen eingesetzt werden können. Der kooperative Ansatz beruht also nicht auf einem Entweder-oder, sondern auf einer klaren Fokussierung und Priorisierung öffentlicher Institutionen und Infrastrukturen mit dem Ziel, allgemeine Teilhabe wirksam zu gewährleisten.
 
Die Einsicht, dass individuelle Freiheit mit Blick auf Konstitutions- und Verwirklichungsmöglichkeiten auf kooperativen Voraussetzungen beruht und sich eben nicht auf einen individualistischen Weg herstellen lässt, findet einen wichtigen Anknüpfungspunkt in der Geschichte, den die Linke der letzten Jahrzehnte irgendwie vergessen zu haben scheint: Es war die Arbeiterbewegung, die in ihren Ursprüngen über Vereine und Genossenschaften an jener Herausbildung von Institutionen und Infrastrukturen arbeitete, in denen Befähigung, Ermöglichung und Ermächtigung stattfand: von den Bildungsvereinen, Sport-, Wander- und Gesangsvereinen, Arbeiterwohlfahrt und Arbeiter-Samariter-Bund bis zu Wohnungs- oder Nahrungsmittelgenossenschaften. Was hier zunächst als Selbstorganisation mangels staatlicher Gewährleistung in Angriff genommen wurde, bildete im Folgenden den Erfahrungsschatz für eine staatliche oder staatlich finanzierte und beaufsichtigte sukzessive Herausbildung öffentlicher Infrastrukturen. Wie überhaupt bis heute bürgerschaftlich organisierte Institutionen, etwa mit Blick auf die Integration von Geflüchteten, im nächsten Schritt als Anstoß und Erfahrungsschatz für die Entwicklung veränderter oder neuer staatlich gewährleisteter Institutionen und Infrastrukturen dienen. Die erste Phase der Herausbildung von Institutionen und Infrastrukturen der Teilhabe war entsprechend noch selbst- organisiert und schon allein deshalb auf das eigene Milieu beschränkt – verbunden mit der Entwicklung von Selbstbewusstsein und Stolz auf die eigene soziale Herkunft. In einer zweiten Phase wurde die Institutionenbildung sodann selbst­bewusst mit einer Idee von Öffentlichkeit verbunden – und damit auch von Aufstieg und vom Durchbrechen der Milieu- und Klassenschranken. Institutionen und Infrastrukturen der Teilhabe wurden jetzt als »öffentlich« gedacht, also als Räume und Netze, die allen offenstehen, unabhängig von der sozialen Herkunft. Hinzu kam die Entwicklung eines Sozialversicherungs- und Grundsicherungssystems, das die finanziellen Risiken in den verschiedenen Lebensphasen abfederte und so für eine gewisse monetäre Sicherheit als Voraussetzung eines Lebens in Freiheit sorgte. Die Tatsache, dass sich die politische Fantasie in Gerechtigkeitsfragen nur noch auf diesen letzten Punkt reduziert, zeigt die ganze Misere eines politischen Gerechtigkeitsdiskurses, der die wirksamen Mittel und Wege für mehr Teilhabe aus den Augen verloren hat.
 
Infrastrukturen und Institutionen
Es macht deshalb Sinn, die Begriffe der öffentlichen Infrastrukturen und der öffentlichen Institutionen als Zentralbegriffe teilhabeorientierter Produktions- und Verteilungsbedingungen einzusetzen. Es ist zur Verdeutlichung der Strategie wichtig, die konkreten Gestalten der Infrastrukturen bzw. Institutionen zu benennen und zu beschreiben: von der Schule bis zum Verkehrsnetz. Gleichzeitig kommt eine politische Strategie in dem vorgeschlagenen Sinn aber nicht umhin, Oberbegriffe zu etablieren, die deutlich machen, was all diese Orte und Strukturen verbindet, was die strategische Klammer bildet. »Infrastructure Matters!« bzw. »Institution Matters!« – um die gemeinsame Idee zu betonen. »Infrastructures Matter!« bzw. »Institutions Matter!« – um die vielfältigen Konkretionen der Idee zu betonen. Es spricht viel dafür, in der politischen Kommunikation strategisch die Begriffe der öffentlichen Institution und der öffentlichen Infrastruktur als in ihrem Kerngehalt synonyme Oberbegriffe nach vorne zu stellen. In ihren gängigen Definitionen und Beschreibungen stehen die beiden Begriffe eh in einem engen Wechselbezug. Der Begriff »Institution« bietet die Möglichkeit, die Orte kooperativer Teilhabe stärker zu akzentuieren und darüber hinaus die allgemeine Zwecksetzung – wenn man so will die Philosophie – kooperativer Teilhabe zu betonen. Der Begriff »Infrastruktur« bietet die Möglichkeit, die Netze  kooperativer Teilhabe stärker zu akzentuieren und zugleich dichter am politischen Sprachgebrauch zu sein, der sich eher an konkreten materiellen und personellen Strukturen orientiert als an der jeweils allgemeinen Zwecksetzung. Insgesamt ist der Begriff der Infrastruktur etwas weniger »programmatisch«, dafür aber in der politischen Praxis anschlussfähiger und deshalb als strategischer Oberbegriff dringend gefragt.
 
Räume und Netze, Gehäuse und Innenleben
Eine grundlegende Differenzierung innerhalb des Begriffs der öffentlichen Institutionen bzw. der öffentlichen Infrastrukturen liegt nun in der Unterscheidung zwischen »öffentlichen Räumen« und »öffentlichen Netzen«: Räume als geografisch (oder auch virtuell) eingegrenzte Orte, Netze als Verbindungen zwischen zwei Orten. Ein entscheidender Punkt: Weder handelt es sich bei öffentlichen Räumen nur um die materiellen Gehäuse (wie Gebäude, Plätze etc.) noch bei öffentlichen Netzen nur um materielle Leitungen (wie Straßen, Kabel etc.). Vielmehr kommt es für die Qualität öffentlicher Räume entscheidend auf das Zusammenspiel von äußeren Gegebenheiten und den »Leben« innerhalb dieser Gegebenheiten an. Entscheidend ist die Qualität der Interaktion bzw. des Gutes, die Qualität der Dienstleistungen, die in dem Gehäuse bzw. der Leitung erfolgen – und deren Möglichkeiten natürlich auch von den äußeren Gegebenheiten abhängen. Ebenso kommt es auch für die Qualität öffentlicher Netze auf das Zusammenspiel von Leitungen und transportiertem Inhalt an. Auf diese wichtige Unterscheidung zwischen Gehäuse und Innenleben bzw. zwischen Leitung und Inhalt ist noch vertieft einzugehen, denn hier liegt der politische Schlüssel für ein angemessenes Verständnis der Investitionen in öffentliche Institutionen bzw. Infrastrukturen.
 
Die Öffentlichkeit von Infrastrukturen
Eine politische Philosophie und Strategie der allgemeinen Teilhabe durch öffentliche Institutionen und Infrastrukturen macht es notwendig, sich sehr bewusst und ausreichend differenziert dem Anspruch der Öffentlichkeit zu nähern, der sich mit diesem Begriff verbindet. »Öffentlichkeit« ist im politischen Alltagsgebrauch ebenfalls ein Allerweltswort, hat es aber bei genauerer Betrachtung in sich. Unter dem Gesichtspunkt der sozialen (und auch demokratischen) Einbeziehung, neudeutsch: Inklusion, kann die Pointe einer Minimaldefinition des Öffentlichkeitsbegriffs nur darin liegen, dass Öffentlichkeit auf Räume und Netze abzielt, zu denen jenseits sozialer Lagen und / oder kultureller Eigenarten Zugang haben – soweit die jeweiligen Interessen dem jeweiligen Teilhabesystem (Bildung, Mobilität etc.) entsprechen. Daraus ergeben sich mit Blick auf die Strategie der allgemeinen Teilhabe durch öffentliche Institutionen bzw. Infrastrukturen drei Schnittstellen, an denen der Begriff des Öffentlichen Wirkungsmacht entfaltet:
 
Erstens ist die angesprochene Pflicht zur öffentlichen Gewährleistung der notwendigen Institutionen bzw. Infrastrukturen der allgemeinen Teilhabe ein Hinweis auf die Verantwortung aller für die Realisierung, insbesondere Finanzierung, dieser Räume und Netze: sei es durch steuerfinanzierte Ansätze, sei es durch den überfälligen Ansatz einer Bürgerversicherung etwa im Gesundheitswesen, in denen sich jede und jeder nach dem jeweiligen Leistungsvermögen beteiligt.
 
Zweitens verweist der Begriff »Öffentlichkeit« als öffentliche Zugänglichkeit darauf, dass die Güter, die wir in gemeinsam getragenen Institutionen und Infrastrukturen herstellen, als öffentliche Güter auch an alle gleichberechtigt ausgeschüttet werden. Solidarisch finanzierte Institutionen und Infrastrukturen, zu deren Gütern bestimme soziale Gruppen keinen oder einen erheblich erschwerten Zugang haben, werden wir zu Recht nicht als »öffentlich« adeln – auch wenn sie sich vielleicht das Etikett gern ankleben würden.
 
Es bleibt drittens mit der öffentlichen Begegnung eine Funktion des Öffentlichen für die Strukturierung von räumlichen Infrastrukturen, die vermutlich die strittigste ist, aber nicht weniger entscheidend. Mit den Kriterien der öffentlichen Gewährleistung und der öffentlichen Zugänglichkeit ist zwar etwas über die Verantwortlichkeit der Allgemeinheit und über die Adressaten gesagt, jedoch noch nichts darüber, ob es in den Institutionen bzw. Infrastrukturen eigentlich zur öffentlichen Begegnung kommt, also zur Begegnung der Unterschiedlichen quer zu den sozialen Schichten oder soziokulturellen Milieus im gleichen Raum. »Öffentlichkeit« in diesem Sinn meint gerade nicht die Verstärkung des von vornherein Geteilten, meint nicht die »Blase«, sondern erweist sich in der Möglichkeit des Aufeinandertreffens von Unterschieden, in der Möglichkeit des Nichtgeteilten, Nichterwarteten und Nichtgewollten. Diese Funktion der »öffentlichen Begegnung« ist für eine Gerechtigkeitsstrategie der allgemeinen Teilhabe durch öffentliche Infrastrukturen ein entscheidender Punkt und zugleich eine große Herausforderung – und bedarf deshalb einer genaueren Betrachtung.
 
Politik der öffentlichen Begegnung
Öffentliche Güter lassen sich nicht nur theoretisch allgemein finanzieren und allgemein zugänglich machen, ohne dass sich die unterschiedlichen Schichten und Milieus jemals über den Weg laufen – dies ist tatsächlich nach wie vor die eher vorherrschende Praxis unserer Gesellschaft. Man kann in einem Schulsystem die Hauptschulen stärken–ohne dass es dort zu einer neuen sozialen Konstellation kommt. Man kann an sozialen Brennpunkten Einrichtungen für die »Problem­jugendlichen«, für die Ausgegrenzten und Prekären stärken – ohne dass jemals eine Person aus einer anderen Schicht den Fuß in die Tür setzt. Man kann Sonderschulen für Menschen mit Handicaps stärken – ohne dass es zu einer Verstärkung der geteilten Praxis mit nichtbehinderten Schülerinnen und Schülern kommt. Das Gleiche gilt für Stadtviertel, Räume des öffentlichen Nahverkehrs, Kultureinrichtungen, Arztpraxen und Krankenhäuser etc.
 
Ziel inklusiver Politik zielt auf die gleichberechtigte Möglichkeit zur Freiheitsentfaltung. Eine Politik der Inklusion versucht deshalb, Hindernisse zu identifizieren, die die Teilhabe und den Aufstieg sozialer Gruppen behindern. Einer Politik der Inklusion in dem hier verfolgten Sinn geht es also darum, die Differenz ungleich verteilter Zugänge im Namen der Gleichheit abzumildern oder gar abzuschaffen –  anstatt Differenz »identitär« zum ausschlaggebenden Kriterium sozialer Ansprüche (freiwillig oder unfreiwillig) auszubauen. Nun wissen wir etwa aus der Debatte um schulische Inklusion, also um das gemeinsame schulische Lernen von Menschen mit und ohne Handicaps, dass es durchaus Argumente dafür gibt, Menschen gezielt auch als Gruppe für sich zu unterstützen – auch im Sinne eines vorgängigen Empowerment für ein späteres Vordringen in die öffentliche Sphäre eines gemeinsamen Zusammenlebens und Zusammenarbeitens. Es wäre deshalb falsch solchen Fällen der gezielten separaten Unterstützung per se das Attribut der öffentlichen Institution bzw. Infrastruktur abzusprechen. Die Möglichkeit zur Teilhabe braucht auch Orte der besonderen Bestärkung und Befähigung in getrennten Räumen. Gleichzeitig bleibt aber das Kriterium der öffentlichen Begegnung grundsätzlich aus Perspektive der allgemeinen Teilhabe ganz entscheidend. Die wachsende und hartnäckige Segregation (nicht nur) unserer Gesellschaft in stark isolierte soziale Schichten und soziokulturelle Milieus ist unter dem Gesichtspunkt allgemeiner sozialen Teilhabe eine alarmierende Entwicklung mit weitreichenden sozialen Grenzziehungen. Warum?
 
Die Zugänglichmachung von zentralen öffentlichen Gütern eines selbstbestimmten Lebensbraucht aus starken Gründen wechselseitige Sichtbarkeit und wechselseitigen Austausch – und kann sich nicht auf die abstrakte Solidarität der Transferzahlungen und der isolierten Zugänglichmachung begrenzen. Erst wenn die sozialen Unterschiede im öffentlichen Raum auch sichtbar werden, besteht die Aussicht auf einen empathischen sozialen Ausgleich. Die ausreichende Bereitschaft zur wechselseitigen Solidarität, auch zur Steuersolidarität, ist erstens auf eine wechselseitige Anschauung der unterschiedlichen Lagen angewiesen – als eine genauere Kenntnis wie auch als Voraussetzung einer empathischen Haltung. Erst wenn zweitens die Menschen mit ihren unterschiedlichen Ausgangslagen öffentlich sichtbar werden, treten die Fähigkeiten und Potenziale aller zutage und verlieren Stereotype und Stigmatisierungen ihre perfide Kraft. Die abstrakte Unterstellung einer einseitigen Inanspruchnahme der Bessergestellten zugunsten der Unterschicht relativiert sich drittens erst dann, wenn diese Sichtbarmachung aller Fähigkeiten und Potenziale erfolgt. Und viertens noch grundsätzlicher: Erst dort, wo wir als Menschen jenseits der Milieugrenzen aufeinandertreffen, bekommen wir ein Gespür dafür, was uns im Kern verbindet, was den tieferen Grund sozialer Anerkennung darstellt: das bloße Menschsein, die bloße Subjekthaftigkeit. Was hier als »Politik der Begegnung« mit dem Schwerpunkt auf soziale Teilhabe ausbuchstabiert wird, lässt sich auch auf die Frage der demokratischen Teilhabe weiterdenken – die wiederum ein entscheidender Faktor für die Gestaltung der sozialen Verhältnisse ist. Erst dort, wo wir als Menschen jenseits der Milieugrenzen aufeinandertreffen, bekommen wir ein Gespür dafür, was uns in der liberalen Demokratie – wenn man so will »republikanisch« – verbindet, was den tieferen Grund demokratischer Anerkennung darstellt: die Freiheit und Gleichheit als Bürgerinnen und Bürger.
 
Bei einer Beschreibung öffentlicher Räume spielt die digitale Entwicklung eine erhebliche Rolle. Die analoge zwischenmenschliche Begegnung ist mit der Digitalisierung alles andere als obsolet und dennoch verlagert sich soziale Interaktion in einem bedeutenden Maße ins Netz. Dabei mangelt es jedoch gegenwärtig ganz erheblich an digitalen öffentlichen Räumen, also an Räumen der allgemeinen, der nicht vorherbestimmten Begegnung. Einst zu einem utopischen Raum sozialer Egalisierung verklärt, entpuppt sich das Netz zunehmend als ein Raum, in dem sich nicht nur die Algorithmen als besonders harte Türsteher erweisen, sondern in denen Menschen offenkundig die technischen Möglichkeiten finden, sich in die narzisstische Echokammer der eigenen Weltsicht einzuschließen. 
 
Öffentliche Begegnung kann natürlich überall dort entstehen, wo die Produktion eines öffentlichen Guts von vornherein auf einem kollektiven intersubjektiven Vorgang im gemeinsamen Raum beruht – etwa beim gemeinsamen Lernen, beim Zusammenarbeiten, bei Spiel und Sport. Öffentliche Begegnung ist jedoch oft auch dort ein entscheidendes Nebenprodukt, wo es um die allgemeine Zugänglichmachung eines öffentlichen Gutes geht, das an und für sich nicht notwendigerweise auf kollektiver Intersubjektivität beruht: Menschen gehen ins Grüne – und treffen sich im Park. Menschen gehen zum Arzt – und treffen sich im Wartezimmer. Menschen wollen Kunst sehen – und treffen sich in der Ausstellung. Menschen wollen etwas essen – und treffen sich im Restaurant. Präziser formuliert ist es bei öffentlichen Institutionen bzw. Infrastrukturen oft so, dass zu der Produktion und Zugänglichmachung eines bestimmten öffentlichen Gutes ein zweites öffentliches Gut hinzukommt, das aus diesem Anlass in der öffentlichen Begegnung selbst besteht. Gehen Menschen ins Café, um einen Kaffee zu trinken, oder trinken sie einen Kaffee, um sich zu sehen oder auszutauschen? Diese zusätzliche Dimension gilt es jedenfalls bei einer Strategie der Stärkung und Erneuerung öffentlicher Infrastrukturen im Auge zu behalten. Die Form der öffentlichen Begegnung hängt dabei auch massiv von der Gestaltung der öffentlichen Netze ab. Oft wird übersehen, dass etwa mit der Gestaltung von Mobilitätsnetzen auch die Gestaltung öffentlicher Räume massiv mitentschieden wird.
 
Zu einem selbstbestimmten Leben gehört dann genauso das Recht auf Nichtbegegnung oder ausgewählte Begegnung. Menschen wollen eben nicht nur öffentlich leben. Menschen wollen allein sein. Menschen wollen nur diejenigen sehen, die sie gerade sehen wollen. Dieses wichtige Recht auf Privatheit aus dem Gedanken der Selbstbestimmung verwirklicht sich jedoch erst dann, wenn Selbstbestimmung in dem beschriebenen Sinn über entsprechende öffentliche Infrastruk­turen überhaupt erst ermöglicht wird. Es geht hier also nicht um ein Entweder-oder, sondern um eine angemessene und wirksame Anordnung.
 
The Big Four: Qualität, Zugänglichkeit, Mitgestaltung und Organisation
Auf Grundlage der bisherigen Überlegungen lässt sich nun klarer sagen, was die vier Kernanforderungen an öffentliche Infrastrukturen bzw. öffentliche Institutionen sind. Die entscheidende Sequenz liegt hier erstens in der Verbindung von Qualität und Zugänglichkeit. Unter dem Gesichtspunkt der Freiheitsermög­lichung kommt es erstens ganz entscheidend auf die Qualität des Gutes an, das institutionell generiert wird. Zweitens kommt es darauf an, entlang der vorgenommenen Unterscheidungen die qualitativ bestimmten Güter öffentlich zugänglich zu machen. Mit der Zugänglichkeit zu verbinden ist drittens die Möglichkeit der Partizipation, der Mitgestaltung der Akteurinnen und Akteure – unter den Vor­gaben der institutionellen Zwecksetzung. Dies führt viertens auf den grundlegenden Punkt der Notwendigkeit einer effektiven und auch effizienten Binnenorganisation, die sich im Wettbewerb um die besten Lösungen für Qualität und Zugänglichkeit befindet. An diesen vier Kernanforderungen lassen sich die notwendigen Veränderungsprozesse für mehr Teilhabe beschreiben.
 
Mehr als Beton und Metall
Im Zuge der Notwendigkeit einer Stärkung und Erneuerung der öffentlichen Räume und Netze wird oft die Notwendigkeit von Investitionen in die maroden öffentlichen Infrastrukturen angesprochen – zu Recht, denn trotz sprudelnder Steuerquellen stagniert die Investitionsquote und zentrale Orte und Netze der Teilhabe von den Kitas und Schulen bis zu den Kultureinrichtungen, von der Stadtentwicklung bis zur Mobilität, von den Energienetzen bis zur digitalen Vernetzung sind vielerorts weit entfernt von attraktiven Infrastrukturen der öffentlichen Teilhabe.
Das IW Köln sieht den Investitionsstau bei 120 Milliarden Euro, das Deutsche In­stitut für Urbanistik bei 132 Milliarden Euro. Allein auf kommunaler Ebene wird von der KfW bereits 2014 ein Investitionsstau von etwa 118 Milliarden Euro diag­nostiziert. Den Kommunen fehlen nach Berechnungen des DIW 2015 46 Milliarden Euro, um den Wert der kommunalen Infrastruktur auch nur konstant zu halten.
Soweit, so schlecht. Doch bei genauerer Betrachtung stellt sich die Frage, inwieweit die hier verwendeten Varianten des Investitionsbegriffs eigentlich tragen, um den Zustand unserer öffentlichen Infrastrukturen in ihrer Funktion für die Ermöglichung allgemeiner Teilhabe gut zu beschreiben und Strategien der Stärkung und Erneuerung der öffentlichen Infrastrukturen zu entwickeln. Bei Lektüre der Analysen der Wirtschaftsinstitute ergibt sich schnell der Eindruck, es handele sich bei öffentliche Investitionen im Wesentlichen um das Verbauen von Beton, Asphalt, Stahl, Aluminium und Glasfaser: Investition = Beton + Asphalt? Jenseits von Straßen-, Energie- und Breitbandnetzen ist wenig zu lesen. In der Engführung eines so angelegten Investitionsbegriffs liegen aus Perspektive einer Politik der Teilhabe durch öffentliche Infrastrukturen gleich mehrere Fehler vor:
 
Wenn ein Grundgedanke des Investitionsbegriffs der haushälterische ist, dass wir in den Werterhalt und in den Ausbau des öffentlichen infrastrukturellen Vermögens investieren müssen, damit wir nicht einen immer höheren Berg von öffent­lichen Infrastrukturkosten auf die Zukunft verschieben, dann gibt es keinen Grund, sich dabei allein auf die materiellen Gehäuse zu beziehen, denn auch jeder persönliche Kompetenzaufbau etwa durch Bildung und Qualifikation ist natürlich in diesem Sinn eine Investition in die Zukunft: eine Ausgabe, die wir jetzt tun und damit später (in dieser Höhe) sparen.
 
Wenn ein Grundgedanke des Investitionsbegriffs der ist, dass wir für die Zukunft gesellschaftlich notwendige Infrastrukturen aufbauen, dann springt die kurz­sichtige ökonomistische Reduzierung auf Infrastrukturen des verarbeitenden Gewerbes und der industrieinduzierten Dienstleistungen eindeutig zu kurz. Eine solche Engführung bleibt in der Frage materieller Leitungen stecken. Öffentliche Räume und Orte künftiger Teilhabe sind ebenso wenig auf dem Radar wie die Qualität der Teilhabe in den entscheidenden öffentlichen Räumen und Netzen, etwa die Qualität von Mobilität oder (ökologischer) Energieversorgung oder die Qualität der enthaltenen personalen Dienstleistungen. Schon innerhalb eines sinnvollen Investitionsbegriffs kommt es also darauf an, nicht nur über das Gehäuse nachzudenken, sondern auch und gerade über die Qualität der Dienstleistungen in diesem Gehäuse, also über die Kompetenzen insbesondere der Menschen, die ein solches Gehäuse mit Leben füllen. Was ist das schönste, modernste Schulgebäude wert, wenn in ihm die Lehrkräfte schlecht oder die Klassengrößen für individuelle Lernformen viel zu hoch sind? Es ist verstärkt die Qualität der personalen Leistung – von der Bildung über die Mobilität bis zur Pflege –,  nach der sich dann auch die materiell anzufertigenden Gehäuse und Netze bestimmen, nicht umgekehrt.
 
Aus der Perspektive einer Teilhabestrategie kommt ein weiteres, noch grundlegenderes Problem hinzu: Natürlich ist die Frage nach dem Wert und damit dem Investitionsbedarf öffentlicher Infrastrukturen für die Zukunft eine wichtige politische Frage. Der finanzielle Einsatz in öffentliche Infrastrukturen ist aber auch dann von zentraler Bedeutung, wenn er nicht oder nicht nur auf die Zukunft einzahlt, sondern hier und jetzt Teilhabe ermöglicht. Es gibt inzwischen eine über­zogene Tendenz, jede politische Maßnahme im Bereich der Gerechtigkeit mit einer reinen Zukunftsbegründung zu versehen. Dabei ist jedes Wort, das ein Kind mehr kann, jeder soziale oder kulturelle Zugang, den ein Mensch mehr hat, ein unmittelbarer Freiheitsgewinn. Hier und jetzt. Und nicht vielleicht und irgendwann.
 
Ein politisch bewusster Investitionsbegriff
Die Einführung einer verfassungsrechtlichen Investitionsquote ist, wenn überhaupt, nur dann sinnvoll, wenn ihr ein sinnvoller Investitionsbegriff zugrunde liegt, der sich daran misst, welche materiellen und personellen Werte wir nach politischer Bewertung gesellschaftlich auch, aber nicht nur, ökonomisch schaffen müssen. Ansonsten korrespondieren am Ende nur unsinnige Schulden mit unsinnigen Zukunftsausgaben. Insgesamt wäre zu wünschen, dass die Frage der öffentlichen Investitionen viel stärker in die Arena der politischen Auseinandersetzung zurückkehrt, anstatt sie am Ende über eine Verfassungsregelung möglicherweise schon wieder an die Gerichte weg zu delegieren. Gefragt ist eine neue Verantwortung des Bundes im gemeinsamen föderalen Verbund. Gefragt ist ein »Investitionspakt« zugunsten der Stärkung und Erneuerung kommunaler Infrastrukturen als zentraler Punkt einer Gerechtigkeitsstrategie, die auf allgemeine Teilhabe durch öffentliche Infrastrukturen setzt. Statt Kooperationsverboten ist eine vertiefte Kooperation notwendig – auf der Grundlage klarer Kompetenz­bereiche. Die Kommunen müssen spürbar von den Sozialausgaben entlastet werden. Hochverschuldeten Städten muss ein Neustart ermöglicht werden, indem übermäßig hohe Schulden in einen gemeinsamen Altschuldentilgungsfonds überführt werden. Auch die Länder müssen dafür in die Verantwortung gehen, ihre infrastrukturellen Zuwendungen erhöhen und den Länderfinanzausgleich so gestalten, dass er auf die strukturellen regionalen Disparitäten eine Antwort gibt.
 
Die Benennung des Zusammenhangs von Inklusion im Sinne allgemeiner, öffentlicher Teilhabe an den Gütern eines selbstbestimmten Lebens und »Produktivität« ist in beide Richtungen von Bedeutung: Sie erinnert die neoliberalen Protagonisten, woran sich Wertschöpfung letztlich messen muss. Und sie erinnert die ökonomievergessenen Postmaterialisten, dass Stärke und Qualität der öffentlichen Infrastrukturen ebenso von Fragen der Produktivität abhängen wie die Höhe und Länge individueller Sozialtransfers.
 
Eine neue Finanzpolitik: Ausgabenklarheit und Einnahmensolidarität
Eine Strategie der teilhabeorientierten Erneuerung öffentlicher Institutionen und Infrastrukturen muss eine Strategie der finanzpolitischen Stärkung durch ausreichende Einnahmen und gezielte Ausgaben enthalten. Mit anderen Worten: Auch sie braucht an beiden Stellen Umverteilung – orientiert an dem Maßstab allgemeiner und effektiver Teilhabe. Sie ist zum einen (auf der Einnahmeseite) nur möglich, wenn sich ein solidarisches Steuersystem mit einer erwirtschafteten Umverteilungsmasse verbindet. Sie erfordert jedoch zum anderen (auf der Ausgabenseite) eine klare Priorität zugunsten teilhabeorientierter Institutionen und Infrastrukturen. Umverteilung zielt hier also prioritär auf institutionelle Transfers (ohne die Notwendigkeit individueller Transfers der Grundsicherung außer Acht zu lassen).
 
Eine Pointe dieser finanzpolitischen Übersetzung von Teilhabegerechtigkeit: Für eine deutliche Erhöhung der Mittel auf der Einnahmeseite lässt sich eine verbesserte gesellschaftliche Akzeptanz dann herstellen, wenn die Zwecke auf der korrespondierenden Ausgabenseite eine hohe Plausibilität haben. Nur über eine klare und nachvollziehbare Darlegung, wohin das Geld mit welcher Intention und welchen Effekten fließt, kann es gelingen, die Bürgerinnen und Bürger für eine Politik der Umverteilung zu gewinnen.
 
Eine Ausgabenpriorität zugunsten öffentlicher Institutionen und Infrastrukturen sollte in der derzeitigen politischen Auseinandersetzung symbolisch auf die Formel 2:1 verdichtet werden. Neben möglichen Umschichtungen im Haushalt sollten im Sozialbereich von jedem zusätzlichen Euro zwei Teile in die öffentlichen Infrastrukturen gehen und ein Teil in die Individualtransfers. Eine solche Prioritätensetzung sagt auch aus: Eine Strategie des Ausgabenvorrangs für öffentliche Infrastrukturen ist kein Entweder-oder – sie lässt Spielräume für weitere wichtige Ziele, insbesondere die Gestaltung einer armutsfesten Grundsicherung im Kindesalter, bei Arbeitslosigkeit oder im Alter. Gleichzeitig erzeugt sie auch notwendigen Druck um die tatsächlichen finanziellen Gestaltungsspielräume offen zu legen und um innerhalb der »Säulen« Prioritäten zu setzen.
 
Widerstände gegen eine neue Politik öffentlicher Infrastrukturen
Wie kann es sein, dass – trotz der politischen Kraft einer Strategie der Stärkung und Erneuerung der öffentlichen Infrastrukturen – in der bundespolitischen Arena weder eine entsprechende Programmatik in Sicht ist noch entsprechende Schlüsselprojekte, durch die die Auseinandersetzung konkret wird, noch entsprechende Personen, die eine solche Strategie verkörpern? Die diskursive und tatsächliche Blockade einer Politik der öffentlichen Infrastrukturen hat dabei nicht nur mit den eingeschliffenen Partei- und Verbandsdiskursen zu tun. Dahinter liegen tiefgreifende gesellschaftliche Widerstände, mit denen sich Politik auseinandersetzen muss. Erst eine bewusste Betrachtung dieser Vorbehalte ermöglicht es auch, eine Strategie zu beschreiben, die sukzessiv Vertrauen in den einzuschlagenden Weg schafft. Die Blockaden gegen eine Gerechtigkeitsstrategie, die die Stärkung und Erneuerung der öffentlichen Institutionen und Infrastrukturen nach vorne stellt, sind nicht nur immens, sie sind auch vielfältig und bedürfen einer differenzierten Betrachtung, um sie lockern oder gar auflösen zu können.
 
Blockierte Erzählung, blockierter Diskurs: Die Blockade einer Politik öffentlicher Institutionen und Infrastrukturen hat einen tiefgreifenden Grund darin, dass uns schlicht eine politische Philosophie und eine politische Erzählung der Gerechtigkeit abhandengekommen sind, die sich der Teilhabe durch und in öffentlichen Räumen und Netzen widmen. Der politischen Praxis fehlen also intellektuelle und programmatische Impulse. Die Tatsache, dass sich die politische Praxis in ihren enggeführten sozialpolitischen Routinen erschöpft, hat jedoch jenseits dessen auch damit zu tun, dass man zu lange glaubte, dass der in Schwung gekommene soziale Fortschritt im Sinne einer deutlichen Erhöhung der sozialen Durchlässigkeit nach oben ein Selbstläufer sei, der es erlaube, sich nunmehr auf sozialpolitische Reparaturmaßnahmen zu beschränken – und sich damit einen Haufen politischen Ärger zu ersparen. Wir wissen jedoch inzwischen, dass nicht nur die frühere gesellschaftliche Fortschrittszuversicht durch eine vorherrschende Abstiegsangst abgelöst wurde, sondern dass auch die tatsächliche Entwicklung der sozialen Aufstiegsmobilität in unserer Gesellschaft seit geraumer Zeit stagniert oder gar rückläufig ist. Sekundiert wurde diese Entwicklung wiederum durch eines linken Foucaultianismus, der die Moderne sowieso nur als Negativspirale begreift. Anstatt jedoch die immensen Inklusionsfortschritte der Nachkriegsjahrzehnte zu ignorieren oder umgekehrt die gegenwärtige Stagnation bzw. Rückläufigkeit schön zu reden, wäre jetzt eine Weitererzählung gefragt, die zumindest im gesellschaftlichen und medialen Diskurs (noch) nicht zur Verfügung steht.
 
Blockierte Protagonisten: Die betonierten Pfade des Gerechtigkeitsdiskurses haben wiederum erhebliche Konsequenzen für Politikerinnen und Politiker und andere Protagonist/innen in der politischen Auseinandersetzung. Denn selbst wenn man eigentlich weiß, dass eine andere Auseinandersetzung notwendig ist, bedeutet es doch ein hohes Risiko, die eigene Position im etablierten Diskurs zu gefährden, indem man an der zähen Aufgabe einer Verschiebung des Gerechtigkeits­diskurses selbst arbeitet. Arbeitslosenhilfe, Kindergeld oder Renten­- niveau versteht nicht nur jede und jeder, sondern hier spielt aufmerksamkeits­ökonomisch die Musik. Gefragt ist eine von außen erkennbare Erzählung, eine Strategie mit klaren Prioritätensetzungen, die innerparteilich wie gesellschaftlich zu erstreiten ist – und nicht durch die additive Abmoderation von Politik zu erhalten.
 
Blockierte Mittelschicht: Ein entscheidender Grund für das Misstrauen gegenüber einer Politik der Teilhabe durch öffentliche Infrastrukturen liegt darüber hinaus in der mentalen Verfassung der Mittelschicht und ihren sozioökonomischen Lagen dahinter. In diesem Bereich insgesamt ist eine »erhöhte Abwehr­bereitschaft« gegenüber einer Öffnung von Institutionen und Infrastrukturen für soziale Gruppen festzustellen, die man »unterhalb« der eigenen verortet. Dieser Widerstand kann – gerade in der unteren Mittelschicht – mit einer tatsächlichen Abstiegsgefahr einhergehen. Er kann – etwa in der mittleren Mittelschicht – mit einer Statusverunsicherung einhergehen, einer Angst vor Veränderung oder  davor, aus einer solchen Öffnung als Verlierer hervorzugehen. Er kann aber auch  – etwa in der oberen Mittelschicht – auf der selbstgerechten Zurückweisung der Ansprüche anderer beruhen, die mit Abstiegsrisiken oder Abstiegsängsten wenig bis gar nichts zu tun hat. Hier zeigen sich also im Zuge der Globalisierungs- und Individualisierungsprozesse der Moderne in zweifacher Hinsicht Gegenreak­tionen, die auf (oft kulturalisitisch, identitär begründete) Abschottung der eigenen soziokulturellen Milieus hinauslaufen: sei es aus Sorge um sich oder die eigenen Kinder in einem offeneren und damit auch kompetitiveren Umfeld, sei es aus dem überschießenden Individualismus politischer Ich-AGs, bei denen sich die selbstbewusste und lautstarke Einmischung nur noch auf das unmittelbare Eigeninteresse reduziert. Diese tiefen Vorbehalte richten sich nicht nur gegen interkulturelle, sondern überhaupt gegen inklusive Räume und Netze, in der Hoffnung, hinter den Milieumauern vor sozialer Dynamik und kultureller Veränderung geschützt zu sein. Die Widerstände richten sich bereits gegen eine steuerliche Beteiligung an den Infrastrukturkosten, die – so die Befürchtung – den eigenen Geldbeutel belasten und keinen entsprechenden Gegenwert erbringen; sie richten sich gegen die Stärkung anderer gesellschaftlicher Gruppen, zu denen man selbst nicht zählt, und mit denen man sich am Ende neu arrangieren muss; und sie richten sich erst recht gegen die Idee von einem gemeinsamen Zusammenleben in öffentlichen Institutionen und Infrastrukturen, in denen unterschiedliche Schichten und Milieus aufeinandertreffen und man sich nicht aus dem Weg gehen kann. Gerade die letzte Dimension der Öffentlichkeit unserer Infrastrukturen weckt offensichtlich den Abwehrinstinkt eines Teils der gehobenen, bildungs- und einkommensstarken Mittelschicht, auch im linksliberalen und linken Spektrum. Abstrakte Solidarität in Form von Steuerzahlungen: gern, auch als Ausweis der eigenen Moralität – aber ein geteiltes öffentliches Leben? Besser nicht. So findet sich auch und gerade hier ein meist uneingestandener Treiber eines enggeführten linken Gerechtigkeitsdiskurses, der seine symbolische Zuspitzung in der Steuer- und Individualtransferfrage sucht – und die Konfiguration unserer öffentlichen Räume und Netze und damit eine fundamentale Bedingung realer Teilhabe strategisch hintenanstellt.
 
Blockierte Unterschicht: Die Ängste und Abwehrmechanismen liegen allerdings nicht nur bei Teilen der Mittelschicht. Es sind eben auch – spiegelbildlich – Teile der Unterschicht, die sich vor dem Bild einer teilhabeermöglichenden, inklusiven Gesellschaft mit entsprechenden Infrastrukturen fürchten. Und das nicht unbedingt ohne Grund: Es kann aus dieser Perspektive eine große Herausforderung sein, real eröffnete Zugänge auch tatsächlich wahrzunehmen, durch die Türen auf neues Terrain zu gehen, die bislang fest verschlossen waren. Und es braucht Mut durch die Tür zu gehen. Es braucht Mut, um sich auf eine alltägliche Begegnung mit denjenigen einzulassen, die doch – mit einem ganz anderen Statusbewusstsein und Bildungshintergrund – vermeintlich eh alles besser wissen und besser können. Der Weg, mit den Zugängen und in den Begegnungen die eigenen Fähig­keiten zu entwickeln und selbstbewusst einzubringen, führt zu Erfolgen und Erfolgserlebnissen – er ist aber eben auch herausfordernd und bedeutet Anstrengung. In der Schule. Am Arbeitsplatz. In den öffentlichen Räumen. 
 
Blockiertes Vertrauen, blockierte Solidarität: Dieses Bild einer doppelten Skepsis  in Teilen bestimmter Milieus gegen eine Strategie der allgemeinen Teilhabe durch öffentliche Infrastrukturen ist zu erweitern: durch die Diagnose einer allgemeinen Tendenz des sinkenden Vertrauens in die Qualität der öffentlichen  Institutionen und Infrastrukturen. Das Vertrauen in die öffentlichen Institutionen nimmt insgesamt ab – auch in Deutschland, das im internationalen Vergleich hinter den skandinavischen Ländern traditionell weiter oben rangiert). Hier deutet sich eine Abwärtsspirale an, die auf einer mangelhaften Politik öffentlicher Institutionen und Infrastrukturen beruht und nun auch zunehmend durch einen populistischen Anti-Institutionalismus befeuert wird. Das führt wiederum in ein gesellschaftliches Vertrauensdilemma: Das sinkende Vertrauen in die öffentlichen Institutionen senkt das politische Engagement für dieselben – und ihre sinkende Qualität senkt wiederum das Vertrauen in dieselben. Es gilt diese Spirale umzudrehen und sie zu einer Aufwärtsspirale von Institutionenverbesserung und Institutionenvertrauen zu machen.
 
Blockierte Zukunft: Den Widerstand gegen öffentliche Investitionen treibt außerdem die zeitlich verzögerte Wirkung von Infrastrukturinvestitionen und damit ihre langfristige Gewinnerwartung. An dieser Stelle greift offenkundig auch in der politischen Landschaft der demographische Trend eines wachsenden Anteils älterer Bürgerinnen und Bürger, denen langfristige und kostenintensive Infrastrukturinvestitionen nicht mehr in dem Maße zugutekommen wie jüngeren Leuten.
Blockierter Föderalismus: Ein Grund für die Blockade einer effektiven Teilhabe­politik wie auch eines entsprechenden Gerechtigkeitsdiskurses in Deutschland liegt zudem im gegenwärtigen Zustand des bundesrepublikanischen Föderalis­mus. Mit der Frage nach Auftrag und Situation der öffentlichen Räume und Netze ist – etwa in Bundestagswahlen – eine entscheidende Gerechtigkeitsfrage weitgehend vom bundesrepublikanischen politischen Diskurs abgeschnitten,  da der Bund hier nur über geringe Kompetenzen verfügt und durch das Kooperationsverbot zusätzlich blockiert ist. Dies wiederum dient offenkundig zudem als Anlass, auch auf einer symbolischen Ebene die Frage einer Strategie öffentlicher Infrastrukturen auf nationaler Ebene herunter zu dimmen.
 
Die Teilhabegewinne einer neuen Politik öffentlicher Infrastrukturen
Diesen Widerständen und Blockaden stehen jedoch die realen Teilhabegewinne der Strategie öffentlicher Infrastrukturen in allen genannten Dimensionen gegenüber, die es im öffentlichen Diskurs deutlich darzulegen gilt. Was vermag mehr zu überzeugen, als ein Ansatz, der wirksam ist und als wirksam erfahren wird, der tatsächlich die soziale Ordnung unserer Gesellschaft verbessert, tatsächlich einen grundlegenden Zuwachs an Teilhabe im Sinne gleicher Freiheit eröffnet?
 
Diskursgewinne: In Aussicht steht die Vitalisierung einer entscheidenden Gerechtigkeitsdebatte unserer Gesellschaft – und damit am Ende auch die Herausbildung einer gesellschaftlichen Erzählung realer und allgemeiner Freiheit durch unsere öffentlichen Institutionen und Infrastrukturen. Eine solche Erzählung beinhaltet die Bilder konkreter Räume und Netze vor Ort, Räume des alltäglichen Zusammenlebens, Netze der alltäglichen Kooperation – und macht damit die  soziale Frage plastisch, anschaulich, lebensweltlich.
 
Befreite Protagonist/innen: Profitieren werden alle Akteurinnen und Akteure im politischen Wettbewerb, die – mit eigenständigen Programmen und Projekten –  Antworten auf eine Herausforderung geben und so zu entscheidenden öffent­lichen Protagonist/innen des Gerechtigkeitsdiskurses werden.
 
Die Gewinne der Unterschicht: In der Sache sind die Profiteure der Strategie öffentlicher Infrastrukturen insbesondere diejenigen, die bislang unter einem massiven Ausschluss von den notwendigen Gütern für ein selbstbestimmtes (Zusammen-)Leben leiden. Es sind die »Exkludierten« und »Prekären«, die so neu zurück in die Gesellschaft kommen und nicht nur ihre Fähigkeiten ausbilden und einbringen, sondern auch ein ganz anderes öffentliches Selbstbewusstsein entwickeln.
 
Die Gewinne der Mittelschicht: Ohne die Phrase von der Win-Win-Situation zu bedienen gewinnen aber auch verschiedenen Teile der Mittelschicht. In diesem Zusammenhang ist auch das Erleben wirksamer Solidarität zu nennen, das ja selbst oft als Bestandteil selbstbestimmter Lebensentwürfe beschrieben wird. Aber es geht um mehr: Wenn man nicht nur abstrakt erkannt, sondern persönlich erfahren hat, dass die soziale Herkunft allein keineswegs eine Aussage über Fähigkeiten und Potenziale beinhaltet, dann stellt sich die vermeintlich einseitige Solidarität schnell als wechselseitiges Dazulernen dar, als Erweiterung des eigenen Horizonts dort, wo eben Menschen als Menschen aufeinandertreffen. Aus individueller ökonomischer Perspektive kann soziale Öffnung den Wettbewerbsdruck erhöhen – aus gesellschaftlicher Sicht ist das Bild »kleinerer Kuchenstücke« in einer Gesellschaft geöffneter Teilhabe jedoch falsch und irreführend, denn es ist der Kuchen selbst, der mit jeder und jedem neuen Teilhabenden, den jeweils eingebrachten Fähigkeiten und Potenzialen, mitwächst. Diese Einsichten können jedoch nur dann wachsen, wenn die Qualität der öffentlichen Räume und Netze mit ihrer Öffnung nicht sinkt, sondern erhalten bleibt und gerade dadurch mitwachsen kann.
 
Vertrauensgewinne, Solidaritätsgewinne: Insgesamt besteht die begründete Aussicht, dass auch das Vertrauen in die sozialen und demokratischen Institutionen mit der Zunahme tatsächlicher Teilhabe wächst. Dieses langsam wachsende Vertrauen ist auch die Voraussetzung, um die Akzeptanz von Steuersolidarität auf der Einnahmeseite zu erhöhen. Wenn es der Politik gelingt, auf der Ausgabenseite eine klare, anschauliche und wirksame Strategie der Teilhabe darzulegen, dann wird auch auf der Einnahmeseite plausibler, dass das Geld tatsächlich dringend gebraucht wird. Ein solidarisches Steuersystem ist kein Selbstzweck, sondern Voraussetzung für öffentliche Infrastrukturen und Institutionen der gleichen Teil­habe. Es ist die Überzeugungskraft der Ausgaben, die die Solidarität auf der Einnahmeseite maßgeblich mitbestimmt. Gefragt sind strategische Konzepte, die – wie etwa der »Bildungssoli« – diesen Zusammenhang von solidarischer Einnahme und gesellschaftlichem Einsatz schon begrifflich deutlich machen.
 
Zukunftsgewinne/Gegenwartsgewinne: Soweit die Stärkung und Erneuerung unserer öffentlichen Infrastrukturen auf Zukunftsinvestitionen beruht, liegt darin zugleich ein wichtiger Impuls für die Wiedergewinnung der verlorenen Zuversicht auf ein gutes, auf ein besseres Morgen. Eine Analyse des demographischen Faktors als egoistischen Gegenwartsbezug beruht zudem auf einem seltsamen Menschenbild, denn natürlich möchten (gerade) viele ältere Menschen ihre Verantwortung für ein gutes Leben der nachfolgenden Generationen wahrnehmen, soweit sie in einer Maßnahme einen Beitrag dazu sehen.
 
Kooperationsgewinne: Schließlich ermöglicht die beschriebene Strategie eine ganz neue gesamtgesellschaftliche Aufmerksamkeit und Verantwortung für ein entscheidendes Gerechtigkeitsthema unserer Zeit. Die neue gesamtgesellschaftliche Aufmerksamkeit beruht nicht nur auf demokratischer Auseinandersetzung – sie ermöglicht auch eine politische Auseinandersetzung um die besten Konzepte und Projekte für unsere öffentlichen Infrastrukturen. Sie fußt, entgegen den bisherigen Kooperationsverboten, auf einem neuen Bild der föderalen Kooperation mit Ländern und Kommunen vor Ort. Sie lässt sich überhaupt nur wahrnehmen, wenn insbesondere die Kommunen als entscheidende Orte der öffentlichen Teilhabe wahrnehmen können.
 
Woher? Wohin? Eine neue soziale Fortschrittserzählung unserer öffentlichen  Räume und Netze
Die beschriebene Strategie öffentlicher Infrastrukturen ist aus Gerechtigkeitsperspektive – im Wortsinn – radikal: Indem sie wirksam die allgemeine Teilhabe verbessert, enthält sie gerade an die mittlere und gehobene Mittelschicht Erwartungen der Öffnung von Zugängen, die derzeit vielfach als Zumutung interpretiert – und deshalb im politischen Raum gar nicht erst ausgesprochen werden. Darüber hinaus macht die vorgeschlagene Strategie die Frage der Steuersolidarität nicht obsolet, sondern ist im Gegenteil eine besonders starke Begründung für ausreichende, solidarisch generierte Steuereinnahmen und ihren Einsatz in öffentliche Infrastrukturen.
 
Angesichts der beschriebenen Vorbehalte gegenüber einer teilhabeorientierten Stärkung und Erneuerung der öffentlichen Infrastrukturen kommt es jedoch strategisch ganz entscheidend darauf an, konkrete und machbare Etappen aufzuzeigen und zu gehen, mit denen Schritt für Schritt das gesellschaftliche Vertrauen in diesen Weg wächst. Gefragt sind eine einleuchtende Philosophie, eine gute Erzählung und klare Prioritäten – aber es gibt nicht den einen großen Hebel, den man umstellen könnte. Stattdessen geht es um viele Schritte in vielen Räumen und Netzen, durch die mit den Wirksamkeitserfahrungen der Bürgerinnen und Bürger auch das Vertrauen langsam wächst. Diese Strategie erfordert Mut, der nicht waghalsig ist, und Entschiedenheit, die Korrekturen auf dem Weg immer wieder zulässt. Ihre Radikalität beruht nicht auf einer Revolution, sondern auf grund­legenden und vertrauenswürdigen Reformschritten im demokratischen Prozess.
 
Mit der Stärkung und Erneuerung unserer öffentlichen Infrastrukturen eröffnet sich die Chance zu einer neuen sozialen Fortschrittserzählung unserer Gesellschaft, die viele schon verloren geglaubt haben. Eine solche Erzählung ist keine der utopischen Hoffnung, auch keine der historischen Notwendigkeit, sondern eine des handelnden Wissens, dass wir die Dinge zum Besseren gestalten können. Sie ist damit auch eine Ermutigung unserer verzagten Demokratie. Sie ist nicht abstrakt, sondern entfaltet sich über die lebensweltlichen Räume und Netze vor Ort, an denen sich ein Leben in Selbstbestimmung entscheidet. Sie ist keine simple Geschichte vom »großen Sprung«, sondern von vielen gemeinsamen Schritten, vom Mut zur Veränderung und dem Vertrauen, das aus Erfolgserfahrungen rührt. Sie ist vor allem eine allgemeine Erzählung von einem aussichtsreichen Leben, von einem Leben, das nicht an den sozialen Mauern der eigenen Herkunft endet. Sie ist eine Erzählung vom Aufstieg aus dem sozialen Keller ins Freie gleichberechtigter Teilhabe – und damit keine spektakuläre Story vom in­dividualistischen Aufstieg Einzelner nach »ganz oben«, kein Märchen, das vom Tellerwäscher zum Millionär erzählt, oder vom Aschenputtel zur Königin. Sie beinhaltet als soziale Erzählung auch eine Erzählung vom ökonomischen Fortschritt, von einer Wertschöpfung, die allgemeine Teilhabe ermöglicht. Und sie beinhaltet damit auch eine Erzählung vom technologischen Fortschritt, von der allgemeinen Nutzbarmachung von Technik für ein besseres Leben.
 
Die gute Nachricht: Ein neuer Gerechtigkeitsdiskurs über die gesellschaftlichen Ausgrenzungen und Einschlüsse, über den Zustand und die Zukunft unserer öffentlichen Infrastrukturen wird kommen. Nur: Wer wird ihn anstoßen? Und wie viel Zeit werden wir noch verlieren?



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