Den Mensch sehen und zeigen, wie er wirklich ist. Mit diesem Leitsatz ließen sich die aktuell im Schadow-Haus gezeigten Gesichtsstudien des preußischen Bildhauers und Graphikers Johann Gottfried Schadow (1764–1850) und die Porträtzeichnungen des französischen Künstlers Guillaume Bruère (GIOM) überschreiben. Und dieser Anspruch ist es, der beide über gut 200 Jahre Kunst- und Weltgeschichte hinweg eng miteinander verbindet – enger noch als GIOMs Adaption von Schadows 1835 erschienenen »National-Physiognomien oder Beobachtungen über den Unterschied der Gesichtszüge und die äußere Gestaltung des menschlichen Kopfes«. GIOMs direkte Auseinandersetzung mit Schadow begründet zwar die Ausstellung im Schadowhaus ist aber dennoch eher das Vorspiel zum eigentlichen Herzstück dieser kleinen Werkschau: den rund 50 Porträtzeichnungen von Geflüchteten, die GIOM im Winter 2015 in einem Berliner Erstaufnahmezentrum angefertigte. Dabei hat der Franzose in seinen reduziert-minimalistischen Bildern eine bemerkenswerte Bandbreite an Emotionen mit eindringlicher Intensität eingefangen.
Die Zeichnungen sind – in einer Mischung aus Eile und kindlicher Unbeholfenheit – mit Namen untertitelt, die den Anonymen eine oberflächliche Identität geben. Unbekannt bleiben indes ihre individuellen Schicksale. GIOM zeigt die Sprachlosigkeit und Verschiedenheit dieser Menschen und legt damit den Finger in eine politische Wunde: die Reduzierung der hier Angekommenen auf eine Flüchtlingsidentität, die ihre Herkunft und individuellen Überzeugungen ignoriert und ihnen pauschal eine Fremd- und Andersartigkeit zuschreibt, die sie von vornherein von der Mehrheitsgesellschaft abtrennt. Angesichts innerer Abschottung und Überfremdungsangst vieler Deutscher sei daran erinnert, dass eine Gefährdung der Werte und Errungenschaften unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung nicht nur von außen, sondern ebenso von innen kommen kann. Dann nämlich, wenn die Ansehung und Achtung des Einzelnen als Einzelnem preisgegeben werden. Jeden Menschen zu sehen, wie er ist und ihn aus Vorfestlegungen und Stereotypen zu befreien, ist der erste Schritt von Integration.