





polar #17: Schuld und Schulden
EDITORIAL
HALTUNG
HAFTUNG
HEU
SCHÖNHEITEN
Thomas Biebricher Eigentümliche Legierung Von Ebeneezer Scrooge bis Dagobert Duck: Margaret Atwoods Payback
| Kerstin Carlstedt Auch nicht glücklicher Wir wollen, was ihr habt: John Lanchesters Gesellschaftsroman Kapital
| Christoph Raiser Nimm es nicht persönlich Ohne Schuld kein Staat: John le Carrés Dame, König, As, Spion
| Anna-Chatarina Gebbers Unzurechenbar Politiken des Displays: Mariana Castillo Deball im Hamburger Bahnhof
| Judith Karcher Die eigene Blödheit Von der Angst, etwas zu verpassen: Rainald Goetz’ Johann Holtrop
| Julia Roth Verwobene Geschichten Der orientalisierte »Andere«: Zum Sammelband Jenseits des Eurozentrismus
| Ulrich Raiser Das eigene Gesetz Sozialität der Schuld: Dostojewskis Schuld und Sühne
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Tilman VogtKassensturzProtestantische Moralökonomie: Gottfried Kellers Der Grüne Heinrich | »Grün« wird der Heinrich aus Gottfried Kellers Roman genannt, da er in seiner Jugend armutsbedingt nur Kleidung aufträgt, die aus dem vererbten Schützenwams seines verstorbenen Vaters geschneidert ist. Dass er trotz der prekären Lage schon bald von der Lockung des Schuldenmachens gepackt wird und die titelgebende Kluft gegen die Spendierhosen eintauscht, bildet das durchgängige Motiv dieses negativen Bildungsromans. Anders als Kellers Nähe zu Feuerbach erwarten ließe, verfasste der Schweizer ein Lehrstück protestantischer Gesinnungsethik im Sinne von Max Webers bekanntem Aufsatz über den Geist des Kapitalismus. Dem Ideal der Kärglichkeit und Askese zieht Heinrich ein sorgloses und unproduktives Leben als Künstler vor, eine Ausschweifung, an deren Beginn der Diebstahl von mehreren Talern aus der Sparbüchse der armen Mutter steht und den moralischen Bankrott anzeigt. Dass die Mutter ihm aus Liebe zu diesem frühen Zeitpunkt Schuld und Schulden erlässt, entpuppt sich später als fatale Milde: Heinrich gewöhnt sich daran, »auf Borg zu leben«, die Mutter bürgt für die Schulden ihres Sohnes. Während dieser die »zusammenhaltende Handarbeit« meidet, sich »mit allerlei studierendem, oft halbmüßigem Volke« herumtreibt und seiner Grille, der Malerkarriere, hinterherjagt. Als sie schließlich ihr Haus verpfänden muss, haben sich bei ihr das schlechte Gewissen, die Scham und die »Kunst, von Nichts zu leben«, also die »systematische Selbstkontrolle« (Max Weber), so sehr gesteigert, dass sie schließlich voller Gram stirbt.
Mit sardonischer Freude inszeniert Keller nun den großen Kassensturz und lässt es sich »in der Absicht eines gründlichen Rechnungsabschlusses«, wie er sagt, nicht nehmen, ein düsteres Ende zu formulieren, an dem alles so kommt, wie es die ersten moralischen Kontobewegungen schon erahnen ließen. Alle aufgehäufte Schuld wird auf Heinrich überschrieben, und auch er bricht darunter kurz darauf tot zusammen. Da Sperenzchen und Wolkenkuckucksheime nun nicht mehr ausgetrieben werden müssen, endet der Roman, im Rahmen seiner Möglichkeiten, versöhnlich: »es ist auf seinem Grabe ein recht frisches und grünes Gras gewachsen.«
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| Philipp Wahnschaffe Unsagbare Qualen Größte Empathie: Svetlana Alexijewitschs Collage Secondhand-Zeit
| Patrick Thor Bewusst blind Warum ich schuldig wurde, weiß ich nicht mehr: Pier Paolo Pasolinis Edipo Re. Bett der Gewalt
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