Ein großer Germanist hat einmal gesagt: »Es gibt viele gute Romananfänge, aber nur sehr wenige gute Romanenden.« Gut hier nicht im Sinne eines happy endings, sondern als Qualitätsurteil. Einen Beginn zu machen, ist verhältnismäßig leicht. Einen pointierten Schlusspunkt zu setzen, fordert weit größeren Mut. Ein gelungenes Beispiel der letzten Jahre lieferte Christian Kracht in seinem Roman 1979 von 2001. Der Text endet mit folgendem Satz: »Ich habe nie Menschenfleisch gegessen.« Dieser Satz hängt einem lange nach, wenn man diese Erzählung von Tod und Krankheit, Krieg und Revolution, Erleuchtung und Erlösung zu Ende gelesen hat. Als eindrücklich bleiben einem nicht die unmittelbar vorhergehenden, nach herkömmlichen Maßstäben drastischen Ereignisse - das Züchten von Maden in menschlichem Kot, ein grausamer Mord - in Erinnerung, sondern dieser eine Satz.
Der Erzähler befindet sich in einem Straflager, ein Teil der Drastik dieses Satzes liegt sicher darin, dass er auch heißt: Die anderen, meine Mitgefangenen, sie haben Menschenfleisch gegessen - doch ich nicht. Die Identitätssuche des Erzählers, die von Dekadenz zu einer spirituellen Reise führt, die im Gulag endet, kulminiert in einer Minimalformel des Humanismus. Der Protagonist ist durch das Lagerleben nicht nur körperlich abgemagert, auch seine Moralvorstellungen sind Gerippe. Menschlich sein heißt hier vor allem: keine Menschen fressen. Dazu kommt die für Kracht typische lose kontextuelle Anbindung. Diese Worte tauchen wie aus dem Nichts auf. Vor dem Satz steht: »Ich war ein guter Gefangener. Ich habe immer versucht, mich an die Regeln zu halten. Ich habe mich gebessert.« Nach der Aussage, er habe sich gebessert, wäre doch ein Beispiel für diese Besserung zu erwarten. Etwa: »Ich habe nie wieder Menschenfleisch gegessen« - hätte er das denn getan. Das Fehlen des »wieder« und die Wendung - vorher war von Kannibalismus keine Rede - machen den Satz noch irritierender. Bedenke, flüstert es: »Ich habe nie Menschenfleisch gegessen.«
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